Die Luxus-Badeorte der reichen Ägypter am Roten Meer und die Armenviertel der Metropole Kairo, die Siedlungen der Fellachen am Nil und die einstmals glänzende Hafenstadt Port Said sind nur einige der Stationen, die Asiem El Difraoui auf seinen Reisen durch Ägypten besucht hat - immer auf der Suche nach den Menschen hinter den Nachrichten: Wer begreifen will, warum Ägypten nicht zur Ruhe kommt, muss die gesellschaftlichen Fliehkräfte verstehen lernen. Wenig haben weltliche Revolutionäre, Salafisten, Frauenrechtsaktivistinnen, Nubier, Kopten und Beduinen gemeinsam - außer dass sie für Bevölkerungsgruppen stehen, die erstmals ihre Rechte fordern. In der Zeit nach dem Sturz Husni Mubaraks bot sich eine historische Gelegenheit: Zum ersten Mal sprachen die Menschen offen über ihre Hoffnungen, Sorgen und Erwartungen. Asiem El Difraouis politischer Reisebericht liefert den Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Situation. Nicht nur der Westen fragt sich, wohin Ägypten treibt; auch für die arabische Welt sind die Entwicklungen am Nil wegweisend. Wird der Freiheitswille irgendwann in eine Demokratie münden? Oder wird sich eine neue Diktatur etablieren? Fest steht nur: Ägyptens Vielfalt bedeutet Chance und Gefahr zugleich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2014Ägypten nach der Begeisterung
Zwei deutschsprachige Publikationen erklären die Arabellion im Jahr drei
In Ägypten ist die Begeisterung verflogen, die mit den volksfestartigen Protesten auf dem Tahrir-Platz verbunden war. Zweimal hat das Militär geputscht: Am 11. Februar 2011 setzte es Präsident Husni Mubarak ab; danach versagte zunächst die Regierung der Generäle, die der Muslimbrüder war nicht besser. Am 3. Juli 2013 putschte das Militär gegen den islamistischen Präsidenten Muhammad Mursi, und umgehend führte es den alten Polizeistaat wieder ein. Nicht erfüllt hat sich der Traum vieler Ägypter von einer modernen toleranten Gesellschaft, von einer funktionierenden Demokratie, von sozialer Gerechtigkeit. Die alte Elite ist zurück: das Militär und der Sicherheitsapparat also, die Spitzen der Justiz und der Bürokratie, Unternehmer, die kooptiert werden und das System stabilisieren sollen. Sie alle sperren sich gegen einen Wandel. Denn er wäre nicht in ihrem Interesse.
Ägypten kommt nicht zur Ruhe. Zu Beginn des Jahres 2011 hatten die Ägypter (und auch die Welt) geglaubt, sie seien ein Volk, das sein Schicksal in die Hand nehme. Heute stellen sie fest: "Wir sind ein Volk, das sich nicht kennt." So schreibt es der ägyptische Politologe und Dokumentarfilmer Asiem El Difraoui. Unter der Bleiglocke der Diktatur seien ja fast alle gesellschaftlichen, sozialen, politischen, religiösen und ethnischen Gruppen unterdrückt worden, und deshalb habe man sich ja nicht kennenlernen können, schreibt er.
Bei seinen Streifzügen durch Ägypten trifft Difraoui auf einen Filmemacher, der sagt: "Die Salafisten konnten sich nicht vorstellen, dass es so viele Anhänger eines weltlichen Staates gibt - die säkularen Ägypter wiederum waren über die Anzahl der Salafisten verblüfft. Den Anhängern des Mubarak-Regimes war wiederum nicht klar, dass sie so verhasst waren." Er fährt fort mit den Fehleinschätzungen aller anderen - der Muslimbrüder, der Armee, der Polizisten. Und er wundert sich nicht länger über den ständig zu hörenden Satz: "Das ist ein Ägypten, das wir nicht kennen."
Difraoui beobachtet in den übervölkerten Armenvierteln Kairos Ägypter, die zwar beim Beten Ruhe und inneren Frieden finden, die aber dennoch den Muslimbrüdern keine zweite Chance geben würden. In den Siedlungen der Reichen trifft er auf eine säkulare Elite, die sich vor den sozialen Realitäten des Landes flüchtet und sich, so Difraoui, in einer kolonialen Geringschätzung des Volkes gefalle. Die Lektüre seiner 14 reportagehaften Streifzüge ernüchtert: Eine Bereitschaft zu Dialog und Konsens, um die fast unlösbaren Probleme Ägyptens anzugehen, ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen.
