Ein einzigartiger Zugang zu Austers Werk Jedes seiner Bücher ist für Paul Auster eine Reise auf einer unbekannten Straße. Zusammen mit der Professorin Inge Birgitte Siegumfeldt hat er sich aufgemacht, diese Reisen noch einmal aus der Rückschau zu betrachten. Drei Jahre lang trafen sich beide zu Gesprächen über Austers Bücher. In einem intensiven, persönlichen Dialog erkunden sie seine großen Romane und die autobiographischen Texte. Auster gibt dabei einen intimen Einblick in seine Arbeit, erzählt amüsante Anekdoten und spricht offen wie selten über Inspirationsquellen und Motivation. Die scharfsinnigen Fragen und Gedanken Siegumfeldts fordern den Autor heraus, und so entsteht ein überraschender, kluger Austausch zweier Literaturliebhaber.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.02.2017Vier Fliegen, eine Klappe
Paul Auster wird siebzig. In einem autobiografisch gefärbten Roman
und einem Gesprächsband blickt er zurück auf sein Leben und Schreiben
VON BURKHARD MÜLLER
Wer einen Roman von fast 1300 Seiten Umfang schreibt, der sollte wissen, was er tut, und seine Gründe haben, denn er verlangt dem, den er als Leser gewinnen will, Erhebliches ab. Bei Paul Austers Bildungsroman mit dem zunächst recht rätselhaften Titel „4 3 2 1“ versteht man diese Gründe erst relativ spät: Es handelt sich nicht nur um einen Lebenslauf, den sein Protagonist Archie Ferguson, vom auktorialen Erzähler mit distanzierter Zärtlichkeit immer nur Ferguson genannt, hinter sich zu bringen hat, sondern um vier, die sich je alternativ an bestimmten Weggabelungen auftun.
Angedeutet wird dieses Prinzip schon früh im Buch durch einen Witz, der in der knappest möglichen Form die Gründungsgeschichte der Familie umschließt. Als der Urgroßvater Ende des 19. Jahrhunderts völlig ahnungslos aus seinem osteuropäischen Schtetl nach Ellis Island kommt, rät ihm ein schon länger ansässiger Landsmann, statt seines unaussprechlichen und stigmatisierenden Namens bei der Registrierung lieber anzugeben: Rockefeller – was der Ahn auch zu tun verspricht.
Aber als es so weit ist, sprudelt es in verzweifeltem Jiddisch aus ihm heraus: Ich hob vargessan! Der diensthabende Beamte, der die kommunikative Situation verkennt, trägt infolgedessen als Name des Neuankömmlings ein: Ichabod Ferguson. Wie anders, so grübelt der Erzähler, wäre das Leben dieses Neubürgers verlaufen, wenn er sich an Rockefeller erinnert und ihn jedermann für einen armen, aber immerhin für einen Verwandten des reichsten Manns der Welt gehalten hätte! Oder auch, wenn er, unberaten, bei seinem alten osteuropäischen Namen geblieben wäre. Ein nur Augenblicke währender Zufall, der aber natürlich seine tieferen Ursachen hat, entscheidet über alles Weitere.
Nach diesem Muster wird auch der junge Archie in vier verschiedene Richtungen zugleich geschickt; jedes der sieben Großkapitel ist folglich viergeteilt. Darin aber, dass der Leser dieses Prinzip so spät begreift, offenbart sich das strukturelle Problem des Buchs: Die Alternativen sind gar keine. Alle vier möglichen Biografien haben so große Ähnlichkeit miteinander, dass man sie, wenngleich mit einigen kleineren Beirrungen, als Bestandteil einer einzigen Erzählung wahrnimmt, die man unschwer als die Geschichte von Auster selbst erkennt.
Beide, Auster und Ferguson, stammen aus dem jüdischen Milieu von Newark in New Jersey, beide zeichnen sich frühzeitig durch literarische und übersetzerische Ambitionen aus, beide durchleben den Aufruhr der Sechziger von seiner schönen wie von seiner schrecklichen Seite. Und beide haben dabei eine privilegiertere Position inne, als sie in ihrem Außenseiter-Habitus wahrhaben wollen. Demgegenüber fallen die Differenzen bescheiden aus: Ob Ferguson jetzt eher die New Yorker Columbia University besucht (wie Auster es tat) oder für einige Zeit nach Paris geht (wie Auster es gleichfalls tat), das ändert ihn nicht im Kern und kaum in den Umständen.
Einmal bildet er für längere Zeit mit seiner Stiefschwester Amy ein Paar, ein anderes Mal mit Celia, der Schwester eines früh gestorbenen Freundes – das Motiv der aus dem Geschwisterlichen erwachsenden erotischen Leidenschaft erfährt dabei nur geringe Verwandlung; ja nicht einmal, wenn sich Ferguson in einer weiteren Variante mit dem elfenhaften Verleger seines ersten Buchs in den Federn tummelt. Zwar wird er in einer Version als Zwanzigjähriger, wie der deutsche Dichter Rolf-Dieter Brinkmann, in London von einem Auto erfasst und getötet, weil er mit dem Linksverkehr nicht zurechtkommt, und die Seiten der entsprechenden Kapitel bleiben von nun an leer. Und einmal stirbt Fergusons Vater durch Brandstiftung, während er sich ein anderes Mal von ihm nur entfremdet. Aber immer bleibt er dabei das ebenso schmerzensreiche wie gehätschelte Wunderkind, herausragender Baseball- und Basketballspieler und frühreifer Poet, der seine ersten Erzeugnisse scheu hütet, dann aber doch mit ihnen herausrückt und von allen Seiten zu hören bekommt, was für ein toller Hecht er sei. Das mal vier ist ziemlich öde. Mit anderen Worten, das Buch ist für das, was es liefert, definitiv zu lang.
Nicht als ob die Biografie des amerikanischen Dichters als junger Mann an sich keine derartigen Strecken zuließe – dass und wie so etwas geht, hat schon in den Dreißigerjahren Thomas Wolfe mit seinem noch dickeren Doppelwerk „Schau heimwärts, Engel“ und „Von Zeit und Fluss“ gezeigt. Doch bei Auster tritt die Schreibenergie durch vier getrennte und dabei allzu gleichartige Röhren aus. Das schwächt den hydraulischen Druck. Die Qualität des Dringlichen, bei Wolfe auf jeder Seite anzutreffen, stellt sich bei Auster nirgends ein. Er selbst scheint zu fühlen, dass hier etwas nicht zureicht, und versucht komprimierend auf seinen Stoff einzuwirken, indem er alles, was er sagen will, möglichst in einen einzigen Satz zusammenzwingt.
