Ein Mann kommt nach Hause, badet seinen kleinen Sohn, liebt seine Frau und verlässt dann das Idyll. Er läuft durch einen Gang, bis er eine Türklinke sieht und den Raum dahinter betritt. Als Getriebener, in wechselnden Identitäten, mal Mann, mal Frau, hetzt er durch ein Labyrinth immer neuer Szenerien. Jede Tür führt in neue Abgründe, geprägt von Sex, Macht und Gewalt, aus denen sich der Erzähler jeweils durch einen Sprung in klares Wasser rettet, bis aus dem Herumirren eine Suche wird – doch nach was?
Jonathan Littell hat sein Buch „ Eine alte Geschichte“ neu- und fortgeschrieben. Er erspart seinen Lesern nichts. Doch genau darum geht es Littell: Er gestattet uns nicht zu vergessen, dass nichts ungeheurer ist als der Mensch.
Jonathan Littell hat sein Buch „ Eine alte Geschichte“ neu- und fortgeschrieben. Er erspart seinen Lesern nichts. Doch genau darum geht es Littell: Er gestattet uns nicht zu vergessen, dass nichts ungeheurer ist als der Mensch.
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buecher-magazin.deEin Buch wie ein Donnerschlag. Obsessiv, ganz offensichtlich an die "120 Tage von Sodom" des Marquis de Sade erinnernd, fliegt das Erzähler-Ich durch diesen Text, besser gesagt, es läuft und schwimmt durch ihn hindurch, denn die immer wiederkehrenden Passagen, in denen das Ich von Szenerie zu Szenerie läuft und ihr durch einen Sprung ins kalte Wasser wieder entkommt, sind die Scharniere der nicht enden wollenden Orgien, die Littell in seinem Text stattfinden lässt. Das Buch ist ganz sicher keine entspannte Gute-Nacht-Lektüre, doch wird das wohl auch niemand erwarten, der Littells Duktus bereits kennt. Für die, die sich darauf einlassen, ist es eine Tour de Force durch die menschliche Begierde in all ihren Ausprägungen, ein fluides Geschlechtererlebnis jenseits aller verkrampfter Gender-Debatten, geprägt allein von der Suche nach Wahrhaftigkeit, Lust und dem intensiven Erlebnis des eigenen Ich. Dass dieses Ich sich auf der Suche nach sich selbst fortwährend verliert, gehört zu den zentralen Paradoxien des Textes, die ihn gleichzeitig zum Erlebnis, aber auch zeitweilig schwer erträglich machen. Wer also rauschhafte Texte, die sich dem Innersten des Menschen widmen, mag, wird hier ganz hervorragend bedient.
© BÜCHERmagazin, Carsten Tergast (ct)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2019Siebenmal leben
Jonathan Littells neuer Roman wiederholt immer wieder aufs Neue die gleiche Sequenz
Ein paar letzte Schwimmzüge, dann ein energischer Schwung aus dem Wasser auf den Beckenrand und die Figur steht wassertriefend vor uns. Kaum getrocknet und angekleidet, macht sie sich davon durch einen grauen Flur und verschwindet durch eine Tür in ihrer Lebenswelt: ein Haus mit Garten, ein Hotelzimmer, eine belebte Straße, ein Niemandsland. Und dies siebenmal nacheinander.
Siebenmal hintereinander folgen wir in diesem Buch demselben Ereignisablauf. Auftauchen aus dem Wasserbecken des Hallenbads, Losrennen durch einen Flur, Ankommen im Haus mit den zur Schlacht aufgestellten Bleisoldaten im Kinderzimmer, einer Katze, die um die Beine streicht, einer Reproduktion von Leonardos „Dame mit dem Hermelin“ an der Wand, Musik „Don Giovannis“ aus dem Salon. Und doch gelangt man jedes Mal in eine andere Geschichte. Mal ist die Erzählfigur ein Mann, mal eine Frau, mal ist sie älter, mal jünger. Mal befindet sie sich zu Hause sofort beim Liebesakt im Bett, mal im Ehekrach. Mal ist Krieg, mal Frieden.
