Die Künstlerin Esther Ray nimmt notgedrungen einen Auftrag für ein sorgfältig gestaltetes, mehrere Hefte umfassendes Familienalbum der Multimillionärin Naomi Duncan an. Diese Scrapbooks sollen ein Überraschungsgeschenk für Naomis Ehemann zu seinem Sechzigsten werden. Die Bedingungen: Esther muss eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben und darf Naomi nur über das mitgelieferte Handy kontaktieren. Sonst würde sie die Überraschung verderben. Während sich Esther durch unzählige Kisten mit Fotos und Erinnerungsfetzen arbeitet, stößt sie auf manche Ungereimtheiten und kann sich diesem Einblick in ein fremdes Leben immer weniger entziehen. Als Naomi schließlich unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, begibt sich Esther auf eine riskante Suche nach der Wahrheit.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von Laura Helena Wurth
Die Kunstwelt scheint ein dankbarer Hintergrund für Geschichten zu sein, die sich mit den Abgründen der menschlichen Natur beschäftigen. In der letzten Zeit sind ein paar Romane mit weiblichen Hauptfiguren erschienen, die etwas mit der Kunstwelt zu tun haben und durchs Leben einer superreichen Elite taumeln. Coco Mellors "Cleopatra and Frankenstein" zum Beispiel, in dem die fragile Hauptfigur eine überdurchschnittlich gut aussehende, aber erfolglose Kunststudentin ist, die mit einem viel älteren, sehr wohlhabenden Mann eine desaströse Liebesgeschichte beginnt. Oder Emma Clines "Die Einladung", in dem die Hauptfigur sich heimlich in die Upper Class in den Hamptons einschleicht, wo die Reichen natürlich Kunst sammeln und vorgeben, sich dafür zu interessieren.
Und nun auch "Ein letztes Geschenk", der zweite Roman der amerikanischen Künstlerin Calla Henkel. Da gerät eine emotional instabile Malerin in die zumindest von finanziellem Unglück verschonte Welt der Superreichen. Die Geschichte beginnt bei einem "Dinner" nach der Ausstellungseröffnung einer Galerie. An diesem Abendessen, eigentlich ein zu banales Wort, weil es um alles andere, aber nicht ums Essen geht, nehmen in erster Linie Käufer und potentielle Käufer teil, denen durch die Anwesenheit einer illustren Gruppe von Menschen die Kaufentscheidung erleichtert werden soll.
Die illustre Runde setzt sich meist aus ein paar Kunstwelt-Nebenfiguren wie Freunden des Künstlers, die selbst Künstler sind, verschiedenen Kunstkritikern und Kuratoren zusammen. Diese Abende sind vielleicht der wichtigste Moment in jenem Reigen, bei dem Kunst für sechsstellige Summen verkauft werden soll. Sie sind aber auch der Ort, an dem ultrareiche Sammler direkt auf Künstler und Galeriemitarbeiter treffen, die teilweise unterhalb der Armutsgrenze leben. Doch man darf sich hier nicht verwirren lassen. Henkel hat, obwohl dieses soziale Biotop ein Nährboden für Machtmissbrauch jeglicher Art ist, keine Abrechnung mit dem Kunstbetrieb geschrieben. Das hier wird ein handfester Psychothriller. Mit brennenden Häusern, gefälschten Identitäten und brutalen Morddrohungen.
Bei so einem "Dinner" in einem schicken New Yorker Restaurant treffen also die sehr reiche Philanthropin Naomi Duncan und die finanziell eher prekär gestellte Ex-Künstlerin, jetzt Kunsthandwerkerin und Buchbinderin Esther Ray aufeinander. Ray, die der Kunstwelt New Yorks den Rücken gekehrt hat, wohnt mit ihrer Lebensgefährtin, ebenfalls Kunsthandwerkerin, zurückgezogen und beschaulich in den Bergen. Die beiden denken darüber nach, ein Kind zu bekommen. Sie scheint zufrieden zu sein, in diesem ruhigen, berechenbaren Leben abseits von Glamour und Geld, das sie immerhin in einem schicken Mid-Century Bungalow mit großer angrenzender Scheune, in der sie ihr Atelier untergebracht hat, verbringt.
An diesem Abend stattet Duncan sie mit einem lukrativen Auftrag aus, dessen genauer Inhalt und dessen Ausmaß sich erst im Verlauf der Geschichte enthüllen. Ray lehnt zunächst ab. Erst als ihre Freundin sie von einem Tag auf den anderen ohne zufriedenstellende Erklärung verlässt und ihr Leben ins Rutschen gerät, nimmt sie den ominösen Auftrag an. Sie soll die gesamte Familiengeschichte der Duncans in Form von allen Dokumenten, die sich angesammelt haben - vom Kassenbeleg bis zur Zahnarztrechnung -, in hübsch gebundenen Heften, sogenannten "Scrapbooks", zusammenfassen. "Scrap" ist der Originaltitel des Romans, was so viel wie Schnipsel, aber auch Schrott bedeuten kann.
Auf 455 Seiten erzählt Henkel ausführlich und doch rasant von dem Unheil, das sich anbahnt und das natürlich auch ausbricht, als Rays Auftraggeberin stirbt und sie darauf beharrt, herauszufinden, was da passiert ist. Dabei erfährt man immer mehr über Esther Rays kompliziertes Innenleben, ihre Vergangenheit und ihr krankhaft glühendes Verlangen nach Gerechtigkeit. Als Nebengeschichte und in Rückblenden schildert Henkel das frühere Leben ihrer Protagonistin in einer wohlhabenden Welt, in der die Kunst als reine Dekoration über dem Esstisch von Waffenhändlern und Diktatoren hängt.
