Ein heißer Sommer im Prag der Fünfzigerjahre: Jana Honzlová, eine junge Sängerin in einem Folklore-Ensemble, darf nicht mit auf Tournee gehen, denn seit ihr Vater ins kapitalistische Ausland geflüchtet ist, gilt sie im kommunistischen System als politisch unzuverlässig. Stattdessen soll sie im Betriebsbüro die Stellung halten, wo sie ihr Leid mit der freundlichen Putzfrau teilt und heimlich internen Intrigen nachforscht. Aber auch ihre komplizierte Familiensituation hält die Ich-Erzählerin in Atem, die alles, was ihr widerfährt, mit Unverblümtheit und Straßenwitz schildert. Denn Jana Honzlová ist eine, die nicht so schnell aufgibt und sich ihre Chuzpe bewahrt. Umso erschütternder ist es für sie, als die Verhältnisse am Ende doch mächtiger erscheinen. Salivarová, die viele eigene Erfahrungen in den Roman einfließen ließ, erzählt gewissermaßen die Vorgeschichte des Prager Frühlings; dabei verzichtet sie auf Klischees oder Moralpredigten. Ihr gelingt das authentische Porträt einer vergangenen Zeit, das mit Leichtigkeit und Witz vorgetragen wird, ohne die Tragik und Absurdität auf die leichte Schulter zu nehmen. „Ein Sommer in Prag“ (im Original: „Honzlová“) erschien erstmals 1972 im kanadischen Exil und gehört für viele Kritiker*innen zum Besten, was in der tschechischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Nun liegt endlich die deutsche Erstausgabe vor.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Jörg Plath merkt dem Roman von Zdena Salivarova aus den Jahren 1968/69 an, dass er nicht aus einem Guss ist. Dennoch zeigt er sich begeistert über den leichten, frischen Ton der jungen Erzählerin, die ihre Erfahrungen mit dem Stalinismus im Prag der 50er mit dem Leser teilt. Es geht um Intrigen, Valuta, Denunziation, Wut und die Qualen, wie sie eine junge Sängerin in der Konfrontation mit der Partei erlebt, erklärt Plath. In Sachen Subtilität hat der Text etwas Luft nach oben, räumt er ein, aber unterhaltsam ist er allemal.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2024Gehen oder Bleiben?
Zdena Salivarovás "Ein Sommer in Prag"
Deutscher Herbst und Prager Frühling, Tauwetter und politische Eiszeit - die meteorologischen Bestandsaufnahmen politischer Verhältnisse erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit. Und dann sind da ganzjährig und eben nicht nur zur Sommerzeit die anderen, die Durchschnittsgesichter vom Ministerium, die "Klatsch und Tratsch sammeln", weil auch schlichter Klatsch, einmal in die Kaderakten gelangt, "den Wert eines amtlichen Dokuments" erhielt.
Was ein solches amtliches Dokument anrichtet, weiß die Ich-Erzählerin Jana in Zdena Salivarovás Roman genau. Der Vater ist in den USA, ein Bruder im Arbeitslager, ein anderer im Gefängnis, eine ältere Schwester macht auf vornehm und hat sich abgesetzt. Jana bringt mit ihrem Gehalt in einem Gesangs- und Tanzensemble die beiden jüngeren Geschwister und die Mutter durch. Sie leben in einem abbruchreifen Prager Wohnblock mit Außenklo, sadistischem Hofkehrer und dessen abgerichtetem Schäferhund. Wenn die Mutter über fehlende Zwiebeln in den Geschäften schimpft, gilt das als Aufwiegelei.
Salivarová berichtet von einem brütend heißen Sommer in Prag irgendwann kurz nach Stalins Tod. Der kalendarische Frühling scheint ebenso weit weg wie der politische. Jana langweilt sich, denn ihr Ensemble ist auf Tournee, ihr wurde die Ausreise nicht bewilligt. Dabei hatte sie sich doch auf einer Tour durch Frankreich bewährt, indem sie zurückkehrte. In der Abwesenheit der anderen nutzt sie die Gunst der Stunde und liest ihre Akten: Sie wurde in Frankreich akribisch ausspioniert, mit Angaben bis auf die Minute genau, doch alles, was sie tat, liest sich nun als unhaltbare Anklage gegen sie. Sie will den Irrtum aufklären, wendet sich ans Kulturministerium, dann ans Innenministerium. Dort gerät sie an einen gewissen Sedlácek, zunächst nur Blaubart genannt. Er will sie anwerben, aber sie weiß: "Ich passe da nicht rein." Nicht in die Partei und schon gar nicht in die Tratschsammelgruppe.
