Daß hochbegabte Frauen im Schatten hochbegabter Männer stehen, ist nichts Außergewöhnliches. Dem Angebeteten zuliebe leisten sie Verzicht, werden im besten Fall zu Musen, im schlechtesten zu Haushälterin nen. Dies ist auch das persönliche Schicksal der Sofja Tolstaja (1844-1919), nachzulesen in ihrer «Kleinen Autobiographie». Über Jahrzehnte hinweg war sie ihrem Mann, dem berühmten Tolstoi, treue Gefährtin, verstän dige Erstleserin und Kritikerin seiner Werke, Schreibkraft, «Ehefrau im althergebrachten Sinne» (nach Tolstois eigenem Bekunden) und nicht zuletzt Mutter von dreizehn gemein sa men Kindern. Niemand konnte ahnen, daß sich hinter der Frau an Tolstois Seite eine exzellente Schriftstellerin verbarg, hatte sie doch ihre erste Erzählung vor der Hochzeit verbrannt. Fünfund siebzig Jahre nach Tolstajas Tod aber machte man in ihrem Nachlaß einen Sen sations fund. «Eine Frage der Schuld» handelt von der fatalen Entfrem dung zwischen Eheleu ten. Mit psychologi scher und sti listi scher Finesse schildert die Autorin, wie bohrende Eifersucht erst das Vertrauen zerstört und dann die beidseitige Achtung. Im Gegensatz zur frauen- und lust feindlichen «Kreutzersonate» Tolstois, als dessen Gegenstück Tolstajas kleiner feiner Roman angelegt ist, erfahren hier beide Seiten Gerechtigkeit. Mit «Eine Frage der Schuld» ist eine Auto rin zu entdecken, die fortan einen eige nen Rang und Namen in der Welt literatur beanspruchen kann.
. Eine kleine Sensation: Tolstajas Roman zum ersten Mal auf Deutsch! . Replik der Ehefrau Tolstois auf dessen skandalöse "Kreutzersonate": Überraschend anderer Blickwinkel auf das Werk des großen Dichters.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Dass die Ehe der Tolstois schwierig war, ist bekannt. Aber dass der große russische Autor mit einer Schriftstellerin eigenen Ranges verheiratet war, erfährt man erst jetzt: durch Sofja Tolstajas Roman "Eine Frage der Schuld".
Von Felicitas von Lovenberg
In der Ehe gibt es Auseinandersetzungen, die sind nicht Streit und nicht Debatte, sondern eher ein immer wieder auftauchender Sensibilitätsunterschied - wobei zumeist die Frauen für sich den höheren Wert beanspruchen. Wie jedoch macht man dem anderen die Verletzung einer Sensibilität bewusst, die dieser selbst nicht besitzt, für die er also nur durch hohes Einfühlungsvermögen empfänglich gemacht werden könnte? Wobei das nächste Grundproblem darin besteht, dass es sich bei diesem Grad der Empathie wiederum um eine Eigenschaft handelt, die Männern von Frauen gern abgesprochen wird.
Einem Schriftsteller wie Leo Tolstoi wird man indes Einfühlungsvermögen durchaus zutrauen - es sei denn, man ist mit ihm verheiratet. Dass der literarische Meister menschlicher Regungen seine eigene Frau weniger gut zu lesen verstand, als diese sich das gewünscht hätte, ließ sich bereits ahnen, solange nur seine Sicht auf diese Ehe bekannt war - geprägt vor allem durch die Tatsache, dass Tolstoi seine Frau Sofja 1910, nach bald fünfzig gemeinsam verbrachten Jahren, verließ, um wenigstens die letzten Tage seines Lebens in Ruhe vor ihr verbringen zu können. Seine Frau, so musste man danach denken, sei eine unerträgliche Zänkerin gewesen. Vielleicht hatte diese aber auch einfach ein Leben lang das Bedürfnis, ihrem Mann einen grundlegenden Sensibilitätsunterschied zwischen ihnen klarzumachen. Im Nachlass von Sofja Tolstaja befand sich ein Manuskript, das zeigt, dass sie dazu auch den Weg der Literatur wählte. Jetzt können sich die Leser ihr eigenes Bild von der Ehe machen - nicht nur jener der Tolstois.
In der "Kreutzersonate" hatte Tolstoi 1891 das Psychogramm einer Ehe aus Sicht des Mannes entworfen, der seine Frau mit krankhafter Eifersucht überwacht und die vermeintliche Ehebrecherin schließlich umbringt. Mit "Eine Frage der Schuld" verfasste Sofja Tolstaja ihre stark autobiographisch gefärbte Antwort auf die Novelle ihres Mannes. Sie schildert die Entfremdung zwischen den Ehepartnern aus Sicht der Frau, die das Familienideal über ihr eigenes Wohlergehen stellt, und die sich immer wieder bemüht, die guten Eigenschaften ihres Mannes zu sehen, obwohl dieser ihr wenig Anlass zu dieser gnädigen Betrachtung gibt. Anna Alexandrowna, jung, schön, klug und idealistisch, eine "reine Seele", ist überzeugt, für eine glückliche Ehe brauche man vor allem "Liebe, und sie muss über allem Irdischen stehen, vollkommen sein". Als sie den um einiges älteren Fürsten Prosorski heiratet, glaubt sie zunächst, in ihm ihren Seelenverwandten gefunden zu haben - bis sie entdeckt, dass er weniger ihre Seele denn ihren Körper begehrt. Doch das ist nicht der einzige Schock, denn einmal auf dem entlegenen Gut des Fürsten, ihrem neuen Zuhause, angekommen, erfährt sie von ehemaligen Mätressen ihres Mannes oder wittert solche, die es noch werden möchten. Die Erkenntnis, dass die Ehe für ihn keinesfalls Erfüllung der ersten und wahren Liebe bedeutet, setzt ihr ebenso zu wie ihre daraus resultierende Eifersucht. Erst durch ihre Kinder findet sie zu einer Bestimmung: "Dies war das Glück, das Ziel des Lebens, sein Sinn; dies war die Bestätigung ihrer Liebe zu ihrem Mann, dies war ihre künftige Pflicht, und dies bedeutete für sie keine Spielerei, wie sie gemeint hatte, sondern wieder Leiden und Tätigsein."
