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das zu den
Sternen flog
Vor einem Jahr starb der Dichter SAID
in München. Aus seinem Nachlass
sind jüngst die Erinnerungen
an seine Jugend in Iran erschienen,
in denen ein „vibrierendes Kind“
sich in die Ferne träumt
VON ANTJE WEBER
Das Kind ist oft krank. Dann liegt es im Haus und schwebt nur in Gedanken ins Freie. Es klettert seine Lieblingspalme hoch, fliegt von dort aus hinauf in den Himmel und betrachtet die Welt von oben. „in den klaren nächten fliegt es sogar zu den sternen. / das kind fliegt fort – wann immer es nötig ist.“
Der kurze Text „fortgeflogen“, auf den ersten Seiten des Buches „Ein vibrierendes Kind“ zu finden, erzählt nicht nur manches über die Kindheit von SAID, sondern auch über seine ganz eigene Art, sich als Dichter die Welt anzuverwandeln. Am 15. Mai vor einem Jahr ist der 1947 in Teheran geborene Schriftsteller gestorben; seit 1965 lebte er in München. „Ein vibrierendes Kind“ versammelt nun die „Erinnerungen an eine persische Kindheit“ aus seinem Nachlass – schon vor Jahren schickte SAID das fertige Manuskript an seinen Freund Michael Scholz, wie der im Nachwort erzählt.
Dieses Buch bietet eine gute Gelegenheit, sich noch einmal aus neuer Perspektive diesem Schriftsteller zu nähern, der vielfach für seine zahlreichen Bücher ausgezeichnet wurde, Prosabände wie „Der lange Arm der Mullahs“, Gedichtbände wie „wo ich sterbe ist meine fremde“ – und der sich zudem für Kollegen, die ein ähnliches Exil-Schicksal wie er teilten, über lange Jahre als PEN-Präsidiumsmitglied und Präsident einsetzte.
„Ein vibrierendes Kind“ führt die Leser in die Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre in Iran, und damit in eine in jeder Hinsicht längst versunkene Zeit. SAID macht es den Lesern leicht, darin einzutauchen: Er hat seine Erinnerungen als eine Art Langgedicht konzipiert, in vielen kurzen, poetisch aufgeladenen Sequenzen luftig über die Seiten verteilt. Und so bewusst einfach und prägnant die Sprache typischerweise bei diesem Schriftsteller auch ist, so sehr haben es neben aller atmosphärischen Intensität die aufgerufenen Anekdoten inhaltlich in sich.
Natürlich steht das Autobiografische im Vordergrund. Das Kind wird in eine konfliktreiche Beziehung hineingeboren – die Mutter ist bei der Geburt 14 Jahre alt, die Eltern sind zu diesem Zeitpunkt bereits wieder geschieden, SAID wächst beim Vater auf. Hat er sich über die Jahrzehnte in mehreren Büchern mit der fremd gebliebenen Mutter beschäftigt, so setzt er nun dem Vater ein Denkmal – einem Offizier der persischen Armee, vom Sohn sehr geliebt, doch allzu oft unterwegs. Das „kind“, wie Said es in diesem Text stets neutral nennt, wächst in immer neuen Häusern bei einer herben Großmutter, liebevolleren Tanten und wechselnden Frauen des Vaters auf. Es ist ein verträumter Junge, der in der Schule „ich“ sagt, wo alle „wir“ sagen sollen. Der sich nachmittags im Hinterhof „gegen die vernunft der erwachsenen“ wehrt, mit dem Regen spricht, sich nach einer „ungezähmten landschaft“ sehnt, unbekannten Ufern – und wartet.
Gleichzeitig entgeht diesem verträumten Kind nichts. Es nimmt die veränderte Stimmung im Haus nach dem Putsch 1953 wahr, als einstige Kameraden des Vaters in Teheran hingerichtet werden. Es bemerkt, ohne es als solche benennen zu können, jede Menge Diskriminierung und Rassismus, wie etwa die Rechtlosigkeit von Dienstmädchen, die sich sogar von Kindern demütigen und sexuell missbrauchen lassen müssen. Auch die grausame Lust am Opfertierkult, wenn ein Kamel elend getötet wird, brennt sich in das Gedächtnis des Kindes ein.
Es ist eine vibrierende Welt, der sich ein hochbegabter Junge mit seinen Krankheiten zu entziehen scheint – und mit den Träumen von einer anderen, europäischen Welt. Als Jugendlicher verschlingt SAID die Bücher von Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Maxim Gorki, Stendhal, heimlich bei fliegenden Händlern ergattert. „Mit geballter faust liest das kind und weiß, dieses europa bedeutet freiheit.“
Dass das Versprechen der Freiheit auch in Europa nicht immer und überall eingelöst wird, dass ein Leben in der Fremde (das für SAID nach seinen Protesten gegen das Schah-Regime bald zum erzwungenen Exil wurde) von vielen Enttäuschungen geprägt ist, hat dieser Schriftsteller immer wieder thematisiert. In diesem letzten Buch jedoch stehen die Zeichen noch auf Aufbruch, darf am Ende der Siebzehnjährige 1965 mit dem Segen des Vaters zum Studium nach Deutschland entschwinden: „das kind flüchtet aus der kindheit.“ Und zumindest einer seiner Träume wird wahr.
SAID: Ein vibrierendes Kind. Erinnerungen an eine persische Kindheit. C.H. Beck, München 2022, 272 Seiten, 23 Euro
Das Buch führt die Leser
in eine versunkene Zeit,
die Fünfzigerjahre in Iran
1965 kam SAID zum Studium nach München - und blieb. Hier eine Aufnahme aus dem Jahr 2016. Foto: Stephan Rumpf
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mirko Bonné
"Das Buch führt die Leser in eine versunkene Zeit, die Fünfzigerjahre in Iran. "
Süddeutsche Zeitung, Antje Weber
"Diese hart erarbeitete Simplizität ermöglicht SAIDs Lesern, sich vollkommen selbstverständlich und sicher in den erzählten Welten zu bewegen. Um dann offen für Überraschungen zu sein."
Deutschlandfunk, Christian Metz
"Voller Wehmut und Schönheit, heiter, melancholisch und plastisch"
Bayern2 Diwan, Cornelia Zetzsche
"Was er seit 2014 publizieren wollte, wurde nun erst, ein Jahr nach seinem Tod, ein Buch. Es bietet viel mehr als die Erinnerungen an eine Kindheit ohne Mutter, mit ständiger Sehnsucht nach dem Vater. ... SAID erzählt berührende Szenen."
Die Furche, Brigitte Schwens-Harrant
"lässt die untergangene Welt seiner Kindheit und Jugend wiederauferstehen ... und zwar so bildhaft, dass man SAIDs Damals beim Lesen zu riechen, zu hören, zu schmecken und zu spüren meint" Falter, Julia Kospach
"Wunderbares Buch"
MÜNCHNER FEUILLETON, Florian Welle
"Ein Buch, das gut in unsere Zeit passt, in der Intoleranz, Nationalismus und Fundamentalismus immer stärker zu werden drohen und in der Toleranz und Offenheit gegenüber Fremden umso mehr gefordert sind."
Der Kreuzer, Joachim Schwend