"Mir stand beim Lesen oft der Mund offen, und jetzt, wo ich fertig bin, steht er mir immer noch offen. Das ist wie ein Mythos der Alten Griechen, in die Moderne gebeamt (und nach Niendorf)." Ulrich Matthes Das neue Buch von Heinz Strunk erzählt eine Art norddeutsches «Tod in Venedig», nur sind die Verlockungen weniger feiner Art als seinerzeit beim Kollegen aus Lübeck. Ein bürgerlicher Held, ein Jurist und Schriftsteller namens Roth, begibt sich für eine längere Auszeit nach Niendorf: Er will ein wichtiges Buch schreiben, eine Abrechnung mit seiner Familie. Am mit Bedacht gewählten Ort - im kleinbürgerlichen Ostseebad wird er seinesgleichen nicht so leicht über den Weg laufen - gerät er aber bald in die Fänge eines trotz seiner penetranten Banalität dämonischen Geists: ein Strandkorbverleiher, der Mann ist außerdem Besitzer des örtlichen Spirituosengeschäfts. Aus Befremden und Belästigtsein wird nach und nach Zufallsgemeinschaft und irgendwann Notwendigkeit. Als Dritte stößt die Freundin des Schnapshändlers hinzu, in jeder Hinsicht eine Nicht-Traumfrau - eigentlich. Und am Ende dieser Sommergeschichte ist Roth seiner alten Welt komplett abhandengekommen, ist er ein ganz anderer ... Seine Romane «Es ist immer so schön mit dir» und «Ein Sommer in Niendorf» waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Stefan Michalzik kann sich beim Lesen von Heinz Strunks "Sommer in Niendorf" durchaus amüsieren. Strunk erzählt darin von dem Sommerurlaub des geschiedenen Wirtschaftsanwalts Roth in Niendorf an der Ostsee, wo er einen dokumentarischen Thriller über seine Familiengeschichte schreiben möchte, der bereits aufgrund der lokalen literaturhistorischen Konkurrenz zum Scheitern verurteilt ist, erklärt Michalzik. Das alles erzählt Strunk mit wenigen, klaren Worten, die das von ihm gut beobachtete Umfeld für den Rezensenten sehr plastisch werden lassen. Dieses Buch hat es wirklich verdient, auf der Longlist des Deutschen Buchpreises platziert zu werden, auch wegen der stets überraschenden "literarischen Obsession" Strunks, schließt Michalzik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.06.2022Ganz unten
in Niendorf
Heinz Strunks sommerliche Horrorversion
eines großen literarischen Vorbildes
VON ERIKA THOMALLA
Die Erwartungen könnten kaum höher sein. Als eine „Art norddeutsches ,Tod in Venedig’“ kündigte der Rowohlt-Verlag Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“ an. Die Verbindung mit Thomas Manns berühmter Novelle, in der ein erfolgreicher, asketisch lebender Schriftsteller nach Venedig reist, dort der Schönheit des jungen Tadzio verfällt und schließlich an der Cholera stirbt, kann allerdings nur ironisch verstanden werden. Denn Strunks Roman ist in mehr als einer Hinsicht das exakte Gegenteil eines Thomas-Mann-Stoffs.
Roth, der Protagonist von „Ein Sommer in Niendorf“, ist kein Schriftsteller, möchte aber einer werden. Er hat sich eine dreimonatige Auszeit von seinem Beruf als Anwalt genommen, um in jenem Ostseebad, in dem zu Beginn der 1950er-Jahre die Gruppe 47 tagte, aus seiner Familiengeschichte einen Bestseller zu machen: „Buch, Hörbuch, E-Book, Podcast, vielleicht findet sich sogar jemand, der den Stoff verfilmt. Netflix oder Amazon Prime oder RTL+ oder Disney+.“ Er imaginiert sich bereits als „Starautor auf ausverkaufter Lesereise, an dessen Lippen allabendlich Hunderte (Tausende) von Menschen hängen“.
Doch mit dem Schreiben will es in Niendorf nicht richtig klappen. Das liegt nicht nur daran, dass sich die Tonbänder, die Roth täglich abhört, als ungeeignetes Material erweisen, sondern hängt vor allem mit den Begegnungen zusammen, die er dort macht. Anstelle des Geists der Gruppe 47 findet Roth in Niendorf bloß Hässlichkeit und soziales Elend. Er geht eine eher unfreiwillige Freundschaft mit seinem Vermieter Breda und dessen Freundin Simone ein. Breda, der sich gleichzeitig als Strandkorbvermieter und Spirituosenhändler verdingt, ist das komplette Gegenteil eines schönen, verführerischen jungen Manns – ein Säufer, vulgär, aufdringlich und unansehnlich: „Breda sieht aus wie eine Schnecke, die jemand gegen die Wand geworfen hat (…). Zwischen seinen auf- und zuklappenden Lippen hängt ein Dutzend zitternder Speichelfäden, am Rand seines Weinglases kleben Speichelreste.“ Und auch Simone, deren „Dicksein“ alles andere überschattet, findet Roth durch und durch abstoßend. „Tod in Venedig“ also allenfalls unter verkehrten Vorzeichen und in einer typischen Strunk-Welt: ohne Schönheit, Askese oder Prominenz.
Wie alle Strunk-Romane zeichnet sich „Ein Sommer in Niendorf“ durch einen Sound aus, der klingt, wie unmittelbar aus Reality-TV-Sendungen, in Absturzkneipen oder an Autobahnraststätten mitgeschnitten. Einige Szenen haben eher den Charakter von Nebengeräuschen, die zufällig im Roman gelandet zu sein scheinen. Doch gerade wenn die Geschichte durch solche dialogischen Episoden unterbrochen wird, erkennt man die Qualität von Strunks Schreiben: sein protokollarisches Verhältnis zur Alltagswirklichkeit. Seine Kunst besteht darin, die verkommensten und trostlosesten Milieus realistisch nachzuzeichnen, ohne sich über sie zu erheben oder sie zu parodieren. Im Gegenteil erweisen sich oft gerade Figuren, die sich für moralisch und intellektuell überlegen halten, als die eigentlich verkorksten.
So verhält es sich bei Roth, der im Maßanzug nach Niendorf reist, stolz darauf ist, noch nie in seinem Leben einen Döner gegessen zu haben und für seinen Vermieter anfangs nichts als Herablassung übrig hat: Breda ist für ihn ein „abgerissenes Viech“, ein „Freak“, „eine dumme Sau, lallend, spuckend, sich in die Hose pissend, ein Penner“. Doch je länger sein Aufenthalt an der Ostsee dauert, desto mehr zeigt sich, dass Roth in der Welt des sozialen Elends, das er verachtet, alles andere als ein Außenseiter ist: Er trinkt so viel, dass er das Bewusstsein verliert, fällt in Hundekot, reißt sich die Hose auf, spannt einer jungen Kellnerin hinterher, begeht Fahrerflucht, belügt seine bankrotte Tochter, der er kein Geld leihen möchte, und schlägt seiner Ex-Frau im Streit ins Gesicht. Alle seine Beziehungen erweisen sich als dysfunktional. Nach und nach reift die Überzeugung in ihm, dass der „treue“ Breda und die „liebe“ Simone die einzigen Personen auf der Welt sind, die an ihn denken und sich um ihn kümmern.
Als sich der Aufenthalt dem Ende zuneigt, hat sich etwas verändert. Roth ist seiner ursprünglichen Welt entfremdet und weiß „nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden“. Die Rückkehr in seinen Arbeitsalltag erscheint ihm unmöglich. Nachdem er seinen Aufenthalt zunächst um eine Woche verlängert hat, deutet sich an, dass er den Badeort möglicherweise nie wieder verlassen wird.