Das hört sich zum Beispiel, wenn von Fergusons Paris-Erfahrung die Rede ist, so an: „Paris war der Film von Paris, eine Anhäufung aller Paris-Filme, die Ferguson gesehen hatte, und wie inspirierend war es, sich jetzt an dem wirklichen Ort zu befinden, wirklich in seiner ganzen prächtigen und anregenden Wirklichkeit, und doch mit dem Gefühl umherzugehen, es wäre auch ein imaginärer Ort, ein Ort zugleich in seinem Kopf und in der Luft, die seinen Körper umgab, ein gleichzeitiges Hier und Da, eine schwarzweiße Vergangenheit und eine farbige Gegenwart, und Ferguson machte es Spaß, zwischen beidem hin und her zu pendeln, wobei seine Gedanken manchmal so schnell waren, dass beides miteinander verschwamm.“ Das sind lauter Allgemeinheiten, die auf dem Weg der Beteuerung in die Besonderheit einer Geschichte herübergeholt werden sollen.
So geht es ständig zu in diesem Buch, wenn es etwa die Atmosphäre des damaligen Kinos durch lange Aufzählungen von Schauspieler-Namen aufrufen will oder die unruhige Zeit an der Columbia als eine Art Doku-Drama handhabt, bei dem Ferguson als Figur so gut wie keine Rolle mehr spielt. Immerhin hat dieses etwas steife Panorama den Vorzug, fühlbar zu machen, dass Amerika vor fünfzig Jahren schon einmal ziemlich genau an demselben Punkt angelangt war wie heute: im Inneren zerrissen bis an den Rand des Bürgerkriegs, im Äußeren festgenagelt auf eine Ostasien-Politik, die, bei aller Aggressivität, das eigene Interesse aus den Augen verliert.
Parallel zum Roman erscheint ein Band mit Gesprächen, die Auster mit der dänischen Literaturwissenschaftlerin Inge Birgitte Siegumfeldt geführt hat. Auf 400 Seiten gehen sie sein Werk Stück für Stück durch. Es kommt wenig Überraschendes dabei heraus; zum einen, weil Siegumfeldt sich allzu sehr für ihren Autor begeistert, zum anderen, weil auch Auster stark philologisch veranlagt ist (und zu höflich). Austers vieldeutige Geschichten werden interpretatorisch enggeführt, und die beiden ruhen nicht, bis sie aus Namen wie Born oder Brill auch die letzte mögliche Assoziation hervorgelockt haben. Ist Lesen eine Reise? Ist es Trauerarbeit? Lässt sich von einem Buch sagen, es sei eine Echokammer? Muss der Leser sich aktiv am kreativen Prozess beteiligen? Und welche Rolle spielen beim Schreiben Intuition und Bauchgefühl? Solche Fragen stellen sich immer wieder, und die Antworten darauf sind nicht wirklich neu. „IBS: Multiple Perspektiven machen die Erzählung komplexer? PA: Ja, wahrscheinlich. IBS: Ich meine, nicht nur in Hinsicht auf die erzählte Perspektive – das hat auch Auswirkungen auf die Struktur. Geht beides vielleicht Hand in Hand? PA: Möglich. Bei ,Unsichtbar‘ empfand ich zum ersten Mal das Bedürfnis, verschiedene Stimmen zu verwenden.“ So klingt das die ganze Zeit.
Das Beste sind die Zitate aus Austers Büchern, die nicht nur die Interviewerin, sondern auch der Autor stets parat hat. Da er sein eigenes Leben so umfassend in die Bücher eingearbeitet hat, erfährt man auch nicht viel bisher Unbekanntes über seine Biografie. Ferguson beispielsweise ist im selben Jahr 1947 geboren wie sein Verfasser, der an diesem Freitag seinen 70. Geburtstag feiert.
Paul Auster: 4 3 2 1. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 1254 S., 29,95 Euro. E-Book 26,99 Euro.
Paul Auster: Ein Leben in Worten. Ein Gespräch mit Inge Birgitte Siegumfeldt. Aus dem Englischen von Werner Schmitz und Silvia Morawetz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 416 S., 12,99 Euro. E-Book 10,99 Euro.
Ist Lesen eine Reise?
Lässt sich von einem Buch
sagen, es sei eine Echokammer?
Paul Auster, geboren 1947 in Newark, New Jersey, wurde 1987 mit seiner„New-York-Trilogie“ international bekannt. Er lebt in Brooklyn und ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet. Foto: dpa
Bildungsgeschichte: Sit-in an der Columbia University 1968 während der Proteste gegen den Vietnamkrieg.
Foto: UPI
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Paul Auster wird siebzig. In einem autobiografisch gefärbten Roman
und einem Gesprächsband blickt er zurück auf sein Leben und Schreiben
VON BURKHARD MÜLLER
Wer einen Roman von fast 1300 Seiten Umfang schreibt, der sollte wissen, was er tut, und seine Gründe haben, denn er verlangt dem, den er als Leser gewinnen will, Erhebliches ab. Bei Paul Austers Bildungsroman mit dem zunächst recht rätselhaften Titel „4 3 2 1“ versteht man diese Gründe erst relativ spät: Es handelt sich nicht nur um einen Lebenslauf, den sein Protagonist Archie Ferguson, vom auktorialen Erzähler mit distanzierter Zärtlichkeit immer nur Ferguson genannt, hinter sich zu bringen hat, sondern um vier, die sich je alternativ an bestimmten Weggabelungen auftun.
Angedeutet wird dieses Prinzip schon früh im Buch durch einen Witz, der in der knappest möglichen Form die Gründungsgeschichte der Familie umschließt. Als der Urgroßvater Ende des 19. Jahrhunderts völlig ahnungslos aus seinem osteuropäischen Schtetl nach Ellis Island kommt, rät ihm ein schon länger ansässiger Landsmann, statt seines unaussprechlichen und stigmatisierenden Namens bei der Registrierung lieber anzugeben: Rockefeller – was der Ahn auch zu tun verspricht.