Was El Difraoui anschaulich schildert, analysieren junge deutsche Wissenschaftler um Holger Albrecht (American University Cairo) und Thomas Demmelhuber (Universität Hildesheim) mit akademischer Präzision. Ihr Befund ist ebenfalls nicht ermutigend. Tief verliefen die Gräben durch die Gesellschaft, hochgradig politisiert sei die Armee als Gründungsinstitution der Republik, schreibt Albrecht. Statt konstruktiven "policy making" begnüge sie sich mit einer Vetopolitik. Weder institutionell noch intellektuell könne die Armee ideologische Kernideen in Politik umsetzen. Der "tiefe Staat" (also die Dominanz von Sicherheitsfragen bei einer gleichzeitigen Durchlässigkeit von Militär und Bürokratie) sowie das Festhalten der Armee an ihrem Wirtschaftsimperium seien verantwortlich dafür, dass es in Ägypten keine demokratische Transition gebe, sondern eine autoritäre Transformation.
Für das Militär hat oberste Priorität, eine autonome Institution zu bleiben und sich nicht der Politik unterstellen zu müssen. Demmelhuber schildert, wie sich Präsident Sadat (1970 bis 1981) mit dem Aufbau eines Wirtschaftsimperiums vom Militär die Billigung der Zivilisierung des Herrschaftsgefüges erkaufte; die neue privatwirtschaftliche Unternehmerelite unterstellte sich den Machtzentren des Staats. Husni Mubarak (1981 bis 2011) ließ dann aber zu, dass sich Unternehmer unter Führung seines Sohnes Gamal als ein horizontales Machtzentrum etablierten, das zunehmend die Reformagenda bestimmte. Mubaraks Sturz soll die Unternehmer wieder in eine vertikale Beziehung zur Kernelite versetzen.
Der Beitrag des viel zu früh verstorbenen Christoph Schumann lässt erahnen, wie schwierig es sein wird, eine Republik wie die ägyptische zu reformieren: Sie entstand 1952 mit einem Staatsstreich, sie richtete zur Durchsetzung der panarabischen Ideologie einen starken Staat mit Notstandsgesetzen ein, sie reduzierte die Bedeutung des "Volks" auf dessen Mobilisierung für den starken Mann, und sie ließ parasitäre Eliten gedeihen. Ivesa Lübbens Studie über die Muslimbrüder skizziert, wie sich die Islamisten zuletzt stets in die große gesellschaftliche Protestströmung eingefügt hatten. Deutlich wird, dass sie sich keineswegs auf islamistische Positionen reduzieren lassen, dass sie genauso illiberal sind wie alle anderen großen Gruppen. Für die Zukunft Ägyptens verheißt das wenig Gutes.
RAINER HERMANN.
Asiem El Difraoui: Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Aufruhr. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2013, 261 Seiten.
Holger Albrecht und Thomas Demmelhuber (Herausgeber): Revolution und Regimewandel in Ägypten. Nomos Verlag, Baden-Baden 2013, 282 Seiten.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei deutschsprachige Publikationen erklären die Arabellion im Jahr drei
In Ägypten ist die Begeisterung verflogen, die mit den volksfestartigen Protesten auf dem Tahrir-Platz verbunden war. Zweimal hat das Militär geputscht: Am 11. Februar 2011 setzte es Präsident Husni Mubarak ab; danach versagte zunächst die Regierung der Generäle, die der Muslimbrüder war nicht besser. Am 3. Juli 2013 putschte das Militär gegen den islamistischen Präsidenten Muhammad Mursi, und umgehend führte es den alten Polizeistaat wieder ein. Nicht erfüllt hat sich der Traum vieler Ägypter von einer modernen toleranten Gesellschaft, von einer funktionierenden Demokratie, von sozialer Gerechtigkeit. Die alte Elite ist zurück: das Militär und der Sicherheitsapparat also, die Spitzen der Justiz und der Bürokratie, Unternehmer, die kooptiert werden und das System stabilisieren sollen. Sie alle sperren sich gegen einen Wandel. Denn er wäre nicht in ihrem Interesse.
Ägypten kommt nicht zur Ruhe. Zu Beginn des Jahres 2011 hatten die Ägypter (und auch die Welt) geglaubt, sie seien ein Volk, das sein Schicksal in die Hand nehme. Heute stellen sie fest: "Wir sind ein Volk, das sich nicht kennt." So schreibt es der ägyptische Politologe und Dokumentarfilmer Asiem El Difraoui. Unter der Bleiglocke der Diktatur seien ja fast alle gesellschaftlichen, sozialen, politischen, religiösen und ethnischen Gruppen unterdrückt worden, und deshalb habe man sich ja nicht kennenlernen können, schreibt er.
