Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als «Nebenherschreiber» erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod. Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr - jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben «eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie»? Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2015Gedanken-Tango
Martin Walser im Holzhausenschlösschen
Partizipien haben keinen guten Ruf. Früher galt der Einsatz des Partizip Präsens einfach als schlechter Stil. Heute weiß kaum noch jemand, wie es auf Deutsch heißt. Nicht einmal Martin Walser, der die Partizipien in den Titeln seiner Bücher liebt, weil es sich um eine Dauerform handelt. "Etwas ist unterwegs", erläuterte der Altmeister unter den deutschen Schriftstellern jetzt den Titel seines noch unveröffentlichten Manuskripts "Ein sterbender Mann". Hieß es bei ihm nicht gerade noch "Ein liebender Mann"? Die Zuhörer im Frankfurter Holzhausenschlösschen waren jedenfalls sprachlos ob des Grammatikwissens einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Frankfurter Bürgerstiftung, die auf Walsers Frage nach der deutschen Übersetzung des Partizips prompt in den Saal rief: "Mittelwort der Gegenwart". Hausherr Clemens Greve strahlte.
Es war Walsers zehnter Auftritt im Holzhausenschlösschen. Zwar betrat der offenbar sehr gebrechliche Autor den Saal gestützt auf den Arm seines Begleiters und Moderators Jörg Magenau, aber dann konnte er plötzlich eine ganze Stunde lang am Lesepult stehen. Die Besucher erlebten, wie der eigene Text seinen 88 Jahre alten Verfasser aufblühen ließ, welche Vitalität Walser aus seiner Rezitation sog. Erst danach, im Gespräch mit dem Duzfreund, verließen ihn wieder die Kräfte, was ihn aber nicht daran hinderte, immer wieder aufzubrausen, wenn er sich missverstanden fühlte. Das galt vor allem für das Thema Verrat, das im Mittelpunkt des neuen Romans steht. "Du bist offenbar niemals verraten worden", wunderte sich der Schriftsteller über seinen Gesprächspartner, der nicht verstehen konnte, warum Walsers Protagonist den Lebensmut verliert, nachdem ihn sein bester Freund verraten hat.
Überhaupt hatte Magenau das Buch noch nicht ganz verstanden, obwohl er es zweimal gelesen hatte. Mancher Zuhörer war ihm dankbar, dass er das offen zugab, denn es war wirklich schwer, der Lesung zu folgen, ohne den Text zu kennen. In mehreren Strängen erzählt Walser von einem schreibenden Finanzier, der die Lyrikbände seines Freundes finanziert und sich in eine Tangotänzerin verliebt, obwohl er verheiratet ist. Also wieder einmal eine unmögliche Liebe. Theo flüchtet sich in ein Suizidal-Forum, aber, wie die meisten dort aktiven Suizidalen, überlebt er alle: seine Frau und seine Flamme - ein Sterbender mitten im Leben. Das rechtfertigt die hierzulande verfemte Dauerform. "Wir sind alle sterblich, aber wir leben ununterbrochen weiter", kommentierte der Schriftsteller sein Buch.
"Schreibt Theo, um sich vor der Realität zu retten?", fragte Magenau. "Woher soll ich das wissen?", konterte Walser, lenkte aber gleich wieder ein: "Obwohl ich nie so experimentierfreudig war, hatte ich auch mal den Wunsch, mit den Realitäten und Personen zu jonglieren." Sich selbst ins Spiel zu bringen, das habe ihm Spaß gemacht. "Ich wollte den Ernst wegnehmen von dem dröhnenden Titel." Aber: "Jeder schreibt um sein Leben. Man muss das Schicksal kommentieren, sonst ist es unerträglich." Zuletzt berief er sich auch noch auf Nietzsche: "Die Dissonanz ist die höchst entsprechende Seins-Tonart. Und der Tango drückt die Dissonanz aus."
Claudia Schülke
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Walser im Holzhausenschlösschen
Partizipien haben keinen guten Ruf. Früher galt der Einsatz des Partizip Präsens einfach als schlechter Stil. Heute weiß kaum noch jemand, wie es auf Deutsch heißt. Nicht einmal Martin Walser, der die Partizipien in den Titeln seiner Bücher liebt, weil es sich um eine Dauerform handelt. "Etwas ist unterwegs", erläuterte der Altmeister unter den deutschen Schriftstellern jetzt den Titel seines noch unveröffentlichten Manuskripts "Ein sterbender Mann". Hieß es bei ihm nicht gerade noch "Ein liebender Mann"? Die Zuhörer im Frankfurter Holzhausenschlösschen waren jedenfalls sprachlos ob des Grammatikwissens einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Frankfurter Bürgerstiftung, die auf Walsers Frage nach der deutschen Übersetzung des Partizips prompt in den Saal rief: "Mittelwort der Gegenwart". Hausherr Clemens Greve strahlte.
Es war Walsers zehnter Auftritt im Holzhausenschlösschen. Zwar betrat der offenbar sehr gebrechliche Autor den Saal gestützt auf den Arm seines Begleiters und Moderators Jörg Magenau, aber dann konnte er plötzlich eine ganze Stunde lang am Lesepult stehen. Die Besucher erlebten, wie der eigene Text seinen 88 Jahre alten Verfasser aufblühen ließ, welche Vitalität Walser aus seiner Rezitation sog. Erst danach, im Gespräch mit dem Duzfreund, verließen ihn wieder die Kräfte, was ihn aber nicht daran hinderte, immer wieder aufzubrausen, wenn er sich missverstanden fühlte. Das galt vor allem für das Thema Verrat, das im Mittelpunkt des neuen Romans steht. "Du bist offenbar niemals verraten worden", wunderte sich der Schriftsteller über seinen Gesprächspartner, der nicht verstehen konnte, warum Walsers Protagonist den Lebensmut verliert, nachdem ihn sein bester Freund verraten hat.
Überhaupt hatte Magenau das Buch noch nicht ganz verstanden, obwohl er es zweimal gelesen hatte. Mancher Zuhörer war ihm dankbar, dass er das offen zugab, denn es war wirklich schwer, der Lesung zu folgen, ohne den Text zu kennen. In mehreren Strängen erzählt Walser von einem schreibenden Finanzier, der die Lyrikbände seines Freundes finanziert und sich in eine Tangotänzerin verliebt, obwohl er verheiratet ist. Also wieder einmal eine unmögliche Liebe. Theo flüchtet sich in ein Suizidal-Forum, aber, wie die meisten dort aktiven Suizidalen, überlebt er alle: seine Frau und seine Flamme - ein Sterbender mitten im Leben. Das rechtfertigt die hierzulande verfemte Dauerform. "Wir sind alle sterblich, aber wir leben ununterbrochen weiter", kommentierte der Schriftsteller sein Buch.
