Helmut Schmidt hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er China für eine entscheidende Weltmacht des 21. Jahrhunderts hält. Warum gerade wir Deutschen vor dem Reich der Mitte nicht Angst, wohl aber Respekt haben sollten und was Europa von der viertausendjährigen chinesischen Kultur lernen kann – das sagt er in seinem neuen Buch mit der ihm eigenen Klarheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2013Und die Musik spielt weiter . . .
Helmut Schmidt und Lee Kuan Yew über Weltpolitik
Sie kennen sich seit Jahrzehnten: Henry Kissinger und George Shultz, Lee Kuan Yew und Helmut Schmidt, der älteste im Klub dieser Neunzigjährigen, sind im Gespräch, seit sie in der großen Politik mitgemischt haben. Er habe viele Freunde, sagt Kissinger, aber letztlich laufe es immer wieder auf diese drei hinaus: "Die meisten Leute wissen gar nicht, dass diese Gruppe existiert. In diesem Sinne ist sie exklusiv." Jetzt, wo das Alter seinen Tribut fordert, treten sie ihre letzten Reisen an. Im Mai 2012 hat Schmidt noch einmal langjährige Weggefährten in China und Singapur besucht. Sein dreitägiges Gespräch mit Lee Kuan Yew, der über 30 Jahre Premierminister Singapurs gewesen ist, wurde aufgezeichnet. Nun unterhält sich Schmidt nicht das erste Mal öffentlich über Gott und die Welt. Neues wird man also, von Nuancen abgesehen ("Abends lese ich neuerdings Shakespeare"), nicht erwarten dürfen.
Die Plaudereien beziehen ihren Reiz aus dem Spannungsverhältnis, das durch den jeweiligen Partner erzeugt wird. Schmidt und Lee bieten eine Tour d'horizon durch Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Weltpolitik. Dass den beiden China als roter Faden dient, hat nicht nur mit dem Reiseziel des Deutschen zu tun. Vielmehr ist es so, dass Schmidt und Lee die Öffnung der Volksrepublik auf die eine oder andere Weise auch aktiv begleitet beziehungsweise mitgestaltet haben. Erst jüngst hat Kissinger, der dabei eine Schlüsselrolle spielte, in einer monumentalen Darstellung Chinas davon berichtet. Jetzt erfahren wir von Schmidt, dass er es gewesen ist, der Kanzler Brandt 1972 "gedrängt" hat, diplomatische Beziehungen zum Reich der Mitte aufzunehmen, was so bislang nicht aktenkundig war. Im Übrigen teilen Schmidt und Lee den hohen Respekt Kissingers für Deng Xiaoping, den Mann, der trotz vieler persönlicher Rückschläge und Demütigungen die Kraft aufbrachte, China aus den finsteren Zeiten der Ära Mao Zedongs zu einer Weltwirtschaftsmacht zu führen, die heute vielen das Fürchten lehrt: "Ein Geniestreich", so Schmidt, "war die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen. Damit konnte er Schwerpunkte setzen an Orten, an denen die Reformen am ehesten auf fruchtbaren Boden fielen."
Natürlich treibt die Routiniers die Frage um, wie es weitergeht mit Asien und Europa. Kann der alte Kontinent auf Dauer einem trotz vielfältiger innerer Probleme dynamisch vorwärtsstürmenden China Paroli bieten? Bei Kissinger kommt Europa praktisch nicht mehr vor. Bei Schmidt und Lee ist zwar immer wieder von Europa die Rede, aber optimistisch klingt das nicht. Er betrachte die EU "nicht als Vorbild für die Welt", sagt Lee, sondern als ein "Unternehmen, das durch eine zu schnelle Vergrößerung in Schieflage geraten ist und wahrscheinlich scheitern wird". Schmidt widerspricht dem nicht, ist sich aber "ziemlich sicher", dass Europa auch in Zukunft bei Musik, Literatur und bildender Kunst noch eine "bedeutende Rolle" spielen wird. So gesehen fehlt es ihm, der nach eigenem Gefühl "mit 95 abtreten" wird, "nicht gänzlich an Optimismus".