Aber als es so weit ist, sprudelt es in verzweifeltem Jiddisch aus ihm heraus: Ich hob vargessan! Der diensthabende Beamte, der die kommunikative Situation verkennt, trägt infolgedessen als Name des Neuankömmlings ein: Ichabod Ferguson. Wie anders, so grübelt der Erzähler, wäre das Leben dieses Neubürgers verlaufen, wenn er sich an Rockefeller erinnert und ihn jedermann für einen armen, aber immerhin für einen Verwandten des reichsten Manns der Welt gehalten hätte! Oder auch, wenn er, unberaten, bei seinem alten osteuropäischen Namen geblieben wäre. Ein nur Augenblicke währender Zufall, der aber natürlich seine tieferen Ursachen hat, entscheidet über alles Weitere.
Nach diesem Muster wird auch der junge Archie in vier verschiedene Richtungen zugleich geschickt; jedes der sieben Großkapitel ist folglich viergeteilt. Darin aber, dass der Leser dieses Prinzip so spät begreift, offenbart sich das strukturelle Problem des Buchs: Die Alternativen sind gar keine. Alle vier möglichen Biografien haben so große Ähnlichkeit miteinander, dass man sie, wenngleich mit einigen kleineren Beirrungen, als Bestandteil einer einzigen Erzählung wahrnimmt, die man unschwer als die Geschichte von Auster selbst erkennt.
Beide, Auster und Ferguson, stammen aus dem jüdischen Milieu von Newark in New Jersey, beide zeichnen sich frühzeitig durch literarische und übersetzerische Ambitionen aus, beide durchleben den Aufruhr der Sechziger von seiner schönen wie von seiner schrecklichen Seite. Und beide haben dabei eine privilegiertere Position inne, als sie in ihrem Außenseiter-Habitus wahrhaben wollen. Demgegenüber fallen die Differenzen bescheiden aus: Ob Ferguson jetzt eher die New Yorker Columbia University besucht (wie Auster es tat) oder für einige Zeit nach Paris geht (wie Auster es gleichfalls tat), das ändert ihn nicht im Kern und kaum in den Umständen.
Einmal bildet er für längere Zeit mit seiner Stiefschwester Amy ein Paar, ein anderes Mal mit Celia, der Schwester eines früh gestorbenen Freundes – das Motiv der aus dem Geschwisterlichen erwachsenden erotischen Leidenschaft erfährt dabei nur geringe Verwandlung; ja nicht einmal, wenn sich Ferguson in einer weiteren Variante mit dem elfenhaften Verleger seines ersten Buchs in den Federn tummelt. Zwar wird er in einer Version als Zwanzigjähriger, wie der deutsche Dichter Rolf-Dieter Brinkmann, in London von einem Auto erfasst und getötet, weil er mit dem Linksverkehr nicht zurechtkommt, und die Seiten der entsprechenden Kapitel bleiben von nun an leer. Und einmal stirbt Fergusons Vater durch Brandstiftung, während er sich ein anderes Mal von ihm nur entfremdet. Aber immer bleibt er dabei das ebenso schmerzensreiche wie gehätschelte Wunderkind, herausragender Baseball- und Basketballspieler und frühreifer Poet, der seine ersten Erzeugnisse scheu hütet, dann aber doch mit ihnen herausrückt und von allen Seiten zu hören bekommt, was für ein toller Hecht er sei. Das mal vier ist ziemlich öde. Mit anderen Worten, das Buch ist für das, was es liefert, definitiv zu lang.
Nicht als ob die Biografie des amerikanischen Dichters als junger Mann an sich keine derartigen Strecken zuließe – dass und wie so etwas geht, hat schon in den Dreißigerjahren Thomas Wolfe mit seinem noch dickeren Doppelwerk „Schau heimwärts, Engel“ und „Von Zeit und Fluss“ gezeigt. Doch bei Auster tritt die Schreibenergie durch vier getrennte und dabei allzu gleichartige Röhren aus. Das schwächt den hydraulischen Druck. Die Qualität des Dringlichen, bei Wolfe auf jeder Seite anzutreffen, stellt sich bei Auster nirgends ein. Er selbst scheint zu fühlen, dass hier etwas nicht zureicht, und versucht komprimierend auf seinen Stoff einzuwirken, indem er alles, was er sagen will, möglichst in einen einzigen Satz zusammenzwingt.
Das hört sich zum Beispiel, wenn von Fergusons Paris-Erfahrung die Rede ist, so an: „Paris war der Film von Paris, eine Anhäufung aller Paris-Filme, die Ferguson gesehen hatte, und wie inspirierend war es, sich jetzt an dem wirklichen Ort zu befinden, wirklich in seiner ganzen prächtigen und anregenden Wirklichkeit, und doch mit dem Gefühl umherzugehen, es wäre auch ein imaginärer Ort, ein Ort zugleich in seinem Kopf und in der Luft, die seinen Körper umgab, ein gleichzeitiges Hier und Da, eine schwarzweiße Vergangenheit und eine farbige Gegenwart, und Ferguson machte es Spaß, zwischen beidem hin und her zu pendeln, wobei seine Gedanken manchmal so schnell waren, dass beides miteinander verschwamm.“ Das sind lauter Allgemeinheiten, die auf dem Weg der Beteuerung in die Besonderheit einer Geschichte herübergeholt werden sollen.
So geht es ständig zu in diesem Buch, wenn es etwa die Atmosphäre des damaligen Kinos durch lange Aufzählungen von Schauspieler-Namen aufrufen will oder die unruhige Zeit an der Columbia als eine Art Doku-Drama handhabt, bei dem Ferguson als Figur so gut wie keine Rolle mehr spielt. Immerhin hat dieses etwas steife Panorama den Vorzug, fühlbar zu machen, dass Amerika vor fünfzig Jahren schon einmal ziemlich genau an demselben Punkt angelangt war wie heute: im Inneren zerrissen bis an den Rand des Bürgerkriegs, im Äußeren festgenagelt auf eine Ostasien-Politik, die, bei aller Aggressivität, das eigene Interesse aus den Augen verliert.