Es ist in diesem Buch, als würde ein einziger Erzählstrang in ein Spektrum unterschiedlicher Fäden aufgedröselt. Ein festes Lebensmuster verrutscht zur offenen Kombinatorik, eine Figur läuft Stafette durch ihre möglichen Lebensläufe. Ein Roman macht sich zum Hologramm seiner selbst. Ist das nun ein literarisches Experiment? Ein Spiel mit den Formen in der Art Arno Schmidts oder Georges Perecs? Der Versuch eines kubistischen Erzählstils mit Vielfachperspektive?
Es ist der erste Roman Jonathan Littells seit seinem internationalen Bestseller „Die Wohlgesinnten“ über den SS-Offizier Maximilian Aue von 2006. Nicht aber sein erstes erzählendes Buch. Unter demselben Titel „Eine alte Geschichte“ erschien 2012 ein Band von ihm. Er enthielt bereits zwei Sequenzen des Emporsteigens aus dem Schwimmbecken und des Losrennens ins eigene Leben.
Nach dem Erscheinen jenes Bandes habe sich jedoch herausgestellt, dass der Stoff für ihn noch nicht erledigt sei, dass er weiter in ihm rumorte, erklärte der Autor beim Erscheinen dieser „neuen Version“. So habe er nicht anders gekonnt, als sich noch einmal hinzusetzen und weiterzuschreiben, nicht einfach als Fortsetzung, sondern als Weiterschreiben der ganzen Geschichte.
Was ändert es aber, ob eine jeweils immer wieder andere Figur zweimal oder siebenmal aus dem Wasser steigt? Der Unterschied ist vergleichbar mit dem zwischen einem zwei- und einem siebenflügeligen Tafelbild. Was sich ändert, ist der Gesamteindruck. Man hat nicht mehr einen Doppelflügel, sondern ein Panorama vor sich. Gleichzeitig erinnern die Sequenzen in der mehrfachen Wiederholung an ein Daumenkino mit dem immer selben Bewegungsablauf. Und in dieser Spannung zwischen einer kinematografisch sich jagenden Bilderflucht und der Statik eines Flügelbilds oszilliert der ganze Roman.
Man glaubt hinter dem Dauerspurt durch die austauschbare Alltagswelt die Schablonen unserer individuellen Selbstverwirklichungswünsche zu erkennen: Fit bleiben, elterliche Verantwortung tragen, Berufsziel erreichen, amouröse oder sonstige Eskapaden ins Leben einbauen. Plötzlich erstarrt die Bewegung durch die stete Wiederholung aber im Abstrusen, Fremdartigen, Grotesken.
Das vermeintlich Eigene ist nur die wechselnde Spielform eines Verhaltensmusters mit dem Gewinde eines ewigen Umgangs. So könnte man sich die tiefere Bedeutung dieses seltsamen Buchs zusammenreimen. Vorgeführt wird ein Stück vorgestanzter Lebenszeit, das durchzogen ist von jähen Anläufen zum Ausbruch, wie die Zuckungen eines Hundes an der Leine beim immer selben täglichen Rundgang.
Das könnte reizvoll sein wie das Abhören einer altbekannten Melodie auf der Schallplatte, auf der die Nadel manchmal ein paar Rillen verrutscht. Dieser in die Länge sich ziehende Roman neigt jedoch in der Wiederholung mitunter zur Monotonie. Statt der Zuckungen des Ungewissen drängt sich beim Lesen der Eindruck von Gleichförmigkeit auf. Der siebenfache Parcours der Erzählfigur führt eher ins Klischee als in den Horizont einer Geschichte. Obwohl die Figur in der Ich-Form spricht, wirkt sie, als wäre sie ferngesteuert. Alles, was mit ihr geschieht, erscheint wie durch ein Mikroskop oder durch ein Fernrohr betrachtet: faktisch, klinisch, kalt. Das durchgehende Imperfekt verstärkt diesen Effekt, als verfolgten wir die fortlaufende Genmutation eines Lebewesens der Gattung „Mensch“, das so etwas wie Verworrenheit und Geheimnis nicht kennt und das für die Erfahrung von Schicksal unempfänglich bleibt.