Mit dieser Wendung ist die Reminiszenz an eine weitere Thomas-Mann-Erzählung verbunden: den Roman „Der Zauberberg“, aus dem Roths verstorbener Vater, wie man beiläufig erfährt, „wörtlich zu zitieren vermochte“. Auch in diesem Fall handelt es sich allerdings eher um ein Zerrbild als um eine Nachahmung. Während Hans Castorp, der Protagonist des „Zauberbergs“, seinen ursprünglich für drei Wochen geplanten Aufenthalt in einem Davoser Luxus-Sanatorium auf sieben Jahre ausdehnt, bleibt Roth einem „Zementhaufen“ mit „Siebzigerjahre-Schrottarchitektur“ verhaftet.
Statt wie Castorp durch die Faszination für einen weltgewandten, gebildeten Mentor und die Liebe zu einer zarten, faszinierenden Frau an den Ort gebunden zu werden, verfällt Roth dem „übergriffigen“ Alkoholiker Breda und der gefühligen, adipösen Simone. Mehr noch: Als Breda krank wird und schließlich stirbt, übernimmt Roth dessen Jobs und dessen Freundin. Die Pointe liegt darin, dass das, was äußerlich den Eindruck einer sozialen Abstiegsgeschichte macht, nicht zur Katastrophe, sondern zur Befreiung führt. In der kaputten Welt von Niendorf findet Roth sein Glück. Der „Tod in Niendorf“ ist, weil hier im Gegensatz zu Manns „Tod in Venedig“ der Andere stirbt, die Geschichte einer geglückten Substitution: Roth ist Breda geworden.
Was vielleicht aussehen mag wie
eine Katastrophe, führt
schlussendlich zur Befreiung
Heinz Strunk:
Ein Sommer in Niendorf. Roman. Rowohlt,
Hamburg 2022.
240 Seiten, 20 Euro.
Hochsaison in Niendorf, wo Heinz Strunks Held der Welt abhanden kommt.
Foto: Chris Emil Janssen/imago images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in Niendorf
Heinz Strunks sommerliche Horrorversion
eines großen literarischen Vorbildes
VON ERIKA THOMALLA
Die Erwartungen könnten kaum höher sein. Als eine „Art norddeutsches ,Tod in Venedig’“ kündigte der Rowohlt-Verlag Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“ an. Die Verbindung mit Thomas Manns berühmter Novelle, in der ein erfolgreicher, asketisch lebender Schriftsteller nach Venedig reist, dort der Schönheit des jungen Tadzio verfällt und schließlich an der Cholera stirbt, kann allerdings nur ironisch verstanden werden. Denn Strunks Roman ist in mehr als einer Hinsicht das exakte Gegenteil eines Thomas-Mann-Stoffs.
Roth, der Protagonist von „Ein Sommer in Niendorf“, ist kein Schriftsteller, möchte aber einer werden. Er hat sich eine dreimonatige Auszeit von seinem Beruf als Anwalt genommen, um in jenem Ostseebad, in dem zu Beginn der 1950er-Jahre die Gruppe 47 tagte, aus seiner Familiengeschichte einen Bestseller zu machen: „Buch, Hörbuch, E-Book, Podcast, vielleicht findet sich sogar jemand, der den Stoff verfilmt. Netflix oder Amazon Prime oder RTL+ oder Disney+.“ Er imaginiert sich bereits als „Starautor auf ausverkaufter Lesereise, an dessen Lippen allabendlich Hunderte (Tausende) von Menschen hängen“.
Doch mit dem Schreiben will es in Niendorf nicht richtig klappen. Das liegt nicht nur daran, dass sich die Tonbänder, die Roth täglich abhört, als ungeeignetes Material erweisen, sondern hängt vor allem mit den Begegnungen zusammen, die er dort macht. Anstelle des Geists der Gruppe 47 findet Roth in Niendorf bloß Hässlichkeit und soziales Elend. Er geht eine eher unfreiwillige Freundschaft mit seinem Vermieter Breda und dessen Freundin Simone ein. Breda, der sich gleichzeitig als Strandkorbvermieter und Spirituosenhändler verdingt, ist das komplette Gegenteil eines schönen, verführerischen jungen Manns – ein Säufer, vulgär, aufdringlich und unansehnlich: „Breda sieht aus wie eine Schnecke, die jemand gegen die Wand geworfen hat (…). Zwischen seinen auf- und zuklappenden Lippen hängt ein Dutzend zitternder Speichelfäden, am Rand seines Weinglases kleben Speichelreste.“ Und auch Simone, deren „Dicksein“ alles andere überschattet, findet Roth durch und durch abstoßend. „Tod in Venedig“ also allenfalls unter verkehrten Vorzeichen und in einer typischen Strunk-Welt: ohne Schönheit, Askese oder Prominenz.
Wie alle Strunk-Romane zeichnet sich „Ein Sommer in Niendorf“ durch einen Sound aus, der klingt, wie unmittelbar aus Reality-TV-Sendungen, in Absturzkneipen oder an Autobahnraststätten mitgeschnitten. Einige Szenen haben eher den Charakter von Nebengeräuschen, die zufällig im Roman gelandet zu sein scheinen. Doch gerade wenn die Geschichte durch solche dialogischen Episoden unterbrochen wird, erkennt man die Qualität von Strunks Schreiben: sein protokollarisches Verhältnis zur Alltagswirklichkeit. Seine Kunst besteht darin, die verkommensten und trostlosesten Milieus realistisch nachzuzeichnen, ohne sich über sie zu erheben oder sie zu parodieren. Im Gegenteil erweisen sich oft gerade Figuren, die sich für moralisch und intellektuell überlegen halten, als die eigentlich verkorksten.
So verhält es sich bei Roth, der im Maßanzug nach Niendorf reist, stolz darauf ist, noch nie in seinem Leben einen Döner gegessen zu haben und für seinen Vermieter anfangs nichts als Herablassung übrig hat: Breda ist für ihn ein „abgerissenes Viech“, ein „Freak“, „eine dumme Sau, lallend, spuckend, sich in die Hose pissend, ein Penner“. Doch je länger sein Aufenthalt an der Ostsee dauert, desto mehr zeigt sich, dass Roth in der Welt des sozialen Elends, das er verachtet, alles andere als ein Außenseiter ist: Er trinkt so viel, dass er das Bewusstsein verliert, fällt in Hundekot, reißt sich die Hose auf, spannt einer jungen Kellnerin hinterher, begeht Fahrerflucht, belügt seine bankrotte Tochter, der er kein Geld leihen möchte, und schlägt seiner Ex-Frau im Streit ins Gesicht. Alle seine Beziehungen erweisen sich als dysfunktional. Nach und nach reift die Überzeugung in ihm, dass der „treue“ Breda und die „liebe“ Simone die einzigen Personen auf der Welt sind, die an ihn denken und sich um ihn kümmern.
Als sich der Aufenthalt dem Ende zuneigt, hat sich etwas verändert. Roth ist seiner ursprünglichen Welt entfremdet und weiß „nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden“. Die Rückkehr in seinen Arbeitsalltag erscheint ihm unmöglich. Nachdem er seinen Aufenthalt zunächst um eine Woche verlängert hat, deutet sich an, dass er den Badeort möglicherweise nie wieder verlassen wird.
