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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Besichtigung der vergangenen zwei Millionen Jahre: Neil MacGregor erzählt anhand von hundert Ausstellungsstücken des British Museum die ganze Weltgeschichte.
Wer etwas opfert, hofft auf eine Gegenleistung, und weil Wahab Ta'lab der Gottheit, die über die jemenitische Stadt Zafar wachte, etwas besonders Wertvolles schenkte, wollte er auch, dass der Empfänger ihn nie vergaß: Er ließ einen Bronzeabguss seiner rechten Hand anfertigen und darauf eingravieren, dass er, "der Sohn von Hisham" aus dem Stamm der Banu Sukhaym, "für sein Heil seine rechte Hand im Gottesschrein dhu-Qabrat" dargebracht habe. Die Schrift reicht von den Fingerwurzeln bis zum Handgelenk und nimmt sich merkwürdig künstlich aus auf diesem wunderbar lebendig geformten Abbild. Sogar der krumme kleine Finger und die gewölbten Nägel des Mannes, der vor etwa 1700 Jahren lebte und opferte, haben so die Zeit überdauert.
Als im vorigen Jahr in England eine hundertteilige Radioserie ebenso viele Objekte aus den Beständen des British Museum vorstellte, geriet das zu einer mittleren publizistischen Sensation. Die Sendereihe war in England Tagesgespräch, sie bediente einerseits das dort wie hier gewachsene Interesse an Geschichte, vermied aber auf der anderen Seite die Untiefen der sonst gern geübten forcierten Aktualisierung eines historischen Gegenstands auf Kosten der gebotenen wissenschaftlichen Trennschärfe. Neil MacGregor, der Direktor des British Museum und Autor der Reihe, nutzte die journalistische Form des Radiofeatures, bei dem unter anderem die Befragung von Experten erwünscht ist, um jede seiner Objektbeschreibung zur Keimzelle einer weitreichenden Darstellung des Umfelds zu machen: Wann ist es entstanden, in welcher Kultur, wer nutzte es wofür, wie sah seine Wirkung aus? Und, nicht zuletzt, wann und wie gelangte es in die Bestände des ehrwürdigen British Museum?
Wenig später wurden die einzelnen Beiträge zu einem ziegelsteindicken Buch zusammengefasst mit jeweils fünf bis sechs Druckseiten sowie einer ganzseitigen Abbildung des beschriebenen Objekts. Jetzt ist der Band auch auf Deutsch erschienen, in leicht vergrößertem Format, mit etwas luftigerem Satz und noch besseren Reproduktionen.
Nach wie vor zielt diese "Geschichte der Welt" einzig auf die Geschichte des Menschen, nicht etwa der Erde oder gar des Weltalls. "Wir werden in diesem Buch immer wieder darauf stoßen", schreibt MacGregor zu Beginn am Beispiel eines zwei Millionen Jahre alten Steinwerkzeugs, "dass die Vorstellung von unserem gemeinsamen Menschsein nicht nur ein Traum der Aufklärung ist, sondern genetische und kulturelle Wirklichkeit." Hinsichtlich der Physis ist das kaum zu bestreiten. Was freilich die Kultur angeht, so durchzieht die einzelnen Kapitel dieses Buchs mehr als nur ein Hauch von Fremdheit: Wenn MacGregor etwa anhand jenes Faustkeils beschreibt, wie er mit einer Replik des Werkzeugs ein zeitgenössisches Brathuhn zerteilt, dann dient das nicht der Vergegenwärtigung eines historischen Artefakts, sondern umgekehrt dem Staunen über das handwerkliche Geschick einer verwehten Kultur.
Die hier präsentierten, ausgiebig beschriebenen und diskutierten Gegenstände sind jedenfalls von der oft wechselvollen Geschichte ihrer Erforschung nicht zu trennen. Erfreulicherweise neigt der Autor dazu, neueren Untersuchungen den ihnen angemessenen Raum zu gewähren, so dass sich nie der Eindruck von Statik ergibt: Die Dinge sind einer ständigen Neubewertung unterworfen, die zwar oft nur Nuancen betrifft, manchmal aber eben doch einen Erkenntnisgewinn beschert. MacGregor schätzt es offensichtlich, wenn die Spuren früherer Besitzer eines Gegenstands wiederum eine ganz eigene Geschichte erzählen, die die jeweilige Entstehungsgeschichte fort- und umschreibt. Wenn also etwa der hinreißende Jadebecher des in Samarkand herrschenden feinsinnigen Tamerlan-Enkels Ulug Beg dreihundert Jahre nach dessen Tod die türkische Aufschrift "Gottes Güte ist grenzenlos" erhält, wird daraus ein Ansatzpunkt für die Beschreibung der Umbrüche einer gesamten Region.
Dieses Konzept, Geschichte anhand von Objekten und aufgelöst in einzelne Schlaglichter zu erzählen, steht in einer langen didaktischen Tradition. Wenn sie heute überhaupt weitergeführt wird, dann besonders im Bereich des Jugendsachbuchs, wo der ästhetische Ansatz, "Geschichte in Geschichten" zu veranschaulichen, seit jeher keine üblen Früchte trägt. MacGregor geht es aber ersichtlich um den Zusammenhang der - auch optisch freigestellten - isolierten Objekte, selbst wenn er zunächst vom einzelnen Gegenstand ausgeht. Denn so wie in der Archäologie der Fundzusammenhang die entscheidende Rolle spielt, so beleuchtet auch der Autor die Dinge, über die er schreibt, gern durch andere, mit denen zusammen sie Gruppen bilden - "Geheimnisse bei Hof" nennt er eine, die Reliefs, Wandmalereien und Grabfiguren aus einer ähnlichen Epoche, aber ganz unterschiedlichen Kulturkreisen umfasst. Andere fragen nach religiösen Riten, Handelskontakten oder dem Einfluss philosophischer Strömungen.
Das letzte Beispiel ist dann eine chinesische Solarlampe mit Lademodul von 2010. Und markiert mit ihrem schon heute leicht staubig wirkenden Design, wie sehr die Dinge im Fluss sind. Auch dieses Buch präsentiert sich daher - wie sein Gegenstand - als work in progress, das