Dank dem Übersetzer liest sich das in der sprachlich subtil aufgerauten deutschen Fassung etwas lebendiger als im glatten französischen Original, die Sache bekommt sogar Profil. So dreht man, bald vorwärts, bald rückwärts blätternd, weiter am Gewinde dieses seltsamen Romans und staunt, wie viel Ungeheuerlichkeit nach wie vor in einer so alten Geschichte wohnt.
JOSEPH HANIMANN
Obwohl die Figur in
der Ich-Form spricht, wirkt sie
wie ferngesteuert
Für seinen vor allem in Deutschland kontrovers aufgenommenen Roman „Die Wohlgesinnten“ erhielt er 2006 den Prix Goncourt: der französisch-amerikanische Autor, Journalist und Filmemacher Jonathan Littell
Foto: ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/AFP
Jonathan Littell: Eine alte Geschichte. Neue Version. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Hanser Berlin, 2019. 334 Seiten. 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jonathan Littells neuer Roman wiederholt immer wieder aufs Neue die gleiche Sequenz
Ein paar letzte Schwimmzüge, dann ein energischer Schwung aus dem Wasser auf den Beckenrand und die Figur steht wassertriefend vor uns. Kaum getrocknet und angekleidet, macht sie sich davon durch einen grauen Flur und verschwindet durch eine Tür in ihrer Lebenswelt: ein Haus mit Garten, ein Hotelzimmer, eine belebte Straße, ein Niemandsland. Und dies siebenmal nacheinander.
Siebenmal hintereinander folgen wir in diesem Buch demselben Ereignisablauf. Auftauchen aus dem Wasserbecken des Hallenbads, Losrennen durch einen Flur, Ankommen im Haus mit den zur Schlacht aufgestellten Bleisoldaten im Kinderzimmer, einer Katze, die um die Beine streicht, einer Reproduktion von Leonardos „Dame mit dem Hermelin“ an der Wand, Musik „Don Giovannis“ aus dem Salon. Und doch gelangt man jedes Mal in eine andere Geschichte. Mal ist die Erzählfigur ein Mann, mal eine Frau, mal ist sie älter, mal jünger. Mal befindet sie sich zu Hause sofort beim Liebesakt im Bett, mal im Ehekrach. Mal ist Krieg, mal Frieden.
Es ist in diesem Buch, als würde ein einziger Erzählstrang in ein Spektrum unterschiedlicher Fäden aufgedröselt. Ein festes Lebensmuster verrutscht zur offenen Kombinatorik, eine Figur läuft Stafette durch ihre möglichen Lebensläufe. Ein Roman macht sich zum Hologramm seiner selbst. Ist das nun ein literarisches Experiment? Ein Spiel mit den Formen in der Art Arno Schmidts oder Georges Perecs? Der Versuch eines kubistischen Erzählstils mit Vielfachperspektive?
Es ist der erste Roman Jonathan Littells seit seinem internationalen Bestseller „Die Wohlgesinnten“ über den SS-Offizier Maximilian Aue von 2006. Nicht aber sein erstes erzählendes Buch. Unter demselben Titel „Eine alte Geschichte“ erschien 2012 ein Band von ihm. Er enthielt bereits zwei Sequenzen des Emporsteigens aus dem Schwimmbecken und des Losrennens ins eigene Leben.