Mit dieser Wendung ist die Reminiszenz an eine weitere Thomas-Mann-Erzählung verbunden: den Roman „Der Zauberberg“, aus dem Roths verstorbener Vater, wie man beiläufig erfährt, „wörtlich zu zitieren vermochte“. Auch in diesem Fall handelt es sich allerdings eher um ein Zerrbild als um eine Nachahmung. Während Hans Castorp, der Protagonist des „Zauberbergs“, seinen ursprünglich für drei Wochen geplanten Aufenthalt in einem Davoser Luxus-Sanatorium auf sieben Jahre ausdehnt, bleibt Roth einem „Zementhaufen“ mit „Siebzigerjahre-Schrottarchitektur“ verhaftet.
Statt wie Castorp durch die Faszination für einen weltgewandten, gebildeten Mentor und die Liebe zu einer zarten, faszinierenden Frau an den Ort gebunden zu werden, verfällt Roth dem „übergriffigen“ Alkoholiker Breda und der gefühligen, adipösen Simone. Mehr noch: Als Breda krank wird und schließlich stirbt, übernimmt Roth dessen Jobs und dessen Freundin. Die Pointe liegt darin, dass das, was äußerlich den Eindruck einer sozialen Abstiegsgeschichte macht, nicht zur Katastrophe, sondern zur Befreiung führt. In der kaputten Welt von Niendorf findet Roth sein Glück. Der „Tod in Niendorf“ ist, weil hier im Gegensatz zu Manns „Tod in Venedig“ der Andere stirbt, die Geschichte einer geglückten Substitution: Roth ist Breda geworden.
Was vielleicht aussehen mag wie
eine Katastrophe, führt
schlussendlich zur Befreiung
Heinz Strunk:
Ein Sommer in Niendorf. Roman. Rowohlt,
Hamburg 2022.
240 Seiten, 20 Euro.
Hochsaison in Niendorf, wo Heinz Strunks Held der Welt abhanden kommt.
Foto: Chris Emil Janssen/imago images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2022Spaßbremse im noblen Zwirn
Dieser Zauberberg liegt am flachen Strand der Ostsee: Heinz Strunks Roman "Ein Sommer in Niendorf" wagt sich ans Vorbild Thomas Mann - und gewinnt.
Ein nicht einfacher, nicht junger Mensch reist im Sommer nach Niendorf im Schleswig-Holsteinischen. Er fährt für drei Monate. Aber er bleibt (wohl) für den Rest seines Lebens dort. So könnte eine auf das Nötigste beschränkte Zusammenfassung eines zeitgenössischen "Zauberbergs" lauten. Damals, vor nun bald hundert Jahren, las es sich so: "Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen." Das Ende ist bekannt.
Jeder seriöse Romanschriftsteller wird wissen, dass man keinen zweiten "Zauberberg" schreiben kann oder, wenn doch, dann nur, indem man sich vor jeder Imitation hütet, es also ganz anders anfasst, natürlich unter Beibehaltung der Grundidee: Ein Mensch reist . . . Aber warum "kann" man so ohne Weiteres keinen zweiten "Zauberberg" schreiben? Das ist eine Instinktfrage; zu groß ist die Gefahr, prätentiös zu erscheinen, aber sich dann schon beim Handwerklichen zu blamieren. Walter Kempowski scheint das erkannt zu haben, als er sein Schriftsteller-Alter-Ego Alexander Sowtschick in "Hundstage" (1988) einen Roman schreiben lässt, der die unerreichbare Vorbildlichkeit des "Zauberbergs" respektiert: "Diesem gewaltigen Zentralmassiv durfte er nicht zu nahe kommen." Etwas näher rückte ihm dann Thorsten Becker mit seinem gleich die ganze Mann-Familie in den Blick nehmenden, hochrespektablen Roman "Der Untertan steigt auf den Zauberberg". Aber von der Konkurrenz mit einem Roman, der seinerseits schon Parodie und Endstufe des Bildungsromans ist, dazu sprachlich und in seinem Ideengehalt dermaßen hypertroph, lässt man vielleicht doch lieber die Finger.
Es sei denn, man ist Heinz Strunk. Er wagt es und gewinnt. Um nicht missverstanden zu werden: Mit der Erzählweise Thomas Manns hat er wenig am Hut. Sein Stil ist die Nutzanwendung aus der Tatsache, dass die Zeiten dafür vorbei sind. Das schließt Respekt, Bewunderung nicht aus; von Einflussangst ist er aber frei. Er kann sich seine Abneigung gegen (allzu) realistisches, detailreiches oder einfach -verliebtes Erzählen allerdings leisten, weil er sie im Bewusstsein einer bestimmten Zeitgenossenschaft oder Zeitgemäßheit pflegt und dafür etwas anderes auf Lager hat: eine so, in dieser von Buch zu Buch perfektionierten Ökonomie nur bei ihm zu habende Bestandsaufnahme einer seelischen Disposition, die ganz aufs Elend ausgerichtet ist und davon meistens aufgefressen wird.
Sein neuer Roman "Ein Sommer in Niendorf" wurde von Richard Kämmerlings in der "Welt am Sonntag" mit dem "Tod in Venedig" kurzgeschlossen. Das hat viel für sich, erst recht, wenn man bedenkt, dass der "Zauberberg" als "humoristisches Gegenstück" zum "Tod in Venedig" gedacht und als Novelle konzipiert war - wie die Niendorf-Geschichte, die auch erst eine Erzählung war, bis Strunk im vergangenen Sommer, als sein Roman "Es ist immer so schön mit dir" herauskam, gespürt haben muss, dass da mehr drinsteckt - nämlich eine Verfalls- oder Untergangsgeschichte, wie Thomas Mann sie zeit seines Lebens erzählt hat.
Hatte Hans Castorp in der Schweizer Höhenluft eine spektakuläre Steigerung seines von Haus aus eher schlichten Wesens erfahren, so lässt Strunk seinen aktuellen Protagonisten das Gegenteil davon erleiden: einen Abstieg, wie er trostloser kaum vorstellbar scheint. Es ist, in diesem hoffentlich wohlverstandenen Sinne, sein schlimmstes Buch, niederziehend bis dorthinaus. Nun war schon der "Goldene Handschuh" kein Spaß. Doch dieser Roman, für den Strunk den Wilhelm-Raabe-Preis bekam, handelte, auf historisch verbürgter Grundlage, von jemandem, der schon heruntergekommen war, als die Handlung einsetzte, und so gut wie keine Handhabe zur Identifikation bot. Das ist jetzt anders: Roth, ein promovierter Jurist, der sich vor der Übernahme einer neuen Arbeit für drei Monate nach Niendorf, Timmendorfer Strand, in ein Ferienapartment zurückzieht, um dort sowohl auszuspannen als auch die Tonbandaufzeichnungen seines verstorbenen Vaters für eine Familienchronik belletristisch auszuwerten, versackt dort trotz oder wegen bester Vorsätze, ein normales, halbwegs diszipliniertes und produktives Leben zu führen. Er sieht sich schon als den neuen Thomas Mann, aber da ist Breda vor, Apartmentverwalter und Spirituosenladenbetreiber in unheilvoller Personalunion.
Eigentlich braucht man jetzt gar nicht mehr weiterzuerzählen; Strunk ist als Fachmann für Säuferabstürze einschlägig bekannt. Aber diese hier gehen wirklich ins Bodenlose. Natürlich ist die in vertrauten Strunk-Bahnen (Peinlichkeiten und Demütigungen en gros, dazu rasiermesserscharfe Analysen deformierten, buchstäblich aus dem Leim gegangenen Lebens) abgespulte Handlung für sich genommen schon ihr Geld wert. Aber die Konsequenz, mit der sie auf ihr von Beginn an absehbares, in dieser Sang- und Klanglosigkeit jedoch schockierendes Ende zusteuert, ist bemerkenswert - ökonomischer verfuhr Strunk selbst in "Fleisch ist mein Gemüse" nicht.