Die Zeit bringt dem Paar keine Ruhe, sondern schreibt vielmehr fest, dass in dieser Ehe zwei Menschen zusammengebunden sind, die nicht zusammengehören. Er langweilt sich, sie hat alle Hände voll zu tun mit der Erziehung der vier Kinder. Erst als die Familie nach Jahren auf dem Land beschließt, einige Monate in Moskau zu verbringen, wendet sich das Blatt. Denn Anna erweist sich als glänzende Gesellschafterin, und der Fürst sieht seine schöne Frau plötzlich in neuem Licht: "Ihr Erfolg und ihr neues, lebhaftes Wesen erschreckten ihn. Sie schien ihm immer mehr zu entgleiten, und zugleich gestaltete sie ihr Stadtleben so, dass er sich zu Hause nie mehr langweilte und nicht mehr nach Zerstreuungen suchte." Nun ist es der Fürst, den Eifersucht und Misstrauen quälen, der seine Frau wieder und wieder verdächtigt, ihn zu hintergehen. In einem seiner Wutanfälle zielt er mit dem Briefbeschwerer nach ihr; sie stirbt an den Folgen der Verletzung - und ihr Mann wird seines Lebens nicht mehr froh, weil er den stetigen Charakter seiner Frau zu spät erkennt.
Es ist eine bittere Geschichte, die Sofja Tolstaja erzählt, doch sie erzählt sie so packend, geradlinig und mit solch psychologischem Gespür, dass man ihr gebannt folgt, auch wenn die Protagonistin, in der die Verfasserin sich selbst ein Denkmal gesetzt hat, bisweilen allzu heiligenhaft gezeichnet ist. Wo "Die Kreutzersonate" Beichte, Selbstanklage und Racheakt zugleich ist, ähnelt ihr Roman im Temperament seiner Heldin: Er ist bemüht um Ausgeglichenheit und Redlichkeit. Der Fürst wird nicht nur als triebgesteuerter Egoist geschildert, sondern auch als imposanter Schöngeist und Ehrenmann, und auch Anna, wenngleich von berückender Schönheit und edlem Charakter, ist nicht ganz ohne Fehl: Sie verliebt sich nämlich tatsächlich, in einen Freund ihres Mannes, doch ist dies eine rein platonische Liebe, voller Fürsorge und Anteilnahme.
"Welch Energie der Wahrheit und Schlichtheit", notierte ein beeindruckter Leo Tolstoi in seinem Tagebuch nach der Lektüre der Erzählung "Natascha". Nach deren Protagonistin, in der seine künftige Frau sich selbst porträtiert hatte, benannte er in "Krieg und Frieden" seine eigene Heldin. Die Erinnerung an diese frühe Erzählung, die sie noch vor der Hochzeit verbrannte, dürfte Sofja Tolstaja das vielfache Abschreiben des gewaltigen Romans leichter gemacht haben, wie sie die Zusammenarbeit mit ihrem Mann überhaupt als beglückend empfand, wie sie ihm einmal schrieb: "Dein Roman erhebt mich geistig und moralisch ungemein. Sobald ich mich zum Schreiben niedersetze, werde ich in eine poetische Welt getragen, und es scheint mir manchmal, dass nicht nur Dein Roman besonders gut ist, sondern dass auch ich besonders klug bin."
Die Gräfin Sofja Andrejewna Tolstaja war keine Frau, die mit falscher Bescheidenheit kokettierte: Davon legt nicht nur ihr Roman, sondern auch die kurze Autobiographie, die "Eine Frage der Schuld" ergänzt, beredt Zeugnis ab. Dort stellt Sofja Tolstaja immer wieder alle geistige Beschäftigung, Schreiben, Lesen, Malen und Musizieren, als Ursprung der eigenen Ausgeglichenheit und Stärke heraus. Bei dreizehn Kindern, Fehlgeburten nicht mitgezählt, kam sie naturgemäß wenig dazu, diese Passionen zu pflegen. Bald werden wir Gelegenheit haben, Tolstois Frau noch besser kennenzulernen. Die Slawistin Ursula Keller, die den Roman zusammen mit Alfred Frank übersetzt und ein kluges Nachwort dazu geschrieben hat, bringt in Kürze eine Biographie Sofja Tolstajas heraus.
Sofja Tolstaja: "Eine Frage der Schuld". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Alfred Frank und Ursula Keller. Nachwort von Ursula Keller. Manesse Verlag, Zürich 2008. 315 S., geb., 19,90 [Euro].
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