In schnodderigem Ton berichtet Jana davon, wie sie in die Enge getrieben wird, sich Katastrophe an Katastrophe reiht. Oft genug wird in solchen Momenten nach der Biographie der Autorin gefragt, als bürge allein ihr Erleben für literarische Qualität. Da über Zdena Salivarová tatsächlich kaum etwas zu finden ist, sei zumindest gesagt: Sie wurde 1933 in Prag geboren, die Ich-Erzählerin ist damit in etwa ihr Jahrgang. Ihr Vater, ein Buchhändler, wurde 1949 verhaftet und emigrierte ein Jahr später in die USA. Offenbar stammte sie nicht aus derart prekären Verhältnissen wie Jana im Roman. Sie arbeitete als Schauspielerin, gehörte ebenfalls einem Gesangs- und Tanzensemble an, heiratete Josef Skvorecký, emigrierte und gründete in Kanada einen Verlag für (exil-)tschechische Literatur, in dem 1972 auch dieser Roman erschien. Sie selbst bezeichnet Jana als "Zwillingsschwester", die zwar wie sie spreche und handele, aber doch eine andere sei. "Selbstverständlich hat der Roman eine ganze Menge autobiographischer Elemente, aber in der Realität war alles anders. Es ist wahr und doch auch wieder nicht wahr."
Damit zurück zur literarischen Qualität. Salivarová formt ihren Stoff souverän, baut kluge Spannungsbögen, schreibt detailreich und lebendig. Die Übersetzung von Sophia Marzolff hat für Umgangssprache und Vielstimmigkeit sehr schöne Lösungen gefunden. Vor allem aber schneidet die Autorin den persönlichen Glauben gegen die politischen Verhältnisse. "Was erzählten die Leute bei einer Beichte? Und was sagte der Priester darauf? Es war wohl so etwas wie ein Mitarbeitergespräch, an dessen Ende nicht eine Verwarnung oder der Rauswurf stand, sondern die Vergebung. Auch der größte Lump wurde nicht gefeuert, wenn er nur Selbstkritik betrieb und sich zu bessern versprach." Durch diesen Dreh kann Salivarová hervorragend zeigen, wie stark das allgemeine Denunziantentum die Atmosphäre vergiftet.
Als Sedlácek Ausreisepapiere anbietet, fehlt ihr die Antwort auf die Frage, ob der Mann ehrlich, vielleicht sogar aus Liebe handelt oder ihr eine Falle stellt. So bleibt das Ende offen - und weitet den Roman von einer Studie über Bespitzelung zu einer Aufnahme von Aufrichtigkeit im Miteinander. CHRISTIANE PÖHLMANN
Zdena Salivarová: "Ein Sommer in Prag". Roman.
Aus dem Tschechischen von Sophia Marzolff. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024.
372 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zdena Salivarovás "Ein Sommer in Prag"
Deutscher Herbst und Prager Frühling, Tauwetter und politische Eiszeit - die meteorologischen Bestandsaufnahmen politischer Verhältnisse erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit. Und dann sind da ganzjährig und eben nicht nur zur Sommerzeit die anderen, die Durchschnittsgesichter vom Ministerium, die "Klatsch und Tratsch sammeln", weil auch schlichter Klatsch, einmal in die Kaderakten gelangt, "den Wert eines amtlichen Dokuments" erhielt.
Was ein solches amtliches Dokument anrichtet, weiß die Ich-Erzählerin Jana in Zdena Salivarovás Roman genau. Der Vater ist in den USA, ein Bruder im Arbeitslager, ein anderer im Gefängnis, eine ältere Schwester macht auf vornehm und hat sich abgesetzt. Jana bringt mit ihrem Gehalt in einem Gesangs- und Tanzensemble die beiden jüngeren Geschwister und die Mutter durch. Sie leben in einem abbruchreifen Prager Wohnblock mit Außenklo, sadistischem Hofkehrer und dessen abgerichtetem Schäferhund. Wenn die Mutter über fehlende Zwiebeln in den Geschäften schimpft, gilt das als Aufwiegelei.