Doch wie kann diese kondensierte, geschickt raffende Erzählweise eine "Zauberberg"-Geschichte sein? Strunk wird sich nicht bewusst daran ausgerichtet haben. Man darf hier von ganz grundsätzlicher Verwandtschaft im Geistig-Mentalen ausgehen, die aufgrund des zeitlichen Abstands etwas unkenntlich geworden ist. Strunk ist kein Thomas Mann, aber, wie Stifter über Goethe sagte, "von seiner Familie". Das zeigt sich schon in der meisterlichen Figurenzeichnung: "Die Bedienung ist jung, drall, dümmlich, irgendwie unverschämt und lädt zum Träumen ein." Vergleiche: "Fiken Dahlbeck war an die 40, korpulent und frech" ("Buddenbrooks"). Womit wir es zu tun haben, das ist die Konfrontation des Geistes(menschen) mit dem Leben, mit der zur Reflexion nicht aufgelegten Vitalität, die sich bei Strunk indes in einem völlig anderen Milieu zuträgt. Weithin sichtbar wird Thomas Mann in Niendorf als Referenzgröße platziert. Diese Leistungsethiker - es ist Strunks neunter Roman in achtzehn Jahren, alles andere gar nicht mitgerechnet - kennen die Faszination und die Gefahr, die vom Loslassen ausgehen, sonst wären sie keine.
Wollust des Untergangs: Es frappiert, wie sehr sich die seelischen Triebkräfte des "Halb zog es ihn, halb sank er hin" doch gleichen. Beide Helden betreten den Ferienort mit Skepsis; aber die innere Abwehr gegen Land und Leute erweist sich gerade in ihrer vermeintlichen Entschiedenheit als unwirksam. Dabei spart Strunk sich den Aufwand, den Thomas Mann treibt, um Hans Castorps Anfälligkeit für alles geistig Höhere inklusive Krankheit und Tod auch dem Bildungsbürger begreiflich zu machen; sein Held kann schon beim Eintauchen in die ganz und gar ungeistige Sphäre seines Domizils alle Hoffnung fahren lassen.
Die leitmotivisch eingeflochtenen Reminiszenzen an das Niendorfer Treffen der Gruppe 47 vom Mai 1952 dienen mit dem höhnischen, sich lustig machenden Unterton eher dazu, die Distanz nicht zum Geistigen an sich, aber zur vereinsmeierisch organisierten, spätestens aus heutiger Sicht verknöcherten Literatur zu markieren, und das in einem Roman, der an Feinnervigkeit selbst kaum zu überbieten ist. Auch hierin, nicht nur in dem bei diesem Autor notorischen Interesse fürs Schäbig-Heruntergekommene, ja Verkommene, liegt etwas Kühnes. Hier gibt es, wie immer bei Strunk, kein vornehmes Getue; und doch - das muss man erst einmal hinbekommen - scheint durch die bisweilen äußerst drastischen Leidensschilderungen eine eigentümliche Humanität: "Warum nur muss ein Mensch, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, so elend und erschöpft sein?" Nun wäre dies kein Heinz-Strunk-Roman ohne die überragende Komik: "Den Weg über das Brodtener Ufer muss er sich mit Myriaden von Greisenradfahrern teilen. Schrecklich, diese Rentner. Er stellt sich vor, sein Rachen wäre, wie der eines Komodowarans, mit tödlichen Bazillen verseucht. Wenn er einen Rentner bisse, würde er ihm einen kleinen Vorsprung gewähren, die Witterung aufnehmen, ihn verfolgen und schließlich zur Strecke bringen. The Pensioner Biter."
Man könnte versucht sein, das Ende als Idyll zu lesen. Tatsächlich aber kann man nicht tiefer sinken als dieser Roth, der sich schließlich mit Bredas Freundin Simone in einem beschaulichen Leben einrichtet und damit vollends einem Milieu verhaftet bleibt, für das er nur Verachtung übrighat. Sie sind, auf einer Stufe vollendeter Geistlosigkeit und damit spiegelverkehrt, sein Naphta und sein Settembrini, verführerische Einflüsterer, die ihm das nehmen, was Hans Castorp mitbekam: Bildung, Zivilität. So wird aus der "Spaßbremse im noblen Zwirn", die erst noch denkt: "Erfrischend, mit jemandem auf niedrigem Niveau zu verkehren", ein haltloser Trinker, der einen Kater für die Melancholie eines Geistesmenschen hält und bei der schriftstellerischen Arbeit bald gar nicht mehr vorankommt.
Dass wir Roths Vornamen (Georg) an auffällig unauffälliger Stelle erfahren, lädt, wie die sparsamen biographischen Auskünfte, dazu ein, ihn als jedermann, als Verkörperung einer Anfälligkeit für alles Niedere zu begreifen. Hans Castorp erwies sich als ungemein "aufnahmefähig" für den besonderen Genius Loci: "Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustieß, mußtest du's irgend wohl hinter den Ohren haben." Dass nicht jedem jede Geschichte passiert, erfährt auch Roth. Beide kommen uns schließlich aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. EDO REENTS
Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieser Zauberberg liegt am flachen Strand der Ostsee: Heinz Strunks Roman "Ein Sommer in Niendorf" wagt sich ans Vorbild Thomas Mann - und gewinnt.
Ein nicht einfacher, nicht junger Mensch reist im Sommer nach Niendorf im Schleswig-Holsteinischen. Er fährt für drei Monate. Aber er bleibt (wohl) für den Rest seines Lebens dort. So könnte eine auf das Nötigste beschränkte Zusammenfassung eines zeitgenössischen "Zauberbergs" lauten. Damals, vor nun bald hundert Jahren, las es sich so: "Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen." Das Ende ist bekannt.
Jeder seriöse Romanschriftsteller wird wissen, dass man keinen zweiten "Zauberberg" schreiben kann oder, wenn doch, dann nur, indem man sich vor jeder Imitation hütet, es also ganz anders anfasst, natürlich unter Beibehaltung der Grundidee: Ein Mensch reist . . . Aber warum "kann" man so ohne Weiteres keinen zweiten "Zauberberg" schreiben? Das ist eine Instinktfrage; zu groß ist die Gefahr, prätentiös zu erscheinen, aber sich dann schon beim Handwerklichen zu blamieren. Walter Kempowski scheint das erkannt zu haben, als er sein Schriftsteller-Alter-Ego Alexander Sowtschick in "Hundstage" (1988) einen Roman schreiben lässt, der die unerreichbare Vorbildlichkeit des "Zauberbergs" respektiert: "Diesem gewaltigen Zentralmassiv durfte er nicht zu nahe kommen." Etwas näher rückte ihm dann Thorsten Becker mit seinem gleich die ganze Mann-Familie in den Blick nehmenden, hochrespektablen Roman "Der Untertan steigt auf den Zauberberg". Aber von der Konkurrenz mit einem Roman, der seinerseits schon Parodie und Endstufe des Bildungsromans ist, dazu sprachlich und in seinem Ideengehalt dermaßen hypertroph, lässt man vielleicht doch lieber die Finger.
Es sei denn, man ist Heinz Strunk. Er wagt es und gewinnt. Um nicht missverstanden zu werden: Mit der Erzählweise Thomas Manns hat er wenig am Hut. Sein Stil ist die Nutzanwendung aus der Tatsache, dass die Zeiten dafür vorbei sind. Das schließt Respekt, Bewunderung nicht aus; von Einflussangst ist er aber frei. Er kann sich seine Abneigung gegen (allzu) realistisches, detailreiches oder einfach -verliebtes Erzählen allerdings leisten, weil er sie im Bewusstsein einer bestimmten Zeitgenossenschaft oder Zeitgemäßheit pflegt und dafür etwas anderes auf Lager hat: eine so, in dieser von Buch zu Buch perfektionierten Ökonomie nur bei ihm zu habende Bestandsaufnahme einer seelischen Disposition, die ganz aufs Elend ausgerichtet ist und davon meistens aufgefressen wird.