Parallel zum Roman erscheint ein Band mit Gesprächen, die Auster mit der dänischen Literaturwissenschaftlerin Inge Birgitte Siegumfeldt geführt hat. Auf 400 Seiten gehen sie sein Werk Stück für Stück durch. Es kommt wenig Überraschendes dabei heraus; zum einen, weil Siegumfeldt sich allzu sehr für ihren Autor begeistert, zum anderen, weil auch Auster stark philologisch veranlagt ist (und zu höflich). Austers vieldeutige Geschichten werden interpretatorisch enggeführt, und die beiden ruhen nicht, bis sie aus Namen wie Born oder Brill auch die letzte mögliche Assoziation hervorgelockt haben. Ist Lesen eine Reise? Ist es Trauerarbeit? Lässt sich von einem Buch sagen, es sei eine Echokammer? Muss der Leser sich aktiv am kreativen Prozess beteiligen? Und welche Rolle spielen beim Schreiben Intuition und Bauchgefühl? Solche Fragen stellen sich immer wieder, und die Antworten darauf sind nicht wirklich neu. „IBS: Multiple Perspektiven machen die Erzählung komplexer? PA: Ja, wahrscheinlich. IBS: Ich meine, nicht nur in Hinsicht auf die erzählte Perspektive – das hat auch Auswirkungen auf die Struktur. Geht beides vielleicht Hand in Hand? PA: Möglich. Bei ,Unsichtbar‘ empfand ich zum ersten Mal das Bedürfnis, verschiedene Stimmen zu verwenden.“ So klingt das die ganze Zeit.
Das Beste sind die Zitate aus Austers Büchern, die nicht nur die Interviewerin, sondern auch der Autor stets parat hat. Da er sein eigenes Leben so umfassend in die Bücher eingearbeitet hat, erfährt man auch nicht viel bisher Unbekanntes über seine Biografie. Ferguson beispielsweise ist im selben Jahr 1947 geboren wie sein Verfasser, der an diesem Freitag seinen 70. Geburtstag feiert.
Paul Auster: 4 3 2 1. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 1254 S., 29,95 Euro. E-Book 26,99 Euro.
Paul Auster: Ein Leben in Worten. Ein Gespräch mit Inge Birgitte Siegumfeldt. Aus dem Englischen von Werner Schmitz und Silvia Morawetz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 416 S., 12,99 Euro. E-Book 10,99 Euro.
Ist Lesen eine Reise?
Lässt sich von einem Buch
sagen, es sei eine Echokammer?
Paul Auster, geboren 1947 in Newark, New Jersey, wurde 1987 mit seiner„New-York-Trilogie“ international bekannt. Er lebt in Brooklyn und ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet. Foto: dpa
Bildungsgeschichte: Sit-in an der Columbia University 1968 während der Proteste gegen den Vietnamkrieg.
Foto: UPI
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2017Wenn die Welt zerbricht
Ich ist drei andere: Pünktlich zum morgigen siebzigsten Geburtstag von Paul Auster erscheint sein neuer Roman "4 3 2 1". In diesem umfangreichsten Buch, das der einflussreiche amerikanische Schriftsteller bislang geschrieben hat, erreicht er den Gipfel seiner Erzählkunst.
Zunächst zum Titel. "4 3 2 1" - was soll das sein? Eine Telefonnummer, eine Postleitzahl, ein Countdown, der Teil eines Abzählreims? Aber Telefonnummern sind länger, Postleitzahlen in den Vereinigten Staaten sehen anders aus, zum klassischen Countdown fehlt die Null, also ist es wohl doch der Abzählreim. Und ja, so ist der Titel zu verstehen: nach dem Muster einer Reihe von Personen, die durch allerlei Unglücksfälle immer weniger werden, bis am Ende nur noch eine übrig bleibt. Genau so verhält es sich in Paul Austers neuem Roman. Nur dass dieses Buch eine Ausgangskonstellation aufweist, mit der man nicht rechnet: Es handelt sich bei den vier darin erzählten Lebensläufen um die gleiche Person: Archie Ferguson, geboren am 3. März 1947, genau einen Monat nach seinem Autor. Der also morgen, am 3. Februar, seinen siebzigsten Geburtstag feiert.
Solche Bezugnahmen auf sich selbst haben in Paul Austers Romanen Tradition. Diese ist sogar eher dezent. Gleich im ersten Roman, seiner "New York Trilogie", im Original 1987, auf Deutsch 1989 erschienen, heißt ein Protagonist Paul Auster. Andere aus späteren Büchern haben zumindest denselben Vornamen oder tragen Nachnamen, die sich als Anagramme von "Auster" erweisen. Archie Ferguson ist auf den ersten Blick nicht so leicht mit seinem Autor in eins zu setzen. Auf den zweiten aber umso besser.
In einem über zwei Jahre, von 2011 bis 2013, fortgeführten Gespräch über sein Werk mit der dänischen Literaturwissenschaftlerin Inge Birgitte Siegumfeldt, das jetzt pünktlich wie "4 3 2 1" zum morgigen Ehrentag erschienen ist - in den Vereinigten Staaten und Deutschland gleichzeitig -, wehrt Auster alle Vermischungen von Realität und Fiktion bezüglich seine Schaffens ab: "Meine Romane sind fiktiv, meine autobiographischen Texte sind nicht fiktiv." Das ist eine Tautologie, aber dass ein so versierter Schriftsteller wie Auster sie äußert, zeigt, wie sehr ihn die seit Beginn seiner Karriere anhaltende Suche nach Spuren des wahren Paul Auster in dessen Romanfiguren ärgert. Weil sie ablenkt von Handlung und Form.
Nur sind beide extrem abhängig vom Ausmaß autobiographischer Bezüge. Bei der Handlung ist das evident, und bei der Form ist Auster umso avancierter, je mehr an eigenen Erfahrungen im Erzählten steckt. Dass er prägende Jahre im Paris der mittleren sechziger und frühen siebziger Jahre verbrachte, als sich der Poststrukturalismus entwickelte, merkt man seinem höchst kalkulierten Schreiben an. Dass man es oft als postmodern bezeichnet, ärgert Auster übrigens auch.