Eine Misere, die viele Künstler auch in der Realität kennen. Man muss sich die Frage erst mal leisten können, woher genau das Geld denn stammt, das einem die nächste Miete sichert. Wenn man beispielsweise Bilder malt oder Installationen entwirft, die sich mit der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen beschäftigen, und wenn die dann von Sammlern gekauft werden, deren Vermögen etwa aus der Zeit des Nationalsozialismus kommt, dann gehört finanzielles und moralisches Rückgrat dazu, solche Angebote auszuschlagen. Man braucht das Geld, aber möchte auch kein Feigenblatt sein.
Calla Henkel dürfte diese Kunstwelt gut kennen. Sie arbeitet gemeinsam mit Max Pitegoff erfolgreich als Künstlerin, war 2021 für den Preis der Neuen Nationalgalerie nominiert und hat zuletzt Theaterstücke für den Roten Salon der Berliner Volksbühne geschrieben. Ihre künstlerische Arbeit wird von der renommierten Galerie Isabella Bortolozzi vertreten, und sie hat sicher schon dem ein oder anderen Galeriedinner beigewohnt. Mittlerweile haben Henkel und Pitegoff Berlin verlassen und in Los Angeles das "New Theatre Hollywood" eröffnet, in dem sie Theaterstücke inszenieren und Performances entwickeln.
Deswegen könnte man auch einmal fragen, ob dieser Roman nur nach literarischen Kriterien beurteilen werden sollte, oder ob es noch einen anderen Zugang zu der Geschichte gibt. Literarisch betrachtet, ist das Buch ein klug strukturierter, an manchen Stellen vielleicht etwas zu sehr ausgeschmückter Thriller, der sich in einem Rutsch durchlesen lässt. Henkels erster Roman "Ruhm für eine Nacht" (2022) war ähnlich gebaut. Da verloren sich zwei amerikanische Kunststudentinnen in Berlin in einem perfiden psychologischen Spiel, bei dem am Ende niemand mehr die Wahrheit kannte. Calla Henkels Geschichten sind spannend und, ja, sexy, haben aber wenig mit dem gemeinsam, was im deutschen Diskurs als große Literatur gefeiert wird.
Wenn man die beiden Romane jedoch als Teil von Calla Henkels größerem künstlerischem Werk sehen möchte, dann ist diese besondere Art der Niedrigschwelligkeit wohl genau das, was sie nach ihrer Zeit an der Volksbühne erreichen wollte, was vermutlich fast alle Künstler unbedingt erreichen wollen: möglichst viele Menschen.
In ihren Romanen entwickelt Henkel Bilder, die von viel mehr Menschen wahrgenommen werden als ein Theaterstück, das sie für die Volksbühne schreibt, deren Besucherstamm vergleichsweise klein ist, oder als eine ihrer Videoarbeiten in einer Ausstellung. Indem sie sich im Genre des Thrillers, den man am Flughafen schnell noch kauft, versucht, verwischt sie die Grenzen zwischen dem, was noch immer hartnäckig als "high" und "low" bezeichnet wird.
In diesem Zwischenraum, zwischen institutionalisierter Kunst, an der ein Betrieb und ein Markt hängen, und dem, was einfach so passiert, ohne dass es einen Verwertungsdruck gibt, befand sich auch die TV-Bar, die Calla Henkel bis 2023 mit Max Pitegoff in Berlin betrieb. Es war eine Bar, in der man einfach in Ruhe einen Drink zu sich nehmen konnte, aber es war auch das Set für Film- und Kunstprojekte oder die Bühne für Performances. Und im normalen Barbetrieb stellte sich dann immer wieder die Frage, was dabei nun Performance war und was nicht.
Wie Detektive oder Kriminalbeamte haben Henkel und Pitegoff die zurückgelassenen Gläser, aber auch die angelaufenen Aktenhüllen aus früher durchsichtigem Plastik vor einem schwarzem Hintergrund wie die Beweisstücke in einem Mordfall in Szene gesetzt und in einer Galerie ausgestellt. Wie unsicher die Geschichten sind, die uns Bilder und Objekte erzählen, damit spielt auch der Roman.
Übelgelaunt und manchmal geradezu slapstickhaft kommt Esther Ray, die unzuverlässige Erzählerin, immer wieder zu den falschen Schlüssen, wenn sie versucht, über Instagram und das Internet Details aus dem Leben ihrer Auftraggeberin herauszufinden. "Ein letztes Geschenk" ist auch ein Roman darüber, wer die Hoheit über die Erzählung seiner Geschichte hat. Und ob es überhaupt so etwas gibt wie die ganz eigene Erzählung, wenn man als Mensch doch ständig in Gemeinschaft lebt und damit die eigene auch immer die Geschichte der anderen ist.
Das alles kann man, wenn man will, in dieses Buch hineinlesen und den Roman einordnen in das größere künstlerische Werk Henkels. Doch auch wenn man darauf verzichtet, hat man immer noch einen höchst unterhaltsamen, spitzzüngigen und gleichzeitig komischen Thriller gelesen, der hoffentlich nicht der letzte Roman von Calla Henkel war. Genug Stoff für weitere Gruselgeschichten hält der Kunstbetrieb noch bereit.
Calla Henkel: "Ein letztes Geschenk". Roman. Aus dem Englischen von Verena Kilchling, Verlag Kein & Aber, 455 Seiten, 25 Euro.
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