"Schreibt Theo, um sich vor der Realität zu retten?", fragte Magenau. "Woher soll ich das wissen?", konterte Walser, lenkte aber gleich wieder ein: "Obwohl ich nie so experimentierfreudig war, hatte ich auch mal den Wunsch, mit den Realitäten und Personen zu jonglieren." Sich selbst ins Spiel zu bringen, das habe ihm Spaß gemacht. "Ich wollte den Ernst wegnehmen von dem dröhnenden Titel." Aber: "Jeder schreibt um sein Leben. Man muss das Schicksal kommentieren, sonst ist es unerträglich." Zuletzt berief er sich auch noch auf Nietzsche: "Die Dissonanz ist die höchst entsprechende Seins-Tonart. Und der Tango drückt die Dissonanz aus."
Claudia Schülke
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Witz und Pathos und einen "einen kecken Plot" attestiert Roman Bucheli Martin Walsers neuem Roman "Ein sterbender Mann". Dass er dennoch kein reines Lesevergnügen ist, erklärt der Rezensent mit der ermüdenden Rückblendenstruktur, schwerfälligen Perspektivwechseln, angestrengten Zufällen und dem Hang des erzählenden Personals zu Ignoranz und Übertreibungen. Die Form des Briefromans lässt das zwar zu, so Bucheli, doch die Figuren erscheinen ihm dadurch bisweilen wie "Sprechpuppen an der Hand des Autors". Insgesamt ist der Roman für Bucheli "eine harte Nuss zum Knacken", und um künftigen Lesern die Arbeit zu ersparen, das Buch nach dem Schluss-Clou gleich noch einmal lesen zu müssen, ist der Rezensent so freundlich, die überraschende Wendung zu verraten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2016Tango mortale
In seinem neuen Roman „Ein sterbender Mann“ lässt Martin Walser noch einmal die Puppen tanzen – mit allem,
was dazugehört: Stiletto-Fantasien und Verzweiflungsartistik, Altersnarrheit und selbstironischer Virilität
VON HELMUT BÖTTIGER
Einer der letzten rasend hervorgebrachten Romane von Martin Walser hieß „Ein liebender Mann“; das war 2008. Der aktuelle Roman nun heißt „Ein sterbender Mann“. Darunter macht Walser es nicht. Liebend und sterbend, diese beiden die gesamte Emotionsskala halsbrecherisch rauf und runter schnellenden Adjektive, sind dabei aber gar nicht das Wesentliche. Sie kreisen bloß um das unverrückbare Zentrum, nämlich den „Mann“. Der 1927 geborene Walser widmet sich seit einiger Zeit noch intensiver als sonst dem Phänomen der Virilität. Dass es sich letztlich um seine eigene handelt, macht er sich und seinen Lesern fragend, nachfragend, bohrend und schürfend ständig bewusst, und zwar in einem unerhört ekstatischen Akt des Schreibens.
Selbstredend steht in diesen Texten die komplexe Mann-Frau-Thematik immer im Vordergrund. Gleichzeitig aber holt Walser sämtliche verfügbaren philosophischen, theologischen, gesellschaftspolitischen Implikationen mit in die Sätze hinein. Im Schreiben konzentriert sich die ganze Lebens- und Welterschöpfungs-Gier – in weiten rhetorischen Schwüngen, in sinnlich anmutenden Nebensatz-Verwicklungen und Wortfindungs-Steigerungen. Mit „Ein sterbender Mann“ scheint jetzt die letzte Stufe der das eigene Leben ausstellenden Schreibwut erreicht zu sein – natürlich denkt man bei diesem Titel sofort an den 88-jährigen Walser und seine geradezu Facebook-artig offensiven Selbstinszenierungen.
Walser, der manisch Belesene, weiß um die unvermeidlichen Fallen der Autobiografie. Deshalb sollte man den 72-jährigen Theo Schadt, der als Hauptfigur in seinem neuen Roman fungiert, nicht automatisch mit dem Autor gleichsetzen. Obwohl man schon bei dem skizzenhaft umrissenen Beruf hellhörig werden könnte: Schadt ist ein Unternehmer, der mit Erfindungen und Patenten handelt, einem Schriftsteller nicht ganz unähnlich. Und gleich zu Beginn schreibt dieser Schadt auch einen Brief an einen „Schriftsteller“, von dem man nicht weiß, in welcher Beziehung er zu ihm steht. Man ahnt, dass es eine Spiegelung von ihm ist, eine alte literarische Finte, genauso wie diejenige, dass der Erzähler je nach Lust und Laune zwischen der Ich- und der Er-Perspektive wechselt und zur Abwechslung aphoristische Sentenzen einstreut. Walser jongliert mit zwei, mit drei und plötzlich auch mit zunächst fünf Bällen, und es scheint ihn überhaupt nicht zu kümmern, dass da auch schnell mal einer herunterfallen kann.
Im Zentrum der Handlung steht ein Verrat. Theo Schadt hatte ursprünglich 44 Mitarbeiter in seiner Firma. Als sein engster Freund und Angestellter Theo Kroll dem großen Konkurrenten Oliver Schumm ein lukratives Geschäftsgeheimnis hinterbringt, muss er alle entlassen und in der Boutique seiner Frau in der Münchner Schellingstraße verschämt an der Ladenkasse sitzen. Das bildet den Dreh- und Angelpunkt des Romans. Ein anderer Energiequell ist natürlich sexuell konnotiert, jedoch ins Übersinnliche gesteigert: Schadt stellt an der Kasse einem weiblichen Wesen eine Rechnung aus, und da überwältigt ihn ein Lichtstrahl, eine „grellste Helle“. Sie heißt Sina und löst die Konvulsionen dieses Romans mindestens genauso stark aus wie der Verrat des einstmals besten Freundes. Dass diese beiden Kraftzentren im Verlauf der Handlung mehr miteinander zu tun haben, als es anfangs erscheint, ja, dass sie direkt aufeinander bezogen sind – das ist bewährtes, altes Romanhandwerk.