Salivarová berichtet von einem brütend heißen Sommer in Prag irgendwann kurz nach Stalins Tod. Der kalendarische Frühling scheint ebenso weit weg wie der politische. Jana langweilt sich, denn ihr Ensemble ist auf Tournee, ihr wurde die Ausreise nicht bewilligt. Dabei hatte sie sich doch auf einer Tour durch Frankreich bewährt, indem sie zurückkehrte. In der Abwesenheit der anderen nutzt sie die Gunst der Stunde und liest ihre Akten: Sie wurde in Frankreich akribisch ausspioniert, mit Angaben bis auf die Minute genau, doch alles, was sie tat, liest sich nun als unhaltbare Anklage gegen sie. Sie will den Irrtum aufklären, wendet sich ans Kulturministerium, dann ans Innenministerium. Dort gerät sie an einen gewissen Sedlácek, zunächst nur Blaubart genannt. Er will sie anwerben, aber sie weiß: "Ich passe da nicht rein." Nicht in die Partei und schon gar nicht in die Tratschsammelgruppe.
In schnodderigem Ton berichtet Jana davon, wie sie in die Enge getrieben wird, sich Katastrophe an Katastrophe reiht. Oft genug wird in solchen Momenten nach der Biographie der Autorin gefragt, als bürge allein ihr Erleben für literarische Qualität. Da über Zdena Salivarová tatsächlich kaum etwas zu finden ist, sei zumindest gesagt: Sie wurde 1933 in Prag geboren, die Ich-Erzählerin ist damit in etwa ihr Jahrgang. Ihr Vater, ein Buchhändler, wurde 1949 verhaftet und emigrierte ein Jahr später in die USA. Offenbar stammte sie nicht aus derart prekären Verhältnissen wie Jana im Roman. Sie arbeitete als Schauspielerin, gehörte ebenfalls einem Gesangs- und Tanzensemble an, heiratete Josef Skvorecký, emigrierte und gründete in Kanada einen Verlag für (exil-)tschechische Literatur, in dem 1972 auch dieser Roman erschien. Sie selbst bezeichnet Jana als "Zwillingsschwester", die zwar wie sie spreche und handele, aber doch eine andere sei. "Selbstverständlich hat der Roman eine ganze Menge autobiographischer Elemente, aber in der Realität war alles anders. Es ist wahr und doch auch wieder nicht wahr."
Damit zurück zur literarischen Qualität. Salivarová formt ihren Stoff souverän, baut kluge Spannungsbögen, schreibt detailreich und lebendig. Die Übersetzung von Sophia Marzolff hat für Umgangssprache und Vielstimmigkeit sehr schöne Lösungen gefunden. Vor allem aber schneidet die Autorin den persönlichen Glauben gegen die politischen Verhältnisse. "Was erzählten die Leute bei einer Beichte? Und was sagte der Priester darauf? Es war wohl so etwas wie ein Mitarbeitergespräch, an dessen Ende nicht eine Verwarnung oder der Rauswurf stand, sondern die Vergebung. Auch der größte Lump wurde nicht gefeuert, wenn er nur Selbstkritik betrieb und sich zu bessern versprach." Durch diesen Dreh kann Salivarová hervorragend zeigen, wie stark das allgemeine Denunziantentum die Atmosphäre vergiftet.
Als Sedlácek Ausreisepapiere anbietet, fehlt ihr die Antwort auf die Frage, ob der Mann ehrlich, vielleicht sogar aus Liebe handelt oder ihr eine Falle stellt. So bleibt das Ende offen - und weitet den Roman von einer Studie über Bespitzelung zu einer Aufnahme von Aufrichtigkeit im Miteinander. CHRISTIANE PÖHLMANN
Zdena Salivarová: "Ein Sommer in Prag". Roman.
Aus dem Tschechischen von Sophia Marzolff. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024.
372 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main