GREGOR SCHÖLLGEN
Helmut Schmidt: Ein letzter Besuch. Begegnungen mit der Weltmacht China. Gespräch mit Lee Kuan Yew. Siedler Verlag, München 2013. 192 S., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helmut Schmidt und Lee Kuan Yew über Weltpolitik
Sie kennen sich seit Jahrzehnten: Henry Kissinger und George Shultz, Lee Kuan Yew und Helmut Schmidt, der älteste im Klub dieser Neunzigjährigen, sind im Gespräch, seit sie in der großen Politik mitgemischt haben. Er habe viele Freunde, sagt Kissinger, aber letztlich laufe es immer wieder auf diese drei hinaus: "Die meisten Leute wissen gar nicht, dass diese Gruppe existiert. In diesem Sinne ist sie exklusiv." Jetzt, wo das Alter seinen Tribut fordert, treten sie ihre letzten Reisen an. Im Mai 2012 hat Schmidt noch einmal langjährige Weggefährten in China und Singapur besucht. Sein dreitägiges Gespräch mit Lee Kuan Yew, der über 30 Jahre Premierminister Singapurs gewesen ist, wurde aufgezeichnet. Nun unterhält sich Schmidt nicht das erste Mal öffentlich über Gott und die Welt. Neues wird man also, von Nuancen abgesehen ("Abends lese ich neuerdings Shakespeare"), nicht erwarten dürfen.
Die Plaudereien beziehen ihren Reiz aus dem Spannungsverhältnis, das durch den jeweiligen Partner erzeugt wird. Schmidt und Lee bieten eine Tour d'horizon durch Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Weltpolitik. Dass den beiden China als roter Faden dient, hat nicht nur mit dem Reiseziel des Deutschen zu tun. Vielmehr ist es so, dass Schmidt und Lee die Öffnung der Volksrepublik auf die eine oder andere Weise auch aktiv begleitet beziehungsweise mitgestaltet haben. Erst jüngst hat Kissinger, der dabei eine Schlüsselrolle spielte, in einer monumentalen Darstellung Chinas davon berichtet. Jetzt erfahren wir von Schmidt, dass er es gewesen ist, der Kanzler Brandt 1972 "gedrängt" hat, diplomatische Beziehungen zum Reich der Mitte aufzunehmen, was so bislang nicht aktenkundig war. Im Übrigen teilen Schmidt und Lee den hohen Respekt Kissingers für Deng Xiaoping, den Mann, der trotz vieler persönlicher Rückschläge und Demütigungen die Kraft aufbrachte, China aus den finsteren Zeiten der Ära Mao Zedongs zu einer Weltwirtschaftsmacht zu führen, die heute vielen das Fürchten lehrt: "Ein Geniestreich", so Schmidt, "war die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen. Damit konnte er Schwerpunkte setzen an Orten, an denen die Reformen am ehesten auf fruchtbaren Boden fielen."
Natürlich treibt die Routiniers die Frage um, wie es weitergeht mit Asien und Europa. Kann der alte Kontinent auf Dauer einem trotz vielfältiger innerer Probleme dynamisch vorwärtsstürmenden China Paroli bieten? Bei Kissinger kommt Europa praktisch nicht mehr vor. Bei Schmidt und Lee ist zwar immer wieder von Europa die Rede, aber optimistisch klingt das nicht. Er betrachte die EU "nicht als Vorbild für die Welt", sagt Lee, sondern als ein "Unternehmen, das durch eine zu schnelle Vergrößerung in Schieflage geraten ist und wahrscheinlich scheitern wird". Schmidt widerspricht dem nicht, ist sich aber "ziemlich sicher", dass Europa auch in Zukunft bei Musik, Literatur und bildender Kunst noch eine "bedeutende Rolle" spielen wird. So gesehen fehlt es ihm, der nach eigenem Gefühl "mit 95 abtreten" wird, "nicht gänzlich an Optimismus".
GREGOR SCHÖLLGEN
Helmut Schmidt: Ein letzter Besuch. Begegnungen mit der Weltmacht China. Gespräch mit Lee Kuan Yew. Siedler Verlag, München 2013. 192 S., 19,99 [Euro].
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»Ein wichtiges Dokument im Dialog zwischen Ost und West.«
"Der Band ist sowohl eine Lehrstunde in Weltpolitik als auch ein berührend sentimentaler Abschied alter Freunde voneinander." Wiener Zeitung