"4 3 2 1" ist kein postmoderner Roman, denn erzählt wird hier auf konventionelle Weise, streng chronologisch, sachlich, aus klar identifizierbarer Perspektive, ohne jede phantastische oder rhetorische Brechung. Und doch ist das Buch vielfach gebrochen trotz dieses schnörkellosen Erzählstils, denn der wird auf jene vier Leben des Archie Ferguson angewandt, die nicht nur im Buchtitel zum Ausdruck kommen, sondern auch in der Durchnumerierung der Kapitel. Sieben Teile hat der Roman, und in jedem gibt es vier Unterabschnitte, von 1.1, 1.2, 1.3 und 1.4 bis 7.1, 7.2, 7.3 und 7.4. Wenn ein Archie Ferguson gestorben ist, bleibt in den weiteren Teilen des Buchs nicht mehr von ihm übrig als eine leere Seite mit der Kapitelnummer. Zugleich jedoch bleiben diese Archies über den Einschnitt einer solch annähernden Vakatseite präsent: Hier wäre jeweils Platz für weitere Entwicklungen gewesen, die die vier Fergusons biographisch und intellektuell noch weiter voneinander entfernt hätten, obwohl ihre Leben verwandte Konstellationen und Interessen aufweisen. Diese Verwandtschaften teilen sie wiederum mit ihrem Autor.
Das beginnt mit dem Geburtsjahr und auch dem Geburtsort, Newark, sowie den wichtigsten Stationen der Kinder- und Jugendzeit, die alle Archie Fergusons - die wir fortan der Einfachheit halber nach ihrer Reihenfolge im Erzählkontinuum als Ferguson I bis Ferguson IV bezeichnen wollen, wie Auster es ganz am Schluss, als er doch noch einmal eine Mise en abyme unterbringt, selbst nahelegt - absolvieren. Ferguson II aber stirbt als Dreizehnjähriger schon nach einem Fünftel des mit 1250 Seiten umfangreichsten Romans, den Auster bislang geschrieben hat, und so entgehen ihm die emotionalen und ästhetischen Erfahrungen von Pubertätsund junger Erwachsenenzeit, die seine drei Namensvettern durchleben. Der Tod kommt zu Ferguson II völlig überraschend, aber nicht aus heiterem Himmel, denn ein Blitzschlag trifft ihn. Auster selbst hat im gleichen Alter wie Ferguson II einen Freund auf diese Weise sterben sehen, wie sein autobiographischer Text "Warum schreiben?" erzählt. Die Parallelen der Romanhandlung zum eigenen Leben liegen offen. Sie werden für treue Auster-Leser noch deutlicher, je älter die verbliebenen Fergusons werden.
Die Grundlage für vier alternative Lebensläufe eines Menschen.
Zu Beginn ihres Lebens sind sie zwar räumlich und zeitlich eng mit der Biographie des Autors verknüpft, doch die Familie Ferguson ist kein Abbild der Familie Auster. Den Fergusons vor Archie ist das Kapitel 1.0 gewidmet, das in den späteren Teilen keine Fortsetzung mehr findet, weil hier die Grundlagen für alle vier Leben gelegt werden. Da ist der Großvater Isaac Reznikoff, der im Jahr 1900 aus dem russischen Minsk vor Elend und Pogromen in die Vereinigten Staaten flieht und sich dort eigentlich den für amerikanische Ohren wohlklingenden Namen Rockefeller zulegen will, aber sich vor dem Einreiseschalter nicht daran erinnert, weshalb er auf Jiddisch ausruft: "Ich hob fargessen", was der Beamte als Ichabod Ferguson versteht und ihn deshalb so ins Einwanderungsregister einträgt. Mit dieser Szene gleich auf der ersten Seite hat Auster gewonnen, und auch wenn es nie mehr so burlesk wird, setzt die Anekdote doch den Ton für das gesamte Buch. Und ein zentrales Kompositionsmotiv ex negativo: "Ein junger Mann wird plötzlich in drei junge Männer zerrissen, jeder mit dem anderen identisch, aber jeder mit einem anderen Namen: Rockefeller, Ferguson und der lange, unaussprechliche Name X." So räsoniert Ferguson IV, der sich zum Schriftsteller entwickeln wird - und als einziger überleben. Da ist es 1975, und der Roman ist aus.
Auster ist ein gewiefter Konstrukteur, aber bisweilen unterschätzt er seine Leser. So auch hier: Den Schlüssel zum Verständnis des Romans liefert er erst ganz am Ende, aber da haben wir uns längst einen Dietrich gefertigt. Doch auch in der Bestätigung von Vermutungen liegt ja Reiz; nur kommt bei Auster zu häufig zum Ausdruck, dass er sich allein als Türöffner sieht. Das ist in "4 3 2 1" wieder so, aber das ist auch der einzige Einwand.
Frauen spielen bei Auster meist keine gewichtigen Rollen, aber im neuen Roman gibt es gleich zwei unvergessliche weibliche Figuren: Archies Mutter Rose und die mit ihm fast gleichalte Amy Schneiderman, Enkelin eines Fotografen, bei dem seine Mutter ehedem lernte und arbeitete. Wo diese zum Vorbild fürs künstlerische Streben der vier Fergusons wird, gibt Amy deren Sehnsuchtsbild ab, und auf jeweils unterschiedliche Weise scheitern sie an ihm. Ferguson II ist schon tot, bevor er ernsthaft an die Liebe denken könnte, aber Ferguson I, III und IV müssen jeweils erleben, wie mal das (Familien-)Schicksal ihnen in die Karten pfuscht, mal die eigene Unzulänglichkeit gegenüber einer jungen Frau, die sich zur politischen Aktivistin wandelt und mehr von einem Partner erwartet als nur Sex.
Ja, sogar mehr als Kunst, die die überlebenden Fergusons jeweils auf unterschiedliche Weise schreibend für sich entdecken. Nicht nur das verbindet sie mit ihrem Autor, sondern auch Sportvorlieben und -erfolge während der Schulzeit, Leidenschaften fürs Kino oder einzelne Lektüren. Und alle starren sie aus den verschiedenen Kleinstädten in New Jersey, in die es sie verschlagen hat, sehnsüchtig auf die nahe Metropole New York.