Schadts Frau Iris betreibt nicht irgendeinen x-beliebigen Laden, sondern es geht um exquisite Tango-Accessoires. Diverse Gürtel, Boleros, Netzstrümpfe und vor allem spezielle Tangotanzschuhe werden bildersatt beschworen, und dass der Wechsel von 8 cm hohen Stilettoabsätzen zu 9,5 cm hohen unweigerlich „Laute des reinen Entzückens“ im Tangoladen hervorruft, ist einer der Gefühlskerne des Romans. Walser lässt nichts aus. Er zelebriert krudeste Männerfantasien und spielt mit ihnen, er scheint überhaupt keine Scheu zu haben vor Kolportage, vor Klischees und der Nachmittag-Talkshows im Unterschichts-Fernsehen. Er mixt diese Bestandteile aber so unverfroren und zauberkunststückhaft und verbindet sie bruchlos mit letzten existenziellen Fragestellungen, dass man immer wieder frappiert ist.
Und wenn der Dampfkochtopf erst einmal richtig zischt, wenn die Betriebstemperatur am höchsten ist, dann kommen die Tod- und Selbstmord-Gedanken. Theo Schadt meldet sich, nachdem der „Verrat“ ihm das Selbstwertgefühl geraubt hat, im Internet in einem Suizid-Forum an. Sofort bändelt er mit einer sich „Aster“ nennenden Kandidatin an, deren Todeswunsch sie als „irreversibel“ angibt. Wie dieses Wörtchen anschließend durchdekliniert wird, wie vor dem Hintergrund von Gruft, Sinnlosigkeit und Kohlenmonoxid nun wilde Kapriolen zwischen Tragik und Komik geschlagen werden, das ist eine neue schaumkronenschlagende Variante des Walserschen Übertreibungs-und Überbordungs-Stils. Er nimmt die Rolle des Altersnarren an und gibt sie hemmungslos. Und in der spezifischen Verzweiflungsartistik, in die er seiner Figur Theo Schadt hineintreibt, bleibt von der Verzweiflung nur noch eine rhetorische Figur übrig, ein Ausdruck von Vergeblichkeit.
Dass sich jene „Aster“ und die „grellste Helle“-Frau im Ladengeschäft irgendwann vermengen, ist zwangsläufig wieder bewährtes, altes Romanhandwerk. Und dass manche Passagen direkt vom Stammtisch abgehört erscheinen, ebenfalls: Es gibt kraftprotzende Monologe, deren Pointen um Wörter wie „Arsch“ kreisen. Der Autor Walser lässt selbst komplizierteste Realismustheorien souverän hinter sich, das Unwahrscheinlichste, das Fantastischste wie das Krudeste ist ihm gerade recht, und in der Summe von alldem verbirgt sich das Unerreichbare, die Literatur.
Auch Schlüsselromaneffekte haben Walser schon immer gereizt. Mit Inbrunst beschreibt er Münchens besondere Parvenü- und Adabei-Szene und legt ein grobmaschiges Netz von Anspielungen aus. Schwerreiche Kapitalisten, um die Frauen und Puppen tanzen, lassen den üblichen Illustrierten-Standard weit hinter sich, Theo Schadt und Martin Walser gehen da konsequent einen Schritt weiter. In dem Gedichte schreibenden Theo Kroll, dem Verräter, könnte man zudem einen in München unübersehbaren Vertreter des literarischen Milieus wiedererkennen: Das hier waltende „Poetische“ karikiert Walser auf das Schmerzhafteste.
Die gefährlichste Lunte, die Walser in diesem Roman legt, verbirgt sich aber gleich am Anfang. Der Autor dankt „Thekla Chabbi“ und deren „schöpferischer Mitwirkung“. Diese Widmung ist automatisch ein Teil des Romans, in dem Leben und Schreiben programmatisch ineinander aufgelöst werden. Dass Thekla Chabbi wirklich existiert und im Internet als Hobby „Tangotanzen“ angibt, ist ein eher harmloses Indiz. In den geheimen Kern von Walsers Ästhetik dringt man aber vielleicht vor, wenn man weiterliest, dass Thekla Chabbi einmal mit dem Schlagersänger Guildo Horn verheiratet war – Guildo Horn, der Deutschland so glamourös beim Eurovision Song Contest 1995 vertrat!
Es ergeben sich ungeahnte Kombinationen und Interpretationsmöglichkeiten. Einer der zentralen, mehrfach vorkommenden Helden in Walsers Werk heißt Franz Horn. Er verkörpert einen Lieblingstopos des Autors: den ewig zu kurz gekommenen Kleinbürger, der sich in seinem zwangsläufigen Scheitern lustvoll räkelt. Guildo Horn wiederum wurde als „singende Nussecke“ berühmt. Ist es womöglich eine der Obsessionen Martin Walsers, die deutsche Literaturgeschichte als schreibende Nussecke zu zieren? Auf jeden Fall wäre das aber nur ein Teil des Menüs, das süße Dessert. Beim Hauptgericht handelt es sich zweifellos um einen veritablen Sonntagsbraten, der in seinem eigenen Saft schmurgelt und schmort.
Sie heißt Sina
und ist die „grellste Helle“
an der Ladenkasse
Der entflammte Autor lässt
sämtliche Realismustheorien
souverän hinter sich
Liebe und Tod – drunter tut es der Autor Marin Walser nun einmal nicht. Und doch kreisen sie beide nur wie Trabanten um das unverrückbare Zentrum seines Schreibens, den Mann in all seinen Höhen und Tiefen.
Foto: Karin Rocholl / Rowohlt Verlag
Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
288 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem neuen Roman „Ein sterbender Mann“ lässt Martin Walser noch einmal die Puppen tanzen – mit allem,
was dazugehört: Stiletto-Fantasien und Verzweiflungsartistik, Altersnarrheit und selbstironischer Virilität
VON HELMUT BÖTTIGER
Einer der letzten rasend hervorgebrachten Romane von Martin Walser hieß „Ein liebender Mann“; das war 2008. Der aktuelle Roman nun heißt „Ein sterbender Mann“. Darunter macht Walser es nicht. Liebend und sterbend, diese beiden die gesamte Emotionsskala halsbrecherisch rauf und runter schnellenden Adjektive, sind dabei aber gar nicht das Wesentliche. Sie kreisen bloß um das unverrückbare Zentrum, nämlich den „Mann“. Der 1927 geborene Walser widmet sich seit einiger Zeit noch intensiver als sonst dem Phänomen der Virilität. Dass es sich letztlich um seine eigene handelt, macht er sich und seinen Lesern fragend, nachfragend, bohrend und schürfend ständig bewusst, und zwar in einem unerhört ekstatischen Akt des Schreibens.