Nach dem Erscheinen jenes Bandes habe sich jedoch herausgestellt, dass der Stoff für ihn noch nicht erledigt sei, dass er weiter in ihm rumorte, erklärte der Autor beim Erscheinen dieser „neuen Version“. So habe er nicht anders gekonnt, als sich noch einmal hinzusetzen und weiterzuschreiben, nicht einfach als Fortsetzung, sondern als Weiterschreiben der ganzen Geschichte.
Was ändert es aber, ob eine jeweils immer wieder andere Figur zweimal oder siebenmal aus dem Wasser steigt? Der Unterschied ist vergleichbar mit dem zwischen einem zwei- und einem siebenflügeligen Tafelbild. Was sich ändert, ist der Gesamteindruck. Man hat nicht mehr einen Doppelflügel, sondern ein Panorama vor sich. Gleichzeitig erinnern die Sequenzen in der mehrfachen Wiederholung an ein Daumenkino mit dem immer selben Bewegungsablauf. Und in dieser Spannung zwischen einer kinematografisch sich jagenden Bilderflucht und der Statik eines Flügelbilds oszilliert der ganze Roman.
Man glaubt hinter dem Dauerspurt durch die austauschbare Alltagswelt die Schablonen unserer individuellen Selbstverwirklichungswünsche zu erkennen: Fit bleiben, elterliche Verantwortung tragen, Berufsziel erreichen, amouröse oder sonstige Eskapaden ins Leben einbauen. Plötzlich erstarrt die Bewegung durch die stete Wiederholung aber im Abstrusen, Fremdartigen, Grotesken.
Das vermeintlich Eigene ist nur die wechselnde Spielform eines Verhaltensmusters mit dem Gewinde eines ewigen Umgangs. So könnte man sich die tiefere Bedeutung dieses seltsamen Buchs zusammenreimen. Vorgeführt wird ein Stück vorgestanzter Lebenszeit, das durchzogen ist von jähen Anläufen zum Ausbruch, wie die Zuckungen eines Hundes an der Leine beim immer selben täglichen Rundgang.
Das könnte reizvoll sein wie das Abhören einer altbekannten Melodie auf der Schallplatte, auf der die Nadel manchmal ein paar Rillen verrutscht. Dieser in die Länge sich ziehende Roman neigt jedoch in der Wiederholung mitunter zur Monotonie. Statt der Zuckungen des Ungewissen drängt sich beim Lesen der Eindruck von Gleichförmigkeit auf. Der siebenfache Parcours der Erzählfigur führt eher ins Klischee als in den Horizont einer Geschichte. Obwohl die Figur in der Ich-Form spricht, wirkt sie, als wäre sie ferngesteuert. Alles, was mit ihr geschieht, erscheint wie durch ein Mikroskop oder durch ein Fernrohr betrachtet: faktisch, klinisch, kalt. Das durchgehende Imperfekt verstärkt diesen Effekt, als verfolgten wir die fortlaufende Genmutation eines Lebewesens der Gattung „Mensch“, das so etwas wie Verworrenheit und Geheimnis nicht kennt und das für die Erfahrung von Schicksal unempfänglich bleibt.
Dank dem Übersetzer liest sich das in der sprachlich subtil aufgerauten deutschen Fassung etwas lebendiger als im glatten französischen Original, die Sache bekommt sogar Profil. So dreht man, bald vorwärts, bald rückwärts blätternd, weiter am Gewinde dieses seltsamen Romans und staunt, wie viel Ungeheuerlichkeit nach wie vor in einer so alten Geschichte wohnt.