Das ist "4 3 2 1" auch: ein großartiger New-York-Roman und insofern eine Parallelaktion zu Hanya Yanagiharas "Ein wenig Leben", das auf Deutsch nur wenige Tage vor Austers Buch erschienen ist (F.A.Z. vom 28. Januar), während es in Amerika schon 2015 herauskam. Das Verblüffende beim Vergleich dieser beiden in jeder Hinsicht gewichtigen Bücher ist, dass "Ein wenig Leben" zeitlos in dem Sinne ist, dass vom Schicksal der kleinen Gruppe Menschen in seinem Zentrum ohne jeden Hinweis auf einen konkreten Handlungszeitpunkt erzählt wird: Den einzigen Rahmen für das mehr als ein halbes Jahrhundert umfassende Geschehen bildet die Stadt New York als Stimmungsphänomen und als solches auch als einen unvergleichlicher Lebensraum, der bei Yanagihara losgelöst von allem erscheint, was die Welt sonst noch zu bieten hat. Austers New York in "4 3 2 1" dagegen ist zeitlich exakt bestimmbar über all die politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Ereignisse, die in dieser Stadt während der sechziger und siebziger Jahre kulminierten. "Alles eine Zeitlang stabil, und dann eines Morgens geht die Sonne auf, und alles bricht in Stücke."
Besonders wichtig wird diese Erfahrung beim jeweiligen Blick von Ferguson I und IV auf die Studentenproteste von 1968, als die Columbia-Universität acht Tage lang blockiert wurde. Dieses Ereignis, das den damals an der Columbia studierenden Auster nachhaltig beeinflusst hat, spielte schon in seinem 2009 veröffentlichten Roman "Unsichtbar" eine wichtige Rolle. Die Politisierung durch Vietnam-Krieg und Bürgerrechtsbewegung ist der äußere Antrieb für die Fergusons: Wenn die Welt brennt, wird man selbst entflammt. Für Yanagiharas Protagonisten gibt es nur innere Motivationen. Trotzdem sind beide Romane, an Umfang und Qualität gleichermaßen reich, Glücksfälle für die amerikanische Literatur.
Dass die Übersetzung von "4 3 2 1" am selben Tag erscheinen konnte wie das Original, ist Ausdruck der Beliebtheit von Auster: Etliche deutsche Leser hätten sonst wohl die englische Ausgabe gekauft. Auster hat jahrelang daran geschrieben; als Inge Birgitte Siegumfeldt die Gespräche mit ihm führte, arbeitete er bereits daran, erzählte aber nichts darüber, außer dass ihm die Arbeit daran Spaß mache. Das merkt man dem fertigen Roman in jeder Zeile an.
Ein halbes Jahr nur blieb für die Übersetzung der 1250 Seiten.
Und das, obwohl der Zeitplan für die deutsche Ausgabe - ein halbes Jahr von Austers Manuskriptabgabe bis zum Erscheinen - nur zu halten war, indem neben dem Stammübersetzer Werner Schmitz noch drei weitere Kollegen tätig wurden. Sie haben sich die Arbeit nicht nach dem Vorbild der Bucheinteilung in die Leben von Ferguson I bis IV aufgeteilt, sondern je nach individueller Kapazität gemäß den jeweiligen Handlungszusammenhängen. "Das Konzept war", teilt der zuständige Lektor Thomas Überhoff mit, "dass die anderen versuchen sollten, sich in Ton und Stil möglichst an Werner Schmitz anzupassen." Das ist geglückt; der Roman weist die unverkennbare Auster-Stimme auf, wie wir sie aus den bisherigen deutschen Übersetzungen schätzen.
In den Gesprächen mit Inge Birgitte Siegumfeldt hat Auster vom schönsten Geburtstagsgeschenk erzählt, das er zum sechzigsten Geburtstag erhalten habe: einen von Willie Mays signierten Baseball. Dazu muss man wissen, dass Mays, anderthalb Jahrzehnte älter als Auster, eine lebende Legende seines (und auch Archie Fergusons) Sports ist. Als Mays erfuhr, dass der damals neunjährige Auster bei ihrer einzigen Begegnung keinen Stift dabeihatte und so kein Autogramm von ihm erbitten konnte, deshalb künftig immer Schreibwerkzeug mit sich führte und schließlich zum Schriftsteller wurde, signierte er den Ball, den Auster dann zum Sechzigsten geschenkt bekam. Zum siebzigsten Geburtstag hat der sich nun selbst das schönste Geschenk gemacht: diesen Roman. Und uns als seine Leser beschenkt er mit.
ANDREAS PLATTHAUS.
Paul Auster: "4 3 2 1". Roman.
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 1259 S., geb., 29,95 [Euro].
Paul Auster: "Ein Leben in Worten". Ein Gespräch mit Inge Birgitte Siegumfeldt.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz und Silvia Moravetz. Rowohl Verlag, Reinbek 2017. 414 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ich ist drei andere: Pünktlich zum morgigen siebzigsten Geburtstag von Paul Auster erscheint sein neuer Roman "4 3 2 1". In diesem umfangreichsten Buch, das der einflussreiche amerikanische Schriftsteller bislang geschrieben hat, erreicht er den Gipfel seiner Erzählkunst.
Zunächst zum Titel. "4 3 2 1" - was soll das sein? Eine Telefonnummer, eine Postleitzahl, ein Countdown, der Teil eines Abzählreims? Aber Telefonnummern sind länger, Postleitzahlen in den Vereinigten Staaten sehen anders aus, zum klassischen Countdown fehlt die Null, also ist es wohl doch der Abzählreim. Und ja, so ist der Titel zu verstehen: nach dem Muster einer Reihe von Personen, die durch allerlei Unglücksfälle immer weniger werden, bis am Ende nur noch eine übrig bleibt. Genau so verhält es sich in Paul Austers neuem Roman. Nur dass dieses Buch eine Ausgangskonstellation aufweist, mit der man nicht rechnet: Es handelt sich bei den vier darin erzählten Lebensläufen um die gleiche Person: Archie Ferguson, geboren am 3. März 1947, genau einen Monat nach seinem Autor. Der also morgen, am 3. Februar, seinen siebzigsten Geburtstag feiert.
Solche Bezugnahmen auf sich selbst haben in Paul Austers Romanen Tradition. Diese ist sogar eher dezent. Gleich im ersten Roman, seiner "New York Trilogie", im Original 1987, auf Deutsch 1989 erschienen, heißt ein Protagonist Paul Auster. Andere aus späteren Büchern haben zumindest denselben Vornamen oder tragen Nachnamen, die sich als Anagramme von "Auster" erweisen. Archie Ferguson ist auf den ersten Blick nicht so leicht mit seinem Autor in eins zu setzen. Auf den zweiten aber umso besser.