Selbstredend steht in diesen Texten die komplexe Mann-Frau-Thematik immer im Vordergrund. Gleichzeitig aber holt Walser sämtliche verfügbaren philosophischen, theologischen, gesellschaftspolitischen Implikationen mit in die Sätze hinein. Im Schreiben konzentriert sich die ganze Lebens- und Welterschöpfungs-Gier – in weiten rhetorischen Schwüngen, in sinnlich anmutenden Nebensatz-Verwicklungen und Wortfindungs-Steigerungen. Mit „Ein sterbender Mann“ scheint jetzt die letzte Stufe der das eigene Leben ausstellenden Schreibwut erreicht zu sein – natürlich denkt man bei diesem Titel sofort an den 88-jährigen Walser und seine geradezu Facebook-artig offensiven Selbstinszenierungen.
Walser, der manisch Belesene, weiß um die unvermeidlichen Fallen der Autobiografie. Deshalb sollte man den 72-jährigen Theo Schadt, der als Hauptfigur in seinem neuen Roman fungiert, nicht automatisch mit dem Autor gleichsetzen. Obwohl man schon bei dem skizzenhaft umrissenen Beruf hellhörig werden könnte: Schadt ist ein Unternehmer, der mit Erfindungen und Patenten handelt, einem Schriftsteller nicht ganz unähnlich. Und gleich zu Beginn schreibt dieser Schadt auch einen Brief an einen „Schriftsteller“, von dem man nicht weiß, in welcher Beziehung er zu ihm steht. Man ahnt, dass es eine Spiegelung von ihm ist, eine alte literarische Finte, genauso wie diejenige, dass der Erzähler je nach Lust und Laune zwischen der Ich- und der Er-Perspektive wechselt und zur Abwechslung aphoristische Sentenzen einstreut. Walser jongliert mit zwei, mit drei und plötzlich auch mit zunächst fünf Bällen, und es scheint ihn überhaupt nicht zu kümmern, dass da auch schnell mal einer herunterfallen kann.
Im Zentrum der Handlung steht ein Verrat. Theo Schadt hatte ursprünglich 44 Mitarbeiter in seiner Firma. Als sein engster Freund und Angestellter Theo Kroll dem großen Konkurrenten Oliver Schumm ein lukratives Geschäftsgeheimnis hinterbringt, muss er alle entlassen und in der Boutique seiner Frau in der Münchner Schellingstraße verschämt an der Ladenkasse sitzen. Das bildet den Dreh- und Angelpunkt des Romans. Ein anderer Energiequell ist natürlich sexuell konnotiert, jedoch ins Übersinnliche gesteigert: Schadt stellt an der Kasse einem weiblichen Wesen eine Rechnung aus, und da überwältigt ihn ein Lichtstrahl, eine „grellste Helle“. Sie heißt Sina und löst die Konvulsionen dieses Romans mindestens genauso stark aus wie der Verrat des einstmals besten Freundes. Dass diese beiden Kraftzentren im Verlauf der Handlung mehr miteinander zu tun haben, als es anfangs erscheint, ja, dass sie direkt aufeinander bezogen sind – das ist bewährtes, altes Romanhandwerk.
Schadts Frau Iris betreibt nicht irgendeinen x-beliebigen Laden, sondern es geht um exquisite Tango-Accessoires. Diverse Gürtel, Boleros, Netzstrümpfe und vor allem spezielle Tangotanzschuhe werden bildersatt beschworen, und dass der Wechsel von 8 cm hohen Stilettoabsätzen zu 9,5 cm hohen unweigerlich „Laute des reinen Entzückens“ im Tangoladen hervorruft, ist einer der Gefühlskerne des Romans. Walser lässt nichts aus. Er zelebriert krudeste Männerfantasien und spielt mit ihnen, er scheint überhaupt keine Scheu zu haben vor Kolportage, vor Klischees und der Nachmittag-Talkshows im Unterschichts-Fernsehen. Er mixt diese Bestandteile aber so unverfroren und zauberkunststückhaft und verbindet sie bruchlos mit letzten existenziellen Fragestellungen, dass man immer wieder frappiert ist.
Und wenn der Dampfkochtopf erst einmal richtig zischt, wenn die Betriebstemperatur am höchsten ist, dann kommen die Tod- und Selbstmord-Gedanken. Theo Schadt meldet sich, nachdem der „Verrat“ ihm das Selbstwertgefühl geraubt hat, im Internet in einem Suizid-Forum an. Sofort bändelt er mit einer sich „Aster“ nennenden Kandidatin an, deren Todeswunsch sie als „irreversibel“ angibt. Wie dieses Wörtchen anschließend durchdekliniert wird, wie vor dem Hintergrund von Gruft, Sinnlosigkeit und Kohlenmonoxid nun wilde Kapriolen zwischen Tragik und Komik geschlagen werden, das ist eine neue schaumkronenschlagende Variante des Walserschen Übertreibungs-und Überbordungs-Stils. Er nimmt die Rolle des Altersnarren an und gibt sie hemmungslos. Und in der spezifischen Verzweiflungsartistik, in die er seiner Figur Theo Schadt hineintreibt, bleibt von der Verzweiflung nur noch eine rhetorische Figur übrig, ein Ausdruck von Vergeblichkeit.
Dass sich jene „Aster“ und die „grellste Helle“-Frau im Ladengeschäft irgendwann vermengen, ist zwangsläufig wieder bewährtes, altes Romanhandwerk. Und dass manche Passagen direkt vom Stammtisch abgehört erscheinen, ebenfalls: Es gibt kraftprotzende Monologe, deren Pointen um Wörter wie „Arsch“ kreisen. Der Autor Walser lässt selbst komplizierteste Realismustheorien souverän hinter sich, das Unwahrscheinlichste, das Fantastischste wie das Krudeste ist ihm gerade recht, und in der Summe von alldem verbirgt sich das Unerreichbare, die Literatur.