JOSEPH HANIMANN
Obwohl die Figur in
der Ich-Form spricht, wirkt sie
wie ferngesteuert
Für seinen vor allem in Deutschland kontrovers aufgenommenen Roman „Die Wohlgesinnten“ erhielt er 2006 den Prix Goncourt: der französisch-amerikanische Autor, Journalist und Filmemacher Jonathan Littell
Foto: ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/AFP
Jonathan Littell: Eine alte Geschichte. Neue Version. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Hanser Berlin, 2019. 334 Seiten. 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2019Ein Fall für die Psychoanalyse
Jonathan Littell steckt in einem Albtraum fest
Vor drei Jahren erschien von Jonathan Littell ein schmales Buch mit dem Titel "Eine alte Geschichte". Es enthielt eigentlich zwei Geschichten, nämlich unterschiedliche Versionen eines Traumes. Er beginnt mit einem Schwimmbadbesuch, dann taucht man ab in eine Unterwelt aus Sex, Gewalt und sexueller Gewalt (F.A.Z. vom 9. Juni 2016).
Jetzt erscheint sein Buch "Eine alte Geschichte. Neue Version". Aber eigentlich müsste es heißen: "Neue Versionen", denn es enthält sieben weitere Traumversionen, basierend auf demselben Grundmaterial: Schwimmbad, Verirrung in dunklen Gängen, immr neue Zimmer, Spiegel-Schreckbilder, "das Kind", "die Frau", konkreter wird es nicht. Und dann folgen Schenkel, zuckend, Brüste "wie Äpfel", "Schwanz", schlaff, steif, "Eier", "Arsch", "gekreuzigt von Lust", "groteske Verschlingung der Leiber", "Gestank von Sperma und Scheiße", Frau mit Mann, Mann auf Mann, Mann mit Frau, die aber trotzdem einen Schwanz hat: Verschiebung und Verdichtung, wie sie sich im Traum gehört, doch von welchem und von wessen Wirklichkeitsmaterial? Das erfährt man auch in der Maxi-Version von mehr als dreihundert Seiten nicht, die nun als "Roman" ausgegeben wird. Aber ein Roman ist das bei aller Liebe nicht, es bleibt eine lange Schreibübung, die obsessiv um ein paar Symbole, Motive und Schreckbilder kreist - warum, bleibt offen.
Der Stoff habe seinen Schöpfer gepackt und ihm keine Ruhe gelassen, erfährt man über Littells Motivation der Fortschreibung. Was man über diese noch sagen kann: Die Kriegsszenarien, in die auch das erste Buch schon umschlug, sind hier deutlich ausgeweitet, es gibt Todesschwadronen in Uniform und Kindersoldaten, die einander auf grausamste Weise den Garaus machen - aber auch diese Bezüge bleiben so unkronkret wie die Identität der Figuren. Das alles mag irgendwie inspiriert sein von den furchtbaren Erlebnissen Littells als Reporter (etwa im syrischen Homs oder bei der "Lord's Resistance Army" in Uganda). Was aber, jedes Kontexts beraubt, die bloßen Gewaltschilderungen hier für eine literarische Funktion haben sollen, ist rätselhaft. Erst der paratextuelle Umweg über Littells Reportagen oder seinen umstrittenen Nazi-Roman "Die Wohlgesinnten" (2006) führt dann dazu, dass man anhand des vorliegenden Krypto-Textes Überlegungen zum faschistischen Männertypus und weiteren historischen Bezügen anstellt, die sich aus dem Text selbst aufgrund seiner Vagheit kaum ergeben würden.
Alles in allem ist das ein Fall für die Psychoanalyse, vielleicht noch für die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Sie mag dann lange darüber spekulieren, was die Anspielungen auf Mozarts "Don Giovanni" oder Da Vincis "Dame mit dem Hermelin" zu bedeuten haben - die man allerdings auch für sehr gewollte Überhöhungsversuche eines über weite Strecken in Gewaltpornographie schwelgenden Textes halten kann, der dabei nicht eben originelle Sprache verwendet. Seine Unentschiedenheit zwischen Derbheit und Poetisierungswunsch (vor allem bei Gesäß-Metpahern) mag in einem Traum möglich sein, hier wirkt sie nur merkwürdig schief.
JAN WIELE
Jonathan Littell: "Eine alte Geschichte". Neue Version.