Sein neuer Roman "Ein Sommer in Niendorf" wurde von Richard Kämmerlings in der "Welt am Sonntag" mit dem "Tod in Venedig" kurzgeschlossen. Das hat viel für sich, erst recht, wenn man bedenkt, dass der "Zauberberg" als "humoristisches Gegenstück" zum "Tod in Venedig" gedacht und als Novelle konzipiert war - wie die Niendorf-Geschichte, die auch erst eine Erzählung war, bis Strunk im vergangenen Sommer, als sein Roman "Es ist immer so schön mit dir" herauskam, gespürt haben muss, dass da mehr drinsteckt - nämlich eine Verfalls- oder Untergangsgeschichte, wie Thomas Mann sie zeit seines Lebens erzählt hat.
Hatte Hans Castorp in der Schweizer Höhenluft eine spektakuläre Steigerung seines von Haus aus eher schlichten Wesens erfahren, so lässt Strunk seinen aktuellen Protagonisten das Gegenteil davon erleiden: einen Abstieg, wie er trostloser kaum vorstellbar scheint. Es ist, in diesem hoffentlich wohlverstandenen Sinne, sein schlimmstes Buch, niederziehend bis dorthinaus. Nun war schon der "Goldene Handschuh" kein Spaß. Doch dieser Roman, für den Strunk den Wilhelm-Raabe-Preis bekam, handelte, auf historisch verbürgter Grundlage, von jemandem, der schon heruntergekommen war, als die Handlung einsetzte, und so gut wie keine Handhabe zur Identifikation bot. Das ist jetzt anders: Roth, ein promovierter Jurist, der sich vor der Übernahme einer neuen Arbeit für drei Monate nach Niendorf, Timmendorfer Strand, in ein Ferienapartment zurückzieht, um dort sowohl auszuspannen als auch die Tonbandaufzeichnungen seines verstorbenen Vaters für eine Familienchronik belletristisch auszuwerten, versackt dort trotz oder wegen bester Vorsätze, ein normales, halbwegs diszipliniertes und produktives Leben zu führen. Er sieht sich schon als den neuen Thomas Mann, aber da ist Breda vor, Apartmentverwalter und Spirituosenladenbetreiber in unheilvoller Personalunion.
Eigentlich braucht man jetzt gar nicht mehr weiterzuerzählen; Strunk ist als Fachmann für Säuferabstürze einschlägig bekannt. Aber diese hier gehen wirklich ins Bodenlose. Natürlich ist die in vertrauten Strunk-Bahnen (Peinlichkeiten und Demütigungen en gros, dazu rasiermesserscharfe Analysen deformierten, buchstäblich aus dem Leim gegangenen Lebens) abgespulte Handlung für sich genommen schon ihr Geld wert. Aber die Konsequenz, mit der sie auf ihr von Beginn an absehbares, in dieser Sang- und Klanglosigkeit jedoch schockierendes Ende zusteuert, ist bemerkenswert - ökonomischer verfuhr Strunk selbst in "Fleisch ist mein Gemüse" nicht.
Doch wie kann diese kondensierte, geschickt raffende Erzählweise eine "Zauberberg"-Geschichte sein? Strunk wird sich nicht bewusst daran ausgerichtet haben. Man darf hier von ganz grundsätzlicher Verwandtschaft im Geistig-Mentalen ausgehen, die aufgrund des zeitlichen Abstands etwas unkenntlich geworden ist. Strunk ist kein Thomas Mann, aber, wie Stifter über Goethe sagte, "von seiner Familie". Das zeigt sich schon in der meisterlichen Figurenzeichnung: "Die Bedienung ist jung, drall, dümmlich, irgendwie unverschämt und lädt zum Träumen ein." Vergleiche: "Fiken Dahlbeck war an die 40, korpulent und frech" ("Buddenbrooks"). Womit wir es zu tun haben, das ist die Konfrontation des Geistes(menschen) mit dem Leben, mit der zur Reflexion nicht aufgelegten Vitalität, die sich bei Strunk indes in einem völlig anderen Milieu zuträgt. Weithin sichtbar wird Thomas Mann in Niendorf als Referenzgröße platziert. Diese Leistungsethiker - es ist Strunks neunter Roman in achtzehn Jahren, alles andere gar nicht mitgerechnet - kennen die Faszination und die Gefahr, die vom Loslassen ausgehen, sonst wären sie keine.
Wollust des Untergangs: Es frappiert, wie sehr sich die seelischen Triebkräfte des "Halb zog es ihn, halb sank er hin" doch gleichen. Beide Helden betreten den Ferienort mit Skepsis; aber die innere Abwehr gegen Land und Leute erweist sich gerade in ihrer vermeintlichen Entschiedenheit als unwirksam. Dabei spart Strunk sich den Aufwand, den Thomas Mann treibt, um Hans Castorps Anfälligkeit für alles geistig Höhere inklusive Krankheit und Tod auch dem Bildungsbürger begreiflich zu machen; sein Held kann schon beim Eintauchen in die ganz und gar ungeistige Sphäre seines Domizils alle Hoffnung fahren lassen.
Die leitmotivisch eingeflochtenen Reminiszenzen an das Niendorfer Treffen der Gruppe 47 vom Mai 1952 dienen mit dem höhnischen, sich lustig machenden Unterton eher dazu, die Distanz nicht zum Geistigen an sich, aber zur vereinsmeierisch organisierten, spätestens aus heutiger Sicht verknöcherten Literatur zu markieren, und das in einem Roman, der an Feinnervigkeit selbst kaum zu überbieten ist. Auch hierin, nicht nur in dem bei diesem Autor notorischen Interesse fürs Schäbig-Heruntergekommene, ja Verkommene, liegt etwas Kühnes. Hier gibt es, wie immer bei Strunk, kein vornehmes Getue; und doch - das muss man erst einmal hinbekommen - scheint durch die bisweilen äußerst drastischen Leidensschilderungen eine eigentümliche Humanität: "Warum nur muss ein Mensch, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, so elend und erschöpft sein?" Nun wäre dies kein Heinz-Strunk-Roman ohne die überragende Komik: "Den Weg über das Brodtener Ufer muss er sich mit Myriaden von Greisenradfahrern teilen. Schrecklich, diese Rentner. Er stellt sich vor, sein Rachen wäre, wie der eines Komodowarans, mit tödlichen Bazillen verseucht. Wenn er einen Rentner bisse, würde er ihm einen kleinen Vorsprung gewähren, die Witterung aufnehmen, ihn verfolgen und schließlich zur Strecke bringen. The Pensioner Biter."
Man könnte versucht sein, das Ende als Idyll zu lesen. Tatsächlich aber kann man nicht tiefer sinken als dieser Roth, der sich schließlich mit Bredas Freundin Simone in einem beschaulichen Leben einrichtet und damit vollends einem Milieu verhaftet bleibt, für das er nur Verachtung übrighat. Sie sind, auf einer Stufe vollendeter Geistlosigkeit und damit spiegelverkehrt, sein Naphta und sein Settembrini, verführerische Einflüsterer, die ihm das nehmen, was Hans Castorp mitbekam: Bildung, Zivilität. So wird aus der "Spaßbremse im noblen Zwirn", die erst noch denkt: "Erfrischend, mit jemandem auf niedrigem Niveau zu verkehren", ein haltloser Trinker, der einen Kater für die Melancholie eines Geistesmenschen hält und bei der schriftstellerischen Arbeit bald gar nicht mehr vorankommt.