In einem über zwei Jahre, von 2011 bis 2013, fortgeführten Gespräch über sein Werk mit der dänischen Literaturwissenschaftlerin Inge Birgitte Siegumfeldt, das jetzt pünktlich wie "4 3 2 1" zum morgigen Ehrentag erschienen ist - in den Vereinigten Staaten und Deutschland gleichzeitig -, wehrt Auster alle Vermischungen von Realität und Fiktion bezüglich seine Schaffens ab: "Meine Romane sind fiktiv, meine autobiographischen Texte sind nicht fiktiv." Das ist eine Tautologie, aber dass ein so versierter Schriftsteller wie Auster sie äußert, zeigt, wie sehr ihn die seit Beginn seiner Karriere anhaltende Suche nach Spuren des wahren Paul Auster in dessen Romanfiguren ärgert. Weil sie ablenkt von Handlung und Form.
Nur sind beide extrem abhängig vom Ausmaß autobiographischer Bezüge. Bei der Handlung ist das evident, und bei der Form ist Auster umso avancierter, je mehr an eigenen Erfahrungen im Erzählten steckt. Dass er prägende Jahre im Paris der mittleren sechziger und frühen siebziger Jahre verbrachte, als sich der Poststrukturalismus entwickelte, merkt man seinem höchst kalkulierten Schreiben an. Dass man es oft als postmodern bezeichnet, ärgert Auster übrigens auch.
"4 3 2 1" ist kein postmoderner Roman, denn erzählt wird hier auf konventionelle Weise, streng chronologisch, sachlich, aus klar identifizierbarer Perspektive, ohne jede phantastische oder rhetorische Brechung. Und doch ist das Buch vielfach gebrochen trotz dieses schnörkellosen Erzählstils, denn der wird auf jene vier Leben des Archie Ferguson angewandt, die nicht nur im Buchtitel zum Ausdruck kommen, sondern auch in der Durchnumerierung der Kapitel. Sieben Teile hat der Roman, und in jedem gibt es vier Unterabschnitte, von 1.1, 1.2, 1.3 und 1.4 bis 7.1, 7.2, 7.3 und 7.4. Wenn ein Archie Ferguson gestorben ist, bleibt in den weiteren Teilen des Buchs nicht mehr von ihm übrig als eine leere Seite mit der Kapitelnummer. Zugleich jedoch bleiben diese Archies über den Einschnitt einer solch annähernden Vakatseite präsent: Hier wäre jeweils Platz für weitere Entwicklungen gewesen, die die vier Fergusons biographisch und intellektuell noch weiter voneinander entfernt hätten, obwohl ihre Leben verwandte Konstellationen und Interessen aufweisen. Diese Verwandtschaften teilen sie wiederum mit ihrem Autor.
Das beginnt mit dem Geburtsjahr und auch dem Geburtsort, Newark, sowie den wichtigsten Stationen der Kinder- und Jugendzeit, die alle Archie Fergusons - die wir fortan der Einfachheit halber nach ihrer Reihenfolge im Erzählkontinuum als Ferguson I bis Ferguson IV bezeichnen wollen, wie Auster es ganz am Schluss, als er doch noch einmal eine Mise en abyme unterbringt, selbst nahelegt - absolvieren. Ferguson II aber stirbt als Dreizehnjähriger schon nach einem Fünftel des mit 1250 Seiten umfangreichsten Romans, den Auster bislang geschrieben hat, und so entgehen ihm die emotionalen und ästhetischen Erfahrungen von Pubertätsund junger Erwachsenenzeit, die seine drei Namensvettern durchleben. Der Tod kommt zu Ferguson II völlig überraschend, aber nicht aus heiterem Himmel, denn ein Blitzschlag trifft ihn. Auster selbst hat im gleichen Alter wie Ferguson II einen Freund auf diese Weise sterben sehen, wie sein autobiographischer Text "Warum schreiben?" erzählt. Die Parallelen der Romanhandlung zum eigenen Leben liegen offen. Sie werden für treue Auster-Leser noch deutlicher, je älter die verbliebenen Fergusons werden.
Die Grundlage für vier alternative Lebensläufe eines Menschen.
Zu Beginn ihres Lebens sind sie zwar räumlich und zeitlich eng mit der Biographie des Autors verknüpft, doch die Familie Ferguson ist kein Abbild der Familie Auster. Den Fergusons vor Archie ist das Kapitel 1.0 gewidmet, das in den späteren Teilen keine Fortsetzung mehr findet, weil hier die Grundlagen für alle vier Leben gelegt werden. Da ist der Großvater Isaac Reznikoff, der im Jahr 1900 aus dem russischen Minsk vor Elend und Pogromen in die Vereinigten Staaten flieht und sich dort eigentlich den für amerikanische Ohren wohlklingenden Namen Rockefeller zulegen will, aber sich vor dem Einreiseschalter nicht daran erinnert, weshalb er auf Jiddisch ausruft: "Ich hob fargessen", was der Beamte als Ichabod Ferguson versteht und ihn deshalb so ins Einwanderungsregister einträgt. Mit dieser Szene gleich auf der ersten Seite hat Auster gewonnen, und auch wenn es nie mehr so burlesk wird, setzt die Anekdote doch den Ton für das gesamte Buch. Und ein zentrales Kompositionsmotiv ex negativo: "Ein junger Mann wird plötzlich in drei junge Männer zerrissen, jeder mit dem anderen identisch, aber jeder mit einem anderen Namen: Rockefeller, Ferguson und der lange, unaussprechliche Name X." So räsoniert Ferguson IV, der sich zum Schriftsteller entwickeln wird - und als einziger überleben. Da ist es 1975, und der Roman ist aus.
Auster ist ein gewiefter Konstrukteur, aber bisweilen unterschätzt er seine Leser. So auch hier: Den Schlüssel zum Verständnis des Romans liefert er erst ganz am Ende, aber da haben wir uns längst einen Dietrich gefertigt. Doch auch in der Bestätigung von Vermutungen liegt ja Reiz; nur kommt bei Auster zu häufig zum Ausdruck, dass er sich allein als Türöffner sieht. Das ist in "4 3 2 1" wieder so, aber das ist auch der einzige Einwand.