Hanser Berlin Verlag,
Berlin/München 2019.
334 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jonathan Littell steckt in einem Albtraum fest
Vor drei Jahren erschien von Jonathan Littell ein schmales Buch mit dem Titel "Eine alte Geschichte". Es enthielt eigentlich zwei Geschichten, nämlich unterschiedliche Versionen eines Traumes. Er beginnt mit einem Schwimmbadbesuch, dann taucht man ab in eine Unterwelt aus Sex, Gewalt und sexueller Gewalt (F.A.Z. vom 9. Juni 2016).
Jetzt erscheint sein Buch "Eine alte Geschichte. Neue Version". Aber eigentlich müsste es heißen: "Neue Versionen", denn es enthält sieben weitere Traumversionen, basierend auf demselben Grundmaterial: Schwimmbad, Verirrung in dunklen Gängen, immr neue Zimmer, Spiegel-Schreckbilder, "das Kind", "die Frau", konkreter wird es nicht. Und dann folgen Schenkel, zuckend, Brüste "wie Äpfel", "Schwanz", schlaff, steif, "Eier", "Arsch", "gekreuzigt von Lust", "groteske Verschlingung der Leiber", "Gestank von Sperma und Scheiße", Frau mit Mann, Mann auf Mann, Mann mit Frau, die aber trotzdem einen Schwanz hat: Verschiebung und Verdichtung, wie sie sich im Traum gehört, doch von welchem und von wessen Wirklichkeitsmaterial? Das erfährt man auch in der Maxi-Version von mehr als dreihundert Seiten nicht, die nun als "Roman" ausgegeben wird. Aber ein Roman ist das bei aller Liebe nicht, es bleibt eine lange Schreibübung, die obsessiv um ein paar Symbole, Motive und Schreckbilder kreist - warum, bleibt offen.
Der Stoff habe seinen Schöpfer gepackt und ihm keine Ruhe gelassen, erfährt man über Littells Motivation der Fortschreibung. Was man über diese noch sagen kann: Die Kriegsszenarien, in die auch das erste Buch schon umschlug, sind hier deutlich ausgeweitet, es gibt Todesschwadronen in Uniform und Kindersoldaten, die einander auf grausamste Weise den Garaus machen - aber auch diese Bezüge bleiben so unkronkret wie die Identität der Figuren. Das alles mag irgendwie inspiriert sein von den furchtbaren Erlebnissen Littells als Reporter (etwa im syrischen Homs oder bei der "Lord's Resistance Army" in Uganda). Was aber, jedes Kontexts beraubt, die bloßen Gewaltschilderungen hier für eine literarische Funktion haben sollen, ist rätselhaft. Erst der paratextuelle Umweg über Littells Reportagen oder seinen umstrittenen Nazi-Roman "Die Wohlgesinnten" (2006) führt dann dazu, dass man anhand des vorliegenden Krypto-Textes Überlegungen zum faschistischen Männertypus und weiteren historischen Bezügen anstellt, die sich aus dem Text selbst aufgrund seiner Vagheit kaum ergeben würden.
Alles in allem ist das ein Fall für die Psychoanalyse, vielleicht noch für die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Sie mag dann lange darüber spekulieren, was die Anspielungen auf Mozarts "Don Giovanni" oder Da Vincis "Dame mit dem Hermelin" zu bedeuten haben - die man allerdings auch für sehr gewollte Überhöhungsversuche eines über weite Strecken in Gewaltpornographie schwelgenden Textes halten kann, der dabei nicht eben originelle Sprache verwendet. Seine Unentschiedenheit zwischen Derbheit und Poetisierungswunsch (vor allem bei Gesäß-Metpahern) mag in einem Traum möglich sein, hier wirkt sie nur merkwürdig schief.
JAN WIELE
Jonathan Littell: "Eine alte Geschichte". Neue Version.
Hanser Berlin Verlag,
Berlin/München 2019.
334 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main