Auch Schlüsselromaneffekte haben Walser schon immer gereizt. Mit Inbrunst beschreibt er Münchens besondere Parvenü- und Adabei-Szene und legt ein grobmaschiges Netz von Anspielungen aus. Schwerreiche Kapitalisten, um die Frauen und Puppen tanzen, lassen den üblichen Illustrierten-Standard weit hinter sich, Theo Schadt und Martin Walser gehen da konsequent einen Schritt weiter. In dem Gedichte schreibenden Theo Kroll, dem Verräter, könnte man zudem einen in München unübersehbaren Vertreter des literarischen Milieus wiedererkennen: Das hier waltende „Poetische“ karikiert Walser auf das Schmerzhafteste.
Die gefährlichste Lunte, die Walser in diesem Roman legt, verbirgt sich aber gleich am Anfang. Der Autor dankt „Thekla Chabbi“ und deren „schöpferischer Mitwirkung“. Diese Widmung ist automatisch ein Teil des Romans, in dem Leben und Schreiben programmatisch ineinander aufgelöst werden. Dass Thekla Chabbi wirklich existiert und im Internet als Hobby „Tangotanzen“ angibt, ist ein eher harmloses Indiz. In den geheimen Kern von Walsers Ästhetik dringt man aber vielleicht vor, wenn man weiterliest, dass Thekla Chabbi einmal mit dem Schlagersänger Guildo Horn verheiratet war – Guildo Horn, der Deutschland so glamourös beim Eurovision Song Contest 1995 vertrat!
Es ergeben sich ungeahnte Kombinationen und Interpretationsmöglichkeiten. Einer der zentralen, mehrfach vorkommenden Helden in Walsers Werk heißt Franz Horn. Er verkörpert einen Lieblingstopos des Autors: den ewig zu kurz gekommenen Kleinbürger, der sich in seinem zwangsläufigen Scheitern lustvoll räkelt. Guildo Horn wiederum wurde als „singende Nussecke“ berühmt. Ist es womöglich eine der Obsessionen Martin Walsers, die deutsche Literaturgeschichte als schreibende Nussecke zu zieren? Auf jeden Fall wäre das aber nur ein Teil des Menüs, das süße Dessert. Beim Hauptgericht handelt es sich zweifellos um einen veritablen Sonntagsbraten, der in seinem eigenen Saft schmurgelt und schmort.
Sie heißt Sina
und ist die „grellste Helle“
an der Ladenkasse
Der entflammte Autor lässt
sämtliche Realismustheorien
souverän hinter sich
Liebe und Tod – drunter tut es der Autor Marin Walser nun einmal nicht. Und doch kreisen sie beide nur wie Trabanten um das unverrückbare Zentrum seines Schreibens, den Mann in all seinen Höhen und Tiefen.
Foto: Karin Rocholl / Rowohlt Verlag
Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
288 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Wörter sind nun frei für neue Geschichten, neue Romane. Zum Beispiel für diesen herrlich leichten, selbstironischen, tragisch-schönen Roman des Theo-Erfinders Martin Walser. Volker Weidermann Der Spiegel
Der letzte Tango in München
Martin Walsers Roman "Ein sterbender Mann" ist eine absichtsvoll vertrackte Parodie über die Sprache der Liebe im Alter - und manche Kulturmenschen könnten sich darin wiedererkennen.
Mehr als schön ist nichts." Diesen Satz hat Martin Walser gleichsam als Köder für seinen neuen Roman ausgelegt. Der beginnt nämlich mit einem Brief an einen Schriftsteller, in dem sich der zweiundsiebzigjährige Theo Schadt über dessen Ausspruch beschwert. Er selbst sei nicht schön, deshalb müsse er sich gegen den Satz und seinen Autor zur Wehr setzen. Was er weiterhin über sich mitteilt, klingt allerdings verdächtig nach Martin Walsers Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit: "Ich reagiere lieber, als dass ich nachdenke. Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenklichkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfen werden kann, ist mir klar." Entsprechend erscheint Theo Schadt als Autor von "Ein sterbender Mann", der Roman besteht aus seinen Mitteilungen an den Schriftsteller, erst in der Ich-, später in der Er-Form. So betreibt Walser von vornherein ein Verwirrspiel mit der Autorschaft wie mit dem Begriff der Schönheit.
"Zu mir kommen die, die wie ich sind, die Verkrampften", schrieb Walser einmal in sein Tagebuch. Theo Schadt ist aber nicht nur wegen seines sprechenden Namens kein realistischer Briefschreiber, er ist eine Spielart des unzuverlässigen Erzählers. Was er zu berichten hat, erscheint als satirisch überzeichnete Folge einer verkrampften Wahrnehmung. Er besaß angeblich ein florierendes Unternehmen für Patentverwertungen nebst einer auf Naturprodukte spezialisierten Tochterfirma namens "Der Verschönerer". Außerdem sei er ein erfolgreicher Autor von Ratgeberliteratur gewesen, darunter einer "Anleitung zur Selbstbefriedigung". 98 Millionen Dollar habe er in die Produktion eines aus Schlangengift zu gewinnenden Mittels gegen Herzinfarkt investiert, dann jedoch sei er verraten worden und habe die Firma an seinen Hauptkonkurrenten verloren.
Der Verrat, über den der Leser nichts Genaues erfährt, scheint Schadts ausuferndes Mitteilungsbedürfnis zu bewirken, obendrein sorgt eine Krebsdiagnose für Torschlusspanik der Kommunikation und des Verhaltens. So beteiligt er sich an einem Suizidforum im Netz und trägt seine Geschichte in einer Talkshow vor. Er teilt eine Serie von Grandiositätsträumen sowie Aphorismen zum Alter mit und schreibt Eingaben an die Regierung der Art, sie möge "eine Propaganda gegen das Lesen in öffentlichen Verkehrsbetrieben" veranlassen, auf dass die Leute "einander wahrnehmen, erleben". Schließlich entdeckt Herr Schadt, das darf bei Walser nicht fehlen, in quasi mystischer Plötzlichkeit noch einmal die Liebe.