Bei seinen Streifzügen durch Ägypten trifft Difraoui auf einen Filmemacher, der sagt: "Die Salafisten konnten sich nicht vorstellen, dass es so viele Anhänger eines weltlichen Staates gibt - die säkularen Ägypter wiederum waren über die Anzahl der Salafisten verblüfft. Den Anhängern des Mubarak-Regimes war wiederum nicht klar, dass sie so verhasst waren." Er fährt fort mit den Fehleinschätzungen aller anderen - der Muslimbrüder, der Armee, der Polizisten. Und er wundert sich nicht länger über den ständig zu hörenden Satz: "Das ist ein Ägypten, das wir nicht kennen."
Difraoui beobachtet in den übervölkerten Armenvierteln Kairos Ägypter, die zwar beim Beten Ruhe und inneren Frieden finden, die aber dennoch den Muslimbrüdern keine zweite Chance geben würden. In den Siedlungen der Reichen trifft er auf eine säkulare Elite, die sich vor den sozialen Realitäten des Landes flüchtet und sich, so Difraoui, in einer kolonialen Geringschätzung des Volkes gefalle. Die Lektüre seiner 14 reportagehaften Streifzüge ernüchtert: Eine Bereitschaft zu Dialog und Konsens, um die fast unlösbaren Probleme Ägyptens anzugehen, ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen.
Was El Difraoui anschaulich schildert, analysieren junge deutsche Wissenschaftler um Holger Albrecht (American University Cairo) und Thomas Demmelhuber (Universität Hildesheim) mit akademischer Präzision. Ihr Befund ist ebenfalls nicht ermutigend. Tief verliefen die Gräben durch die Gesellschaft, hochgradig politisiert sei die Armee als Gründungsinstitution der Republik, schreibt Albrecht. Statt konstruktiven "policy making" begnüge sie sich mit einer Vetopolitik. Weder institutionell noch intellektuell könne die Armee ideologische Kernideen in Politik umsetzen. Der "tiefe Staat" (also die Dominanz von Sicherheitsfragen bei einer gleichzeitigen Durchlässigkeit von Militär und Bürokratie) sowie das Festhalten der Armee an ihrem Wirtschaftsimperium seien verantwortlich dafür, dass es in Ägypten keine demokratische Transition gebe, sondern eine autoritäre Transformation.
Für das Militär hat oberste Priorität, eine autonome Institution zu bleiben und sich nicht der Politik unterstellen zu müssen. Demmelhuber schildert, wie sich Präsident Sadat (1970 bis 1981) mit dem Aufbau eines Wirtschaftsimperiums vom Militär die Billigung der Zivilisierung des Herrschaftsgefüges erkaufte; die neue privatwirtschaftliche Unternehmerelite unterstellte sich den Machtzentren des Staats. Husni Mubarak (1981 bis 2011) ließ dann aber zu, dass sich Unternehmer unter Führung seines Sohnes Gamal als ein horizontales Machtzentrum etablierten, das zunehmend die Reformagenda bestimmte. Mubaraks Sturz soll die Unternehmer wieder in eine vertikale Beziehung zur Kernelite versetzen.
Der Beitrag des viel zu früh verstorbenen Christoph Schumann lässt erahnen, wie schwierig es sein wird, eine Republik wie die ägyptische zu reformieren: Sie entstand 1952 mit einem Staatsstreich, sie richtete zur Durchsetzung der panarabischen Ideologie einen starken Staat mit Notstandsgesetzen ein, sie reduzierte die Bedeutung des "Volks" auf dessen Mobilisierung für den starken Mann, und sie ließ parasitäre Eliten gedeihen. Ivesa Lübbens Studie über die Muslimbrüder skizziert, wie sich die Islamisten zuletzt stets in die große gesellschaftliche Protestströmung eingefügt hatten. Deutlich wird, dass sie sich keineswegs auf islamistische Positionen reduzieren lassen, dass sie genauso illiberal sind wie alle anderen großen Gruppen. Für die Zukunft Ägyptens verheißt das wenig Gutes.
RAINER HERMANN.
Asiem El Difraoui: Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Aufruhr. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2013, 261 Seiten.
Holger Albrecht und Thomas Demmelhuber (Herausgeber): Revolution und Regimewandel in Ägypten. Nomos Verlag, Baden-Baden 2013, 282 Seiten.
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