Dass wir Roths Vornamen (Georg) an auffällig unauffälliger Stelle erfahren, lädt, wie die sparsamen biographischen Auskünfte, dazu ein, ihn als jedermann, als Verkörperung einer Anfälligkeit für alles Niedere zu begreifen. Hans Castorp erwies sich als ungemein "aufnahmefähig" für den besonderen Genius Loci: "Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustieß, mußtest du's irgend wohl hinter den Ohren haben." Dass nicht jedem jede Geschichte passiert, erfährt auch Roth. Beide kommen uns schließlich aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. EDO REENTS
Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber dann gibt es noch die Bücher von Heinz Strunk, die ich allesamt großartig finde, die mich aber immer wieder kalt erwischen, vollkommen überraschen und etwas wecken, was ich selten in anderen Werken finde. Nicola Bräunling Süddeutsche Zeitung 20221105
Spaßbremse im noblen Zwirn
Dieser Zauberberg liegt am flachen Strand der Ostsee: Heinz Strunks Roman "Ein Sommer in Niendorf" wagt sich ans Vorbild Thomas Mann - und gewinnt.
Ein nicht einfacher, nicht junger Mensch reist im Sommer nach Niendorf im Schleswig-Holsteinischen. Er fährt für drei Monate. Aber er bleibt (wohl) für den Rest seines Lebens dort. So könnte eine auf das Nötigste beschränkte Zusammenfassung eines zeitgenössischen "Zauberbergs" lauten. Damals, vor nun bald hundert Jahren, las es sich so: "Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen." Das Ende ist bekannt.
Jeder seriöse Romanschriftsteller wird wissen, dass man keinen zweiten "Zauberberg" schreiben kann oder, wenn doch, dann nur, indem man sich vor jeder Imitation hütet, es also ganz anders anfasst, natürlich unter Beibehaltung der Grundidee: Ein Mensch reist . . . Aber warum "kann" man so ohne Weiteres keinen zweiten "Zauberberg" schreiben? Das ist eine Instinktfrage; zu groß ist die Gefahr, prätentiös zu erscheinen, aber sich dann schon beim Handwerklichen zu blamieren. Walter Kempowski scheint das erkannt zu haben, als er sein Schriftsteller-Alter-Ego Alexander Sowtschick in "Hundstage" (1988) einen Roman schreiben lässt, der die unerreichbare Vorbildlichkeit des "Zauberbergs" respektiert: "Diesem gewaltigen Zentralmassiv durfte er nicht zu nahe kommen." Etwas näher rückte ihm dann Thorsten Becker mit seinem gleich die ganze Mann-Familie in den Blick nehmenden, hochrespektablen Roman "Der Untertan steigt auf den Zauberberg". Aber von der Konkurrenz mit einem Roman, der seinerseits schon Parodie und Endstufe des Bildungsromans ist, dazu sprachlich und in seinem Ideengehalt dermaßen hypertroph, lässt man vielleicht doch lieber die Finger.
Es sei denn, man ist Heinz Strunk. Er wagt es und gewinnt. Um nicht missverstanden zu werden: Mit der Erzählweise Thomas Manns hat er wenig am Hut. Sein Stil ist die Nutzanwendung aus der Tatsache, dass die Zeiten dafür vorbei sind. Das schließt Respekt, Bewunderung nicht aus; von Einflussangst ist er aber frei. Er kann sich seine Abneigung gegen (allzu) realistisches, detailreiches oder einfach -verliebtes Erzählen allerdings leisten, weil er sie im Bewusstsein einer bestimmten Zeitgenossenschaft oder Zeitgemäßheit pflegt und dafür etwas anderes auf Lager hat: eine so, in dieser von Buch zu Buch perfektionierten Ökonomie nur bei ihm zu habende Bestandsaufnahme einer seelischen Disposition, die ganz aufs Elend ausgerichtet ist und davon meistens aufgefressen wird.
Sein neuer Roman "Ein Sommer in Niendorf" wurde von Richard Kämmerlings in der "Welt am Sonntag" mit dem "Tod in Venedig" kurzgeschlossen. Das hat viel für sich, erst recht, wenn man bedenkt, dass der "Zauberberg" als "humoristisches Gegenstück" zum "Tod in Venedig" gedacht und als Novelle konzipiert war - wie die Niendorf-Geschichte, die auch erst eine Erzählung war, bis Strunk im vergangenen Sommer, als sein Roman "Es ist immer so schön mit dir" herauskam, gespürt haben muss, dass da mehr drinsteckt - nämlich eine Verfalls- oder Untergangsgeschichte, wie Thomas Mann sie zeit seines Lebens erzählt hat.
Hatte Hans Castorp in der Schweizer Höhenluft eine spektakuläre Steigerung seines von Haus aus eher schlichten Wesens erfahren, so lässt Strunk seinen aktuellen Protagonisten das Gegenteil davon erleiden: einen Abstieg, wie er trostloser kaum vorstellbar scheint. Es ist, in diesem hoffentlich wohlverstandenen Sinne, sein schlimmstes Buch, niederziehend bis dorthinaus. Nun war schon der "Goldene Handschuh" kein Spaß. Doch dieser Roman, für den Strunk den Wilhelm-Raabe-Preis bekam, handelte, auf historisch verbürgter Grundlage, von jemandem, der schon heruntergekommen war, als die Handlung einsetzte, und so gut wie keine Handhabe zur Identifikation bot. Das ist jetzt anders: Roth, ein promovierter Jurist, der sich vor der Übernahme einer neuen Arbeit für drei Monate nach Niendorf, Timmendorfer Strand, in ein Ferienapartment zurückzieht, um dort sowohl auszuspannen als auch die Tonbandaufzeichnungen seines verstorbenen Vaters für eine Familienchronik belletristisch auszuwerten, versackt dort trotz oder wegen bester Vorsätze, ein normales, halbwegs diszipliniertes und produktives Leben zu führen. Er sieht sich schon als den neuen Thomas Mann, aber da ist Breda vor, Apartmentverwalter und Spirituosenladenbetreiber in unheilvoller Personalunion.
Eigentlich braucht man jetzt gar nicht mehr weiterzuerzählen; Strunk ist als Fachmann für Säuferabstürze einschlägig bekannt. Aber diese hier gehen wirklich ins Bodenlose. Natürlich ist die in vertrauten Strunk-Bahnen (Peinlichkeiten und Demütigungen en gros, dazu rasiermesserscharfe Analysen deformierten, buchstäblich aus dem Leim gegangenen Lebens) abgespulte Handlung für sich genommen schon ihr Geld wert. Aber die Konsequenz, mit der sie auf ihr von Beginn an absehbares, in dieser Sang- und Klanglosigkeit jedoch schockierendes Ende zusteuert, ist bemerkenswert - ökonomischer verfuhr Strunk selbst in "Fleisch ist mein Gemüse" nicht.
Doch wie kann diese kondensierte, geschickt raffende Erzählweise eine "Zauberberg"-Geschichte sein? Strunk wird sich nicht bewusst daran ausgerichtet haben. Man darf hier von ganz grundsätzlicher Verwandtschaft im Geistig-Mentalen ausgehen, die aufgrund des zeitlichen Abstands etwas unkenntlich geworden ist. Strunk ist kein Thomas Mann, aber, wie Stifter über Goethe sagte, "von seiner Familie". Das zeigt sich schon in der meisterlichen Figurenzeichnung: "Die Bedienung ist jung, drall, dümmlich, irgendwie unverschämt und lädt zum Träumen ein." Vergleiche: "Fiken Dahlbeck war an die 40, korpulent und frech" ("Buddenbrooks"). Womit wir es zu tun haben, das ist die Konfrontation des Geistes(menschen) mit dem Leben, mit der zur Reflexion nicht aufgelegten Vitalität, die sich bei Strunk indes in einem völlig anderen Milieu zuträgt. Weithin sichtbar wird Thomas Mann in Niendorf als Referenzgröße platziert. Diese Leistungsethiker - es ist Strunks neunter Roman in achtzehn Jahren, alles andere gar nicht mitgerechnet - kennen die Faszination und die Gefahr, die vom Loslassen ausgehen, sonst wären sie keine.