Der Verräter soll sein früherer, von ihm bewunderter Freund und Teilhaber Carlos Kroll sein, ein hochnäsiger Dichter, die Karikatur eines hermetischen Lyrikers, der behauptet, "seine Gedichte seien Sprachereignisse, die in dieser Zeit, in der das Mittelmaß triumphiere, gar nicht erkannt werden könnten". In der Konzeption der Figur hat Walser mit offensichtlichem Schalk alle bürgerlichen Ressentiments gegen die moderne Lyrik versammelt. Warum Herr Schadt jemanden bewundert hat, dessen Gedichtbände "Lichtdicht, Leichtlos, Lufthaft, Kettenscheu" oder auch "SeinsRiss" betitelt sind, ist einem der Lyrik geneigten Leser freilich schwer begreiflich. Carlos Kroll schwebt angeblich "ein Lyrik-Imperium à la Stefan George" vor, aber "keine elitäre Kunstkirche, sondern eine radikale Banalisierung". Dem werden die angeführten Beispiele allerdings gerecht: "Mit brennenden Füßen auf Eisschollen stehen, / vom Achtstundentag verschont, sich / preisgegeben, das Leben fürchtend / und den Tod, befreundet mit Frisuren." Das ist ganz lustig, wenn es sich nicht beim letzten Wort um einen Druckfehler handelt. Carlos versteht sich im Übrigen auch auf Kurzsätze à la Walser: "Man gleicht sich nicht."
Die Handlung des Romans spielt im Milieu des Münchner Bildungsbürgertums, das bekanntlich mehr als andernorts zur alternativen Freizeitgestaltung von Yoga bis zum Tangotanzen neigt, aber auch zum Mäzenatentum. Ein geeigneter Ort, die Kunst wie sich selbst zu feiern, ist das von Ursula Haeusgen gestiftete Lyrik Kabinett. Das ist angesichts des vielbeklagten Bedeutungsverlusts der Lyrik eine verdienstvolle Institution, gleichwohl ist es nicht schwer, sich über die weihevolle Stimmung bei den Lesungen ein wenig lustig zu machen. Herr Schadt kann dem auch nicht widerstehen, tut aber ganz naiv.
Bei der Preisverleihung an Carlos Kroll stürzt zunächst der betagte Vorsitzende des "Vereins für Gute Dichtung" auf das Podium. Die Laudatio hält dann, "graues Haargefluder um den Kopf, das nie eine Frisur erlebt hatte", ein Literaturprofessor der Münchner Universität. Der weiß zwar offenbar nicht, wann Georges Gedichtband "Das Jahr der Seele" erschienen ist, führt aber aus, dass Carlos Kroll "andauernd seine eigene Existenz in Sprachgesten erlebe, die immer das Ganze, das große Ganze, fassen und ausdrücken wollen". Die Parodie des Jargons der Eigentlichkeit ist ein bisschen billig und kommt auch sechzig Jahre zu spät, aber da außer auf George auch auf Enzensberger und Celan verwiesen wird, ahnt der Leser ein wenig Walsersche Hinterhältigkeit. Der Dichter dankt jedenfalls trocken dafür, dass er "bis zur Verständlichkeit heruntergeredet" worden ist.
Beim anschließenden Diner erklingen dann noch ein paar salbungsvolle Worte, ehe Herrenwitze der schlechteren Art erzählt werden, bei denen sich nicht unerwartet der Literaturprofessor besonders hervortut. Eine Figur aber, der Konsul Danielus, wird von der grobschlächtigen Satire verschont. Der spricht mit Wilhelm Grimm von der "Beweglichkeit der Sprache", in der "doch alle nur mitgeführte Figuren" seien. So könnten die Menschen einander nicht für das Gesagte verantwortlich machen, es habe aber, 1849 in der Paulskirche zu Frankfurt, einen Ort gegeben, an dem "phrasenfrei gesprochen werden konnte".
Das kann man von dem Suizidforum, an dem sich Herr Schadt unter dem Namen Franz von M. - nämlich "Moor" nach Schillers "Kanaille" - beteiligt, eher nicht sagen. Er verliebt sich zunächst in den Begriff "irreversibel", mit dem eine unter "Aster" firmierende Teilnehmerin ihren Entschluss zur Selbsttötung bezeichnet, und dann in die Person, die er sich vorstellt, teilt ihr aber zugleich mit, dass er kein "brauchbarer Mann" mehr ist.
Im Laden für Tangobedarf, den seine Frau Iris betreibt, an der Kasse sitzend, blickt er derweil plötzlich in dunkle Augen "aus einem blendenden Lichtgewoge". Die Augen gehören zu Sina Baldauf, für die Tangotanzen eine "Parallelwelt" darstellt. Mit ihr beginnt er einen ausufernden Briefwechsel, ihr will er nun "andauernd etwas Schönes sagen". Da wird dann Herr Schadt höchstselbst zum Lyriker: "Welt reimt sich auf Sinn, / wie sich Blüte auf Liebe reimt. / Ich fühle, dass in mir / immer etwas keimt." Damit nicht genug der Wesensveränderung, wegen dieser sprichwörtlichen Liebe auf den ersten Blick verlässt er das "schutzreiche Haus" seiner getreuen Ehefrau, der "göttlichen Iris".
Der Briefwechsel mit Sina Baldauf wie der mit "Aster" belegt Niklas Luhmanns Diktum, dass Liebe nicht in erster Linie ein Gefühl ist, sondern ein symbolisch generalisierendes Kommunikationsmedium. Unentwegt schreiben sie sich Schönes, bis sie glauben, dass sie etwas füreinander sind oder gar ohneeinander nicht sein können. Doch dann stellt sich alles, selbst die Eifersucht auf Sinas Tangoerlebnisse, als doppeltes Missverständnis heraus. Da eifert Herr Schadt dem alten Goethe nach und schreibt auch eine "Elegie". Und wie Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow könnte Sina sagen: "Eine Liebschaft war es nicht." Herrn Schadts Version der Entsagung besteht aber darin, dass er nun keinerlei Wirklichkeit mehr dulden will. "Ich bilde mir ein, was ist." Das ist deutscher Idealismus, der die Liebe als schöpferische Kraft feierte, die Erfüllung aber vor allem in schönen Briefen fand. Nicht zufällig gibt es bei der Preisverleihung im Lyrik Kabinett eine Gedenkminute für Karoline von Günderode, die sich am Rheinufer erdolchte, als sie ihre Liebe verraten fand. Auch in "Ein sterbender Mann" sind entsprechend Todesfälle zu beklagen, Herr Schadt aber bleibt am Leben.
