Wien, im Oktober 1936: Ein Brief, adressiert mit blassblauer Frauenschrift, bringt Leonidas' Leben ins Wanken. Mit einem geerbten Frack hat er, der unbedeutende »Sohn des hungerleidenden Lateinlehrers«, einst Zugang gefunden zu den Kreisen der Macht. Die schöne, junge und schwerreiche Amelie Paradini hat ihn geheiratet, er ist zum Sektionschef im Ministerium für Kultus und Unterricht avanciert. Doch dann erhält Leonidas ein Bittschreiben von Vera Wormser, Tochter einer Wiener jüdischen Familie, das ihm privat und beruflich den Boden unter den Füßen wegzieht. >Eine blaßblaue Frauenschrift< erschien erstmals 1941 und gilt als einer der besten Romane, die Franz Werfel verfasst hat.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2008Porträt eines Opportunisten
Franz Werfel: „Eine blaßblaue Frauenschrift”
Es gibt Bücher, deren Anfänge man nicht vergisst – weil in ihnen bereits die ganze Geschichte angelegt ist. Und es gibt Bücher, deren letzte Sätze für immer im Gedächtnis bleiben – weil in ihnen die ganze Geschichte zusammengefasst wird. Franz Werfels 1941 im kalifornischen Exil entstandene Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift” gehört zu letzteren. Am Beispiel des Sektionschefs im Ministerium für Unterricht und Kultus, Leonidas Tachezy, erzählt Werfel eine Geschichte von Anstand und Moral, von Anfechtung und Verführung, von Schwächen und von Chancen. Es ist ebenso die Geschichte über den Verrat einer Liebe wie ein Sittengemälde der ersten österreichischen Republik mit ihrem latent allgegenwärtigen Antisemitismus.
Leonidas, aus kleinen Verhältnissen stammend, hat vor fast 20 Jahren die Millionenerbin Amélie Paradini geheiratet, eine Bilderbuchkarriere als Beamter gemacht – und ist jetzt ein perfekt angepasster Teil der Gesellschaft. Zum guten Ton gehört im Wien des Oktobers 1936 auch der alltägliche Antisemitismus; Kanzler Schuschnigg hatte sich kurz zuvor durch ein Abkommen mit Deutschland verpflichtet, auch Angehörige der „nationalen Opposition” in seine Regierung aufzunehmen. Franz Werfel, 1890 im deutsch-böhmisch-jüdischen Milieu Prags geboren, kannte diese Atmosphäre aus seinem Alltag – seit 1917 lebte er in Wien. Werfel avancierte seit den zwanziger Jahren zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren. Noch 1937 mit dem österreichischen Verdienstkreuz ausgezeichnet, musste er nach dem „Anschluss” Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 das Land verlassen. Er starb 1945 im Exil, in Beverly Hills.
An einem sonnigen Oktobermorgen des Jahres 1936 bricht nun die Vergangenheit ein in das wohlgeordnete Leben des Sektionschefs Leonidas Tachezy. Durch einen Brief seiner früheren Geliebten und einzigen wahren Liebe, Vera Wormser, sieht er seine Ehe und auch die Annehmlichkeiten des angeheirateten Reichtums gefährdet. Während die wichtigsten Stationen seiner Karriere und seines (Liebes-)Lebens am Leser vorbeiziehen, wird er Zeuge, wie der angepasste, der korrumpierte, der herrschende und beherrschte Leonidas eine ungeheure Chance bekommt; die Chance, ein anständiger Mensch zu werden. Am Ende des Romans „weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.”
Axel Corti hat dieses Psychogramm eines Bilderbuchopportunisten mit Friedrich von Thun in der Hauptrolle 1984 verfilmt. DIRK RUMBERG
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Franz Werfel: „Eine blaßblaue Frauenschrift”
Es gibt Bücher, deren Anfänge man nicht vergisst – weil in ihnen bereits die ganze Geschichte angelegt ist. Und es gibt Bücher, deren letzte Sätze für immer im Gedächtnis bleiben – weil in ihnen die ganze Geschichte zusammengefasst wird. Franz Werfels 1941 im kalifornischen Exil entstandene Novelle „Eine blaßblaue Frauenschrift” gehört zu letzteren. Am Beispiel des Sektionschefs im Ministerium für Unterricht und Kultus, Leonidas Tachezy, erzählt Werfel eine Geschichte von Anstand und Moral, von Anfechtung und Verführung, von Schwächen und von Chancen. Es ist ebenso die Geschichte über den Verrat einer Liebe wie ein Sittengemälde der ersten österreichischen Republik mit ihrem latent allgegenwärtigen Antisemitismus.
Leonidas, aus kleinen Verhältnissen stammend, hat vor fast 20 Jahren die Millionenerbin Amélie Paradini geheiratet, eine Bilderbuchkarriere als Beamter gemacht – und ist jetzt ein perfekt angepasster Teil der Gesellschaft. Zum guten Ton gehört im Wien des Oktobers 1936 auch der alltägliche Antisemitismus; Kanzler Schuschnigg hatte sich kurz zuvor durch ein Abkommen mit Deutschland verpflichtet, auch Angehörige der „nationalen Opposition” in seine Regierung aufzunehmen. Franz Werfel, 1890 im deutsch-böhmisch-jüdischen Milieu Prags geboren, kannte diese Atmosphäre aus seinem Alltag – seit 1917 lebte er in Wien. Werfel avancierte seit den zwanziger Jahren zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren. Noch 1937 mit dem österreichischen Verdienstkreuz ausgezeichnet, musste er nach dem „Anschluss” Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 das Land verlassen. Er starb 1945 im Exil, in Beverly Hills.
An einem sonnigen Oktobermorgen des Jahres 1936 bricht nun die Vergangenheit ein in das wohlgeordnete Leben des Sektionschefs Leonidas Tachezy. Durch einen Brief seiner früheren Geliebten und einzigen wahren Liebe, Vera Wormser, sieht er seine Ehe und auch die Annehmlichkeiten des angeheirateten Reichtums gefährdet. Während die wichtigsten Stationen seiner Karriere und seines (Liebes-)Lebens am Leser vorbeiziehen, wird er Zeuge, wie der angepasste, der korrumpierte, der herrschende und beherrschte Leonidas eine ungeheure Chance bekommt; die Chance, ein anständiger Mensch zu werden. Am Ende des Romans „weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.”
Axel Corti hat dieses Psychogramm eines Bilderbuchopportunisten mit Friedrich von Thun in der Hauptrolle 1984 verfilmt. DIRK RUMBERG
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