Wollust des Untergangs: Es frappiert, wie sehr sich die seelischen Triebkräfte des "Halb zog es ihn, halb sank er hin" doch gleichen. Beide Helden betreten den Ferienort mit Skepsis; aber die innere Abwehr gegen Land und Leute erweist sich gerade in ihrer vermeintlichen Entschiedenheit als unwirksam. Dabei spart Strunk sich den Aufwand, den Thomas Mann treibt, um Hans Castorps Anfälligkeit für alles geistig Höhere inklusive Krankheit und Tod auch dem Bildungsbürger begreiflich zu machen; sein Held kann schon beim Eintauchen in die ganz und gar ungeistige Sphäre seines Domizils alle Hoffnung fahren lassen.
Die leitmotivisch eingeflochtenen Reminiszenzen an das Niendorfer Treffen der Gruppe 47 vom Mai 1952 dienen mit dem höhnischen, sich lustig machenden Unterton eher dazu, die Distanz nicht zum Geistigen an sich, aber zur vereinsmeierisch organisierten, spätestens aus heutiger Sicht verknöcherten Literatur zu markieren, und das in einem Roman, der an Feinnervigkeit selbst kaum zu überbieten ist. Auch hierin, nicht nur in dem bei diesem Autor notorischen Interesse fürs Schäbig-Heruntergekommene, ja Verkommene, liegt etwas Kühnes. Hier gibt es, wie immer bei Strunk, kein vornehmes Getue; und doch - das muss man erst einmal hinbekommen - scheint durch die bisweilen äußerst drastischen Leidensschilderungen eine eigentümliche Humanität: "Warum nur muss ein Mensch, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, so elend und erschöpft sein?" Nun wäre dies kein Heinz-Strunk-Roman ohne die überragende Komik: "Den Weg über das Brodtener Ufer muss er sich mit Myriaden von Greisenradfahrern teilen. Schrecklich, diese Rentner. Er stellt sich vor, sein Rachen wäre, wie der eines Komodowarans, mit tödlichen Bazillen verseucht. Wenn er einen Rentner bisse, würde er ihm einen kleinen Vorsprung gewähren, die Witterung aufnehmen, ihn verfolgen und schließlich zur Strecke bringen. The Pensioner Biter."
Man könnte versucht sein, das Ende als Idyll zu lesen. Tatsächlich aber kann man nicht tiefer sinken als dieser Roth, der sich schließlich mit Bredas Freundin Simone in einem beschaulichen Leben einrichtet und damit vollends einem Milieu verhaftet bleibt, für das er nur Verachtung übrighat. Sie sind, auf einer Stufe vollendeter Geistlosigkeit und damit spiegelverkehrt, sein Naphta und sein Settembrini, verführerische Einflüsterer, die ihm das nehmen, was Hans Castorp mitbekam: Bildung, Zivilität. So wird aus der "Spaßbremse im noblen Zwirn", die erst noch denkt: "Erfrischend, mit jemandem auf niedrigem Niveau zu verkehren", ein haltloser Trinker, der einen Kater für die Melancholie eines Geistesmenschen hält und bei der schriftstellerischen Arbeit bald gar nicht mehr vorankommt.
Dass wir Roths Vornamen (Georg) an auffällig unauffälliger Stelle erfahren, lädt, wie die sparsamen biographischen Auskünfte, dazu ein, ihn als jedermann, als Verkörperung einer Anfälligkeit für alles Niedere zu begreifen. Hans Castorp erwies sich als ungemein "aufnahmefähig" für den besonderen Genius Loci: "Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustieß, mußtest du's irgend wohl hinter den Ohren haben." Dass nicht jedem jede Geschichte passiert, erfährt auch Roth. Beide kommen uns schließlich aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. EDO REENTS
Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieser Zauberberg liegt am flachen Strand der Ostsee: Heinz Strunks Roman "Ein Sommer in Niendorf" wagt sich ans Vorbild Thomas Mann - und gewinnt.
Ein nicht einfacher, nicht junger Mensch reist im Sommer nach Niendorf im Schleswig-Holsteinischen. Er fährt für drei Monate. Aber er bleibt (wohl) für den Rest seines Lebens dort. So könnte eine auf das Nötigste beschränkte Zusammenfassung eines zeitgenössischen "Zauberbergs" lauten. Damals, vor nun bald hundert Jahren, las es sich so: "Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen." Das Ende ist bekannt.
Jeder seriöse Romanschriftsteller wird wissen, dass man keinen zweiten "Zauberberg" schreiben kann oder, wenn doch, dann nur, indem man sich vor jeder Imitation hütet, es also ganz anders anfasst, natürlich unter Beibehaltung der Grundidee: Ein Mensch reist . . . Aber warum "kann" man so ohne Weiteres keinen zweiten "Zauberberg" schreiben? Das ist eine Instinktfrage; zu groß ist die Gefahr, prätentiös zu erscheinen, aber sich dann schon beim Handwerklichen zu blamieren. Walter Kempowski scheint das erkannt zu haben, als er sein Schriftsteller-Alter-Ego Alexander Sowtschick in "Hundstage" (1988) einen Roman schreiben lässt, der die unerreichbare Vorbildlichkeit des "Zauberbergs" respektiert: "Diesem gewaltigen Zentralmassiv durfte er nicht zu nahe kommen." Etwas näher rückte ihm dann Thorsten Becker mit seinem gleich die ganze Mann-Familie in den Blick nehmenden, hochrespektablen Roman "Der Untertan steigt auf den Zauberberg". Aber von der Konkurrenz mit einem Roman, der seinerseits schon Parodie und Endstufe des Bildungsromans ist, dazu sprachlich und in seinem Ideengehalt dermaßen hypertroph, lässt man vielleicht doch lieber die Finger.
Es sei denn, man ist Heinz Strunk. Er wagt es und gewinnt. Um nicht missverstanden zu werden: Mit der Erzählweise Thomas Manns hat er wenig am Hut. Sein Stil ist die Nutzanwendung aus der Tatsache, dass die Zeiten dafür vorbei sind. Das schließt Respekt, Bewunderung nicht aus; von Einflussangst ist er aber frei. Er kann sich seine Abneigung gegen (allzu) realistisches, detailreiches oder einfach -verliebtes Erzählen allerdings leisten, weil er sie im Bewusstsein einer bestimmten Zeitgenossenschaft oder Zeitgemäßheit pflegt und dafür etwas anderes auf Lager hat: eine so, in dieser von Buch zu Buch perfektionierten Ökonomie nur bei ihm zu habende Bestandsaufnahme einer seelischen Disposition, die ganz aufs Elend ausgerichtet ist und davon meistens aufgefressen wird.
Sein neuer Roman "Ein Sommer in Niendorf" wurde von Richard Kämmerlings in der "Welt am Sonntag" mit dem "Tod in Venedig" kurzgeschlossen. Das hat viel für sich, erst recht, wenn man bedenkt, dass der "Zauberberg" als "humoristisches Gegenstück" zum "Tod in Venedig" gedacht und als Novelle konzipiert war - wie die Niendorf-Geschichte, die auch erst eine Erzählung war, bis Strunk im vergangenen Sommer, als sein Roman "Es ist immer so schön mit dir" herauskam, gespürt haben muss, dass da mehr drinsteckt - nämlich eine Verfalls- oder Untergangsgeschichte, wie Thomas Mann sie zeit seines Lebens erzählt hat.