Frauen spielen bei Auster meist keine gewichtigen Rollen, aber im neuen Roman gibt es gleich zwei unvergessliche weibliche Figuren: Archies Mutter Rose und die mit ihm fast gleichalte Amy Schneiderman, Enkelin eines Fotografen, bei dem seine Mutter ehedem lernte und arbeitete. Wo diese zum Vorbild fürs künstlerische Streben der vier Fergusons wird, gibt Amy deren Sehnsuchtsbild ab, und auf jeweils unterschiedliche Weise scheitern sie an ihm. Ferguson II ist schon tot, bevor er ernsthaft an die Liebe denken könnte, aber Ferguson I, III und IV müssen jeweils erleben, wie mal das (Familien-)Schicksal ihnen in die Karten pfuscht, mal die eigene Unzulänglichkeit gegenüber einer jungen Frau, die sich zur politischen Aktivistin wandelt und mehr von einem Partner erwartet als nur Sex.
Ja, sogar mehr als Kunst, die die überlebenden Fergusons jeweils auf unterschiedliche Weise schreibend für sich entdecken. Nicht nur das verbindet sie mit ihrem Autor, sondern auch Sportvorlieben und -erfolge während der Schulzeit, Leidenschaften fürs Kino oder einzelne Lektüren. Und alle starren sie aus den verschiedenen Kleinstädten in New Jersey, in die es sie verschlagen hat, sehnsüchtig auf die nahe Metropole New York.
Das ist "4 3 2 1" auch: ein großartiger New-York-Roman und insofern eine Parallelaktion zu Hanya Yanagiharas "Ein wenig Leben", das auf Deutsch nur wenige Tage vor Austers Buch erschienen ist (F.A.Z. vom 28. Januar), während es in Amerika schon 2015 herauskam. Das Verblüffende beim Vergleich dieser beiden in jeder Hinsicht gewichtigen Bücher ist, dass "Ein wenig Leben" zeitlos in dem Sinne ist, dass vom Schicksal der kleinen Gruppe Menschen in seinem Zentrum ohne jeden Hinweis auf einen konkreten Handlungszeitpunkt erzählt wird: Den einzigen Rahmen für das mehr als ein halbes Jahrhundert umfassende Geschehen bildet die Stadt New York als Stimmungsphänomen und als solches auch als einen unvergleichlicher Lebensraum, der bei Yanagihara losgelöst von allem erscheint, was die Welt sonst noch zu bieten hat. Austers New York in "4 3 2 1" dagegen ist zeitlich exakt bestimmbar über all die politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Ereignisse, die in dieser Stadt während der sechziger und siebziger Jahre kulminierten. "Alles eine Zeitlang stabil, und dann eines Morgens geht die Sonne auf, und alles bricht in Stücke."
Besonders wichtig wird diese Erfahrung beim jeweiligen Blick von Ferguson I und IV auf die Studentenproteste von 1968, als die Columbia-Universität acht Tage lang blockiert wurde. Dieses Ereignis, das den damals an der Columbia studierenden Auster nachhaltig beeinflusst hat, spielte schon in seinem 2009 veröffentlichten Roman "Unsichtbar" eine wichtige Rolle. Die Politisierung durch Vietnam-Krieg und Bürgerrechtsbewegung ist der äußere Antrieb für die Fergusons: Wenn die Welt brennt, wird man selbst entflammt. Für Yanagiharas Protagonisten gibt es nur innere Motivationen. Trotzdem sind beide Romane, an Umfang und Qualität gleichermaßen reich, Glücksfälle für die amerikanische Literatur.
Dass die Übersetzung von "4 3 2 1" am selben Tag erscheinen konnte wie das Original, ist Ausdruck der Beliebtheit von Auster: Etliche deutsche Leser hätten sonst wohl die englische Ausgabe gekauft. Auster hat jahrelang daran geschrieben; als Inge Birgitte Siegumfeldt die Gespräche mit ihm führte, arbeitete er bereits daran, erzählte aber nichts darüber, außer dass ihm die Arbeit daran Spaß mache. Das merkt man dem fertigen Roman in jeder Zeile an.
Ein halbes Jahr nur blieb für die Übersetzung der 1250 Seiten.
Und das, obwohl der Zeitplan für die deutsche Ausgabe - ein halbes Jahr von Austers Manuskriptabgabe bis zum Erscheinen - nur zu halten war, indem neben dem Stammübersetzer Werner Schmitz noch drei weitere Kollegen tätig wurden. Sie haben sich die Arbeit nicht nach dem Vorbild der Bucheinteilung in die Leben von Ferguson I bis IV aufgeteilt, sondern je nach individueller Kapazität gemäß den jeweiligen Handlungszusammenhängen. "Das Konzept war", teilt der zuständige Lektor Thomas Überhoff mit, "dass die anderen versuchen sollten, sich in Ton und Stil möglichst an Werner Schmitz anzupassen." Das ist geglückt; der Roman weist die unverkennbare Auster-Stimme auf, wie wir sie aus den bisherigen deutschen Übersetzungen schätzen.
In den Gesprächen mit Inge Birgitte Siegumfeldt hat Auster vom schönsten Geburtstagsgeschenk erzählt, das er zum sechzigsten Geburtstag erhalten habe: einen von Willie Mays signierten Baseball. Dazu muss man wissen, dass Mays, anderthalb Jahrzehnte älter als Auster, eine lebende Legende seines (und auch Archie Fergusons) Sports ist. Als Mays erfuhr, dass der damals neunjährige Auster bei ihrer einzigen Begegnung keinen Stift dabeihatte und so kein Autogramm von ihm erbitten konnte, deshalb künftig immer Schreibwerkzeug mit sich führte und schließlich zum Schriftsteller wurde, signierte er den Ball, den Auster dann zum Sechzigsten geschenkt bekam. Zum siebzigsten Geburtstag hat der sich nun selbst das schönste Geschenk gemacht: diesen Roman. Und uns als seine Leser beschenkt er mit.
ANDREAS PLATTHAUS.
Paul Auster: "4 3 2 1". Roman.
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 1259 S., geb., 29,95 [Euro].
Paul Auster: "Ein Leben in Worten". Ein Gespräch mit Inge Birgitte Siegumfeldt.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz und Silvia Moravetz. Rowohl Verlag, Reinbek 2017. 414 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er versetzt immer wieder in Erstaunen, dieser Paul Auster. Welt am Sonntag