Dem Schriftsteller teilt er mit, dass sein Satz "Mehr als schön ist nichts" verbessert werden muss wegen einer, die eben mehr als schön war. "Sie war alles." Das ist aber auch übertrieben. Daher meldet sich zum Schluss der nunmehr "so genannte Schriftsteller" nur noch mit ein paar apart formulierten Binsenweisheiten über das Vergehen der Zeit zu Wort.
In dem Faksimile eines handschriftlichen Briefes an die, "die damit zu tun haben", hat Martin Walser angeregt, den Roman als "Selbstportrait" und als Geschichte von einem zu lesen, der dem Tod nahe ist und dann feststellt, dass es schöner wäre, zu leben. Das ist aber nur eine weitere Finte in Walsers Spiel mit der Autorschaft. Wer eine ironisch-sentimentale Geschichte über die "Niederlage des Alters" erwartet, das Komische wie das Elegische der späten Liebestorheit, wird enttäuscht sein.
Denn "Ein sterbender Mann" ist ein trickreiches Kunststück, in dem Walser mit der Sprache absichtsvoll auch die überladene Konstruktion des Romans scheitern lässt. Der erfahrene Romancier demonstriert, dass er eine Welt aufbauen und wieder zusammenbrechen lassen kann. Das erregt die Bewunderung des Lesers, erreicht aber durch ein Übermaß an bis ins Alberne getriebener Parodie, die an Liebesverrat grenzt, nicht sein Herz.
FRIEDMAR APEL
Martin Walser: "Ein
sterbender Mann". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Walsers Roman "Ein sterbender Mann" ist eine absichtsvoll vertrackte Parodie über die Sprache der Liebe im Alter - und manche Kulturmenschen könnten sich darin wiedererkennen.
Mehr als schön ist nichts." Diesen Satz hat Martin Walser gleichsam als Köder für seinen neuen Roman ausgelegt. Der beginnt nämlich mit einem Brief an einen Schriftsteller, in dem sich der zweiundsiebzigjährige Theo Schadt über dessen Ausspruch beschwert. Er selbst sei nicht schön, deshalb müsse er sich gegen den Satz und seinen Autor zur Wehr setzen. Was er weiterhin über sich mitteilt, klingt allerdings verdächtig nach Martin Walsers Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit: "Ich reagiere lieber, als dass ich nachdenke. Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenklichkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfen werden kann, ist mir klar." Entsprechend erscheint Theo Schadt als Autor von "Ein sterbender Mann", der Roman besteht aus seinen Mitteilungen an den Schriftsteller, erst in der Ich-, später in der Er-Form. So betreibt Walser von vornherein ein Verwirrspiel mit der Autorschaft wie mit dem Begriff der Schönheit.
"Zu mir kommen die, die wie ich sind, die Verkrampften", schrieb Walser einmal in sein Tagebuch. Theo Schadt ist aber nicht nur wegen seines sprechenden Namens kein realistischer Briefschreiber, er ist eine Spielart des unzuverlässigen Erzählers. Was er zu berichten hat, erscheint als satirisch überzeichnete Folge einer verkrampften Wahrnehmung. Er besaß angeblich ein florierendes Unternehmen für Patentverwertungen nebst einer auf Naturprodukte spezialisierten Tochterfirma namens "Der Verschönerer". Außerdem sei er ein erfolgreicher Autor von Ratgeberliteratur gewesen, darunter einer "Anleitung zur Selbstbefriedigung". 98 Millionen Dollar habe er in die Produktion eines aus Schlangengift zu gewinnenden Mittels gegen Herzinfarkt investiert, dann jedoch sei er verraten worden und habe die Firma an seinen Hauptkonkurrenten verloren.
Der Verrat, über den der Leser nichts Genaues erfährt, scheint Schadts ausuferndes Mitteilungsbedürfnis zu bewirken, obendrein sorgt eine Krebsdiagnose für Torschlusspanik der Kommunikation und des Verhaltens. So beteiligt er sich an einem Suizidforum im Netz und trägt seine Geschichte in einer Talkshow vor. Er teilt eine Serie von Grandiositätsträumen sowie Aphorismen zum Alter mit und schreibt Eingaben an die Regierung der Art, sie möge "eine Propaganda gegen das Lesen in öffentlichen Verkehrsbetrieben" veranlassen, auf dass die Leute "einander wahrnehmen, erleben". Schließlich entdeckt Herr Schadt, das darf bei Walser nicht fehlen, in quasi mystischer Plötzlichkeit noch einmal die Liebe.
Der Verräter soll sein früherer, von ihm bewunderter Freund und Teilhaber Carlos Kroll sein, ein hochnäsiger Dichter, die Karikatur eines hermetischen Lyrikers, der behauptet, "seine Gedichte seien Sprachereignisse, die in dieser Zeit, in der das Mittelmaß triumphiere, gar nicht erkannt werden könnten". In der Konzeption der Figur hat Walser mit offensichtlichem Schalk alle bürgerlichen Ressentiments gegen die moderne Lyrik versammelt. Warum Herr Schadt jemanden bewundert hat, dessen Gedichtbände "Lichtdicht, Leichtlos, Lufthaft, Kettenscheu" oder auch "SeinsRiss" betitelt sind, ist einem der Lyrik geneigten Leser freilich schwer begreiflich. Carlos Kroll schwebt angeblich "ein Lyrik-Imperium à la Stefan George" vor, aber "keine elitäre Kunstkirche, sondern eine radikale Banalisierung". Dem werden die angeführten Beispiele allerdings gerecht: "Mit brennenden Füßen auf Eisschollen stehen, / vom Achtstundentag verschont, sich / preisgegeben, das Leben fürchtend / und den Tod, befreundet mit Frisuren." Das ist ganz lustig, wenn es sich nicht beim letzten Wort um einen Druckfehler handelt. Carlos versteht sich im Übrigen auch auf Kurzsätze à la Walser: "Man gleicht sich nicht."
Die Handlung des Romans spielt im Milieu des Münchner Bildungsbürgertums, das bekanntlich mehr als andernorts zur alternativen Freizeitgestaltung von Yoga bis zum Tangotanzen neigt, aber auch zum Mäzenatentum. Ein geeigneter Ort, die Kunst wie sich selbst zu feiern, ist das von Ursula Haeusgen gestiftete Lyrik Kabinett. Das ist angesichts des vielbeklagten Bedeutungsverlusts der Lyrik eine verdienstvolle Institution, gleichwohl ist es nicht schwer, sich über die weihevolle Stimmung bei den Lesungen ein wenig lustig zu machen. Herr Schadt kann dem auch nicht widerstehen, tut aber ganz naiv.
