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"Ein russischer Roman": Emmanuel Carrère sucht nach seinem Großvater, Sexabenteuern und der Erlösung
Er ist ein Raubtier, gefährlich, gemein, ohne menschliche Züge. Nein, einen hat er: Narzissmus. Ein selbstverliebtes Ungeheuer ist er - der Nicht-Held von Emmanuel Carrère im "Russischen Roman". Sein Name? Emmanuel Carrère. Es ist ein autobiographischer Roman, das steht auf dem Umschlag. In einem Zug beginnt die Geschichte: Der Ich-Erzähler, dieses Raubtier, reist nach Kotelnitsch, einer Nicht-Stadt in Russland. Dort leben Versager, Vergessene. Carrère will einen Film drehen über einen Ungarn, einen Kollaborateur, der 1944 verschwunden ist und den man fünf Jahrzehnte später in einer Klink Kotelnitschs entdeckte, in der Psychiatrie. Aber um diesen stummen Alten geht es Carrère nicht, ihm geht es nur um sich selbst. Er benutzt seine Reise, seine Begleiter und die Bewohner der Stadt. Denn er, der Schriftsteller, der satt ist vom Pariser Leben, will Abwechslung. Das schreibt Carrère in einer Sprache, die intensiv ist, berauschend, weil sie ihn selbst so entblößt. Vielleicht nicht den Schriftsteller Emmanuel Carrère, doch seinen Erzähler, einen Menschen, der sich für andere und anderes nicht interessiert. Er ist so bösartig und so narzisstisch, dass er den Leser nicht loslässt. Ja, man fängt an, das Raubtier zu lieben.
Dieses Raubtier versucht, selbst zu lieben, Sophie zu lieben. An sie denkt Carrère immer wieder, erzählt von der Beziehung. Um Sophie seine Liebe zu beweisen, schreibt er für "Le Monde" eine Erzählung, es ist ein Brief an die Geliebte. Im Zug nach La Rochelle soll sie ihn am Erscheinungstag lesen, das befiehlt Carrère seiner Freundin. Und in dem Brief befiehlt er ihr weiter: Während sie liest, soll Sophie masturbieren. Er befiehlt allen Frauen, die zufällig im Zug sind und seinen Brief lesen, sich vorzustellen, selbst Sophie zu sein und sich selbst zu befriedigen. Diese Erzählung ist pornographisch und ist brillant, aber nicht brillant-pornographisch. Nein, brillant-literarisch, denn sie konstruiert einen Spannungsbogen und zeigt nochmals, dass Carrère ungeheuerlich ist, dass er herrschen will und beherrschen.
Sein größter Wunsch aber ist es, sich selbst zu erlösen. Denn die Unfähigkeit zu lieben, sein Elend, verantwortet Carrères Familiengeschichte, das glaubt Carrère. Es ist die dritte Ebene in diesem Buch. Carrères Großvater ist wie der Ungar verschwunden im Jahr 1944, auch er kollaborierte mit Deutschen. Doch über ihn herrscht Schweigen, weil Scham herrscht. Die Mutter des Ungeheuer-Ichs bittet es immer wieder, nichts über ihren Vater zu schreiben. Für Carrère ist das unmöglich. Er reist noch mal nach Russland, dreht noch einen Film, schreibt über seinen Großvater. Er glaubt, er rette sich dadurch. Doch kann Kunst einen Therapeuten spielen? Kann sie erlösen? Vielleicht nicht den Schriftsteller selbst, auf jeden Fall aber den Leser. Denn wenn Romane groß sind und wahrhaft, dann sind sie fähig, im Kopf und im Herzen zu klirren und zu erschüttern. Dann, nach dem Lesen, sieht man die Welt, das Leben anders als vorher. Und das zeigt Carrère, zeigt sein Roman.
Anna Prizkau
Emmanuel Carrère: "Ein russischer Roman". Matthes & Seitz, 282 Seiten, 22 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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