Hatte Hans Castorp in der Schweizer Höhenluft eine spektakuläre Steigerung seines von Haus aus eher schlichten Wesens erfahren, so lässt Strunk seinen aktuellen Protagonisten das Gegenteil davon erleiden: einen Abstieg, wie er trostloser kaum vorstellbar scheint. Es ist, in diesem hoffentlich wohlverstandenen Sinne, sein schlimmstes Buch, niederziehend bis dorthinaus. Nun war schon der "Goldene Handschuh" kein Spaß. Doch dieser Roman, für den Strunk den Wilhelm-Raabe-Preis bekam, handelte, auf historisch verbürgter Grundlage, von jemandem, der schon heruntergekommen war, als die Handlung einsetzte, und so gut wie keine Handhabe zur Identifikation bot. Das ist jetzt anders: Roth, ein promovierter Jurist, der sich vor der Übernahme einer neuen Arbeit für drei Monate nach Niendorf, Timmendorfer Strand, in ein Ferienapartment zurückzieht, um dort sowohl auszuspannen als auch die Tonbandaufzeichnungen seines verstorbenen Vaters für eine Familienchronik belletristisch auszuwerten, versackt dort trotz oder wegen bester Vorsätze, ein normales, halbwegs diszipliniertes und produktives Leben zu führen. Er sieht sich schon als den neuen Thomas Mann, aber da ist Breda vor, Apartmentverwalter und Spirituosenladenbetreiber in unheilvoller Personalunion.
Eigentlich braucht man jetzt gar nicht mehr weiterzuerzählen; Strunk ist als Fachmann für Säuferabstürze einschlägig bekannt. Aber diese hier gehen wirklich ins Bodenlose. Natürlich ist die in vertrauten Strunk-Bahnen (Peinlichkeiten und Demütigungen en gros, dazu rasiermesserscharfe Analysen deformierten, buchstäblich aus dem Leim gegangenen Lebens) abgespulte Handlung für sich genommen schon ihr Geld wert. Aber die Konsequenz, mit der sie auf ihr von Beginn an absehbares, in dieser Sang- und Klanglosigkeit jedoch schockierendes Ende zusteuert, ist bemerkenswert - ökonomischer verfuhr Strunk selbst in "Fleisch ist mein Gemüse" nicht.
Doch wie kann diese kondensierte, geschickt raffende Erzählweise eine "Zauberberg"-Geschichte sein? Strunk wird sich nicht bewusst daran ausgerichtet haben. Man darf hier von ganz grundsätzlicher Verwandtschaft im Geistig-Mentalen ausgehen, die aufgrund des zeitlichen Abstands etwas unkenntlich geworden ist. Strunk ist kein Thomas Mann, aber, wie Stifter über Goethe sagte, "von seiner Familie". Das zeigt sich schon in der meisterlichen Figurenzeichnung: "Die Bedienung ist jung, drall, dümmlich, irgendwie unverschämt und lädt zum Träumen ein." Vergleiche: "Fiken Dahlbeck war an die 40, korpulent und frech" ("Buddenbrooks"). Womit wir es zu tun haben, das ist die Konfrontation des Geistes(menschen) mit dem Leben, mit der zur Reflexion nicht aufgelegten Vitalität, die sich bei Strunk indes in einem völlig anderen Milieu zuträgt. Weithin sichtbar wird Thomas Mann in Niendorf als Referenzgröße platziert. Diese Leistungsethiker - es ist Strunks neunter Roman in achtzehn Jahren, alles andere gar nicht mitgerechnet - kennen die Faszination und die Gefahr, die vom Loslassen ausgehen, sonst wären sie keine.
Wollust des Untergangs: Es frappiert, wie sehr sich die seelischen Triebkräfte des "Halb zog es ihn, halb sank er hin" doch gleichen. Beide Helden betreten den Ferienort mit Skepsis; aber die innere Abwehr gegen Land und Leute erweist sich gerade in ihrer vermeintlichen Entschiedenheit als unwirksam. Dabei spart Strunk sich den Aufwand, den Thomas Mann treibt, um Hans Castorps Anfälligkeit für alles geistig Höhere inklusive Krankheit und Tod auch dem Bildungsbürger begreiflich zu machen; sein Held kann schon beim Eintauchen in die ganz und gar ungeistige Sphäre seines Domizils alle Hoffnung fahren lassen.
Die leitmotivisch eingeflochtenen Reminiszenzen an das Niendorfer Treffen der Gruppe 47 vom Mai 1952 dienen mit dem höhnischen, sich lustig machenden Unterton eher dazu, die Distanz nicht zum Geistigen an sich, aber zur vereinsmeierisch organisierten, spätestens aus heutiger Sicht verknöcherten Literatur zu markieren, und das in einem Roman, der an Feinnervigkeit selbst kaum zu überbieten ist. Auch hierin, nicht nur in dem bei diesem Autor notorischen Interesse fürs Schäbig-Heruntergekommene, ja Verkommene, liegt etwas Kühnes. Hier gibt es, wie immer bei Strunk, kein vornehmes Getue; und doch - das muss man erst einmal hinbekommen - scheint durch die bisweilen äußerst drastischen Leidensschilderungen eine eigentümliche Humanität: "Warum nur muss ein Mensch, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, so elend und erschöpft sein?" Nun wäre dies kein Heinz-Strunk-Roman ohne die überragende Komik: "Den Weg über das Brodtener Ufer muss er sich mit Myriaden von Greisenradfahrern teilen. Schrecklich, diese Rentner. Er stellt sich vor, sein Rachen wäre, wie der eines Komodowarans, mit tödlichen Bazillen verseucht. Wenn er einen Rentner bisse, würde er ihm einen kleinen Vorsprung gewähren, die Witterung aufnehmen, ihn verfolgen und schließlich zur Strecke bringen. The Pensioner Biter."
Man könnte versucht sein, das Ende als Idyll zu lesen. Tatsächlich aber kann man nicht tiefer sinken als dieser Roth, der sich schließlich mit Bredas Freundin Simone in einem beschaulichen Leben einrichtet und damit vollends einem Milieu verhaftet bleibt, für das er nur Verachtung übrighat. Sie sind, auf einer Stufe vollendeter Geistlosigkeit und damit spiegelverkehrt, sein Naphta und sein Settembrini, verführerische Einflüsterer, die ihm das nehmen, was Hans Castorp mitbekam: Bildung, Zivilität. So wird aus der "Spaßbremse im noblen Zwirn", die erst noch denkt: "Erfrischend, mit jemandem auf niedrigem Niveau zu verkehren", ein haltloser Trinker, der einen Kater für die Melancholie eines Geistesmenschen hält und bei der schriftstellerischen Arbeit bald gar nicht mehr vorankommt.
Dass wir Roths Vornamen (Georg) an auffällig unauffälliger Stelle erfahren, lädt, wie die sparsamen biographischen Auskünfte, dazu ein, ihn als jedermann, als Verkörperung einer Anfälligkeit für alles Niedere zu begreifen. Hans Castorp erwies sich als ungemein "aufnahmefähig" für den besonderen Genius Loci: "Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustieß, mußtest du's irgend wohl hinter den Ohren haben." Dass nicht jedem jede Geschichte passiert, erfährt auch Roth. Beide kommen uns schließlich aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. EDO REENTS
Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main