Bei der Preisverleihung an Carlos Kroll stürzt zunächst der betagte Vorsitzende des "Vereins für Gute Dichtung" auf das Podium. Die Laudatio hält dann, "graues Haargefluder um den Kopf, das nie eine Frisur erlebt hatte", ein Literaturprofessor der Münchner Universität. Der weiß zwar offenbar nicht, wann Georges Gedichtband "Das Jahr der Seele" erschienen ist, führt aber aus, dass Carlos Kroll "andauernd seine eigene Existenz in Sprachgesten erlebe, die immer das Ganze, das große Ganze, fassen und ausdrücken wollen". Die Parodie des Jargons der Eigentlichkeit ist ein bisschen billig und kommt auch sechzig Jahre zu spät, aber da außer auf George auch auf Enzensberger und Celan verwiesen wird, ahnt der Leser ein wenig Walsersche Hinterhältigkeit. Der Dichter dankt jedenfalls trocken dafür, dass er "bis zur Verständlichkeit heruntergeredet" worden ist.
Beim anschließenden Diner erklingen dann noch ein paar salbungsvolle Worte, ehe Herrenwitze der schlechteren Art erzählt werden, bei denen sich nicht unerwartet der Literaturprofessor besonders hervortut. Eine Figur aber, der Konsul Danielus, wird von der grobschlächtigen Satire verschont. Der spricht mit Wilhelm Grimm von der "Beweglichkeit der Sprache", in der "doch alle nur mitgeführte Figuren" seien. So könnten die Menschen einander nicht für das Gesagte verantwortlich machen, es habe aber, 1849 in der Paulskirche zu Frankfurt, einen Ort gegeben, an dem "phrasenfrei gesprochen werden konnte".
Das kann man von dem Suizidforum, an dem sich Herr Schadt unter dem Namen Franz von M. - nämlich "Moor" nach Schillers "Kanaille" - beteiligt, eher nicht sagen. Er verliebt sich zunächst in den Begriff "irreversibel", mit dem eine unter "Aster" firmierende Teilnehmerin ihren Entschluss zur Selbsttötung bezeichnet, und dann in die Person, die er sich vorstellt, teilt ihr aber zugleich mit, dass er kein "brauchbarer Mann" mehr ist.
Im Laden für Tangobedarf, den seine Frau Iris betreibt, an der Kasse sitzend, blickt er derweil plötzlich in dunkle Augen "aus einem blendenden Lichtgewoge". Die Augen gehören zu Sina Baldauf, für die Tangotanzen eine "Parallelwelt" darstellt. Mit ihr beginnt er einen ausufernden Briefwechsel, ihr will er nun "andauernd etwas Schönes sagen". Da wird dann Herr Schadt höchstselbst zum Lyriker: "Welt reimt sich auf Sinn, / wie sich Blüte auf Liebe reimt. / Ich fühle, dass in mir / immer etwas keimt." Damit nicht genug der Wesensveränderung, wegen dieser sprichwörtlichen Liebe auf den ersten Blick verlässt er das "schutzreiche Haus" seiner getreuen Ehefrau, der "göttlichen Iris".
Der Briefwechsel mit Sina Baldauf wie der mit "Aster" belegt Niklas Luhmanns Diktum, dass Liebe nicht in erster Linie ein Gefühl ist, sondern ein symbolisch generalisierendes Kommunikationsmedium. Unentwegt schreiben sie sich Schönes, bis sie glauben, dass sie etwas füreinander sind oder gar ohneeinander nicht sein können. Doch dann stellt sich alles, selbst die Eifersucht auf Sinas Tangoerlebnisse, als doppeltes Missverständnis heraus. Da eifert Herr Schadt dem alten Goethe nach und schreibt auch eine "Elegie". Und wie Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow könnte Sina sagen: "Eine Liebschaft war es nicht." Herrn Schadts Version der Entsagung besteht aber darin, dass er nun keinerlei Wirklichkeit mehr dulden will. "Ich bilde mir ein, was ist." Das ist deutscher Idealismus, der die Liebe als schöpferische Kraft feierte, die Erfüllung aber vor allem in schönen Briefen fand. Nicht zufällig gibt es bei der Preisverleihung im Lyrik Kabinett eine Gedenkminute für Karoline von Günderode, die sich am Rheinufer erdolchte, als sie ihre Liebe verraten fand. Auch in "Ein sterbender Mann" sind entsprechend Todesfälle zu beklagen, Herr Schadt aber bleibt am Leben.
Dem Schriftsteller teilt er mit, dass sein Satz "Mehr als schön ist nichts" verbessert werden muss wegen einer, die eben mehr als schön war. "Sie war alles." Das ist aber auch übertrieben. Daher meldet sich zum Schluss der nunmehr "so genannte Schriftsteller" nur noch mit ein paar apart formulierten Binsenweisheiten über das Vergehen der Zeit zu Wort.
In dem Faksimile eines handschriftlichen Briefes an die, "die damit zu tun haben", hat Martin Walser angeregt, den Roman als "Selbstportrait" und als Geschichte von einem zu lesen, der dem Tod nahe ist und dann feststellt, dass es schöner wäre, zu leben. Das ist aber nur eine weitere Finte in Walsers Spiel mit der Autorschaft. Wer eine ironisch-sentimentale Geschichte über die "Niederlage des Alters" erwartet, das Komische wie das Elegische der späten Liebestorheit, wird enttäuscht sein.
Denn "Ein sterbender Mann" ist ein trickreiches Kunststück, in dem Walser mit der Sprache absichtsvoll auch die überladene Konstruktion des Romans scheitern lässt. Der erfahrene Romancier demonstriert, dass er eine Welt aufbauen und wieder zusammenbrechen lassen kann. Das erregt die Bewunderung des Lesers, erreicht aber durch ein Übermaß an bis ins Alberne getriebener Parodie, die an Liebesverrat grenzt, nicht sein Herz.
FRIEDMAR APEL
Martin Walser: "Ein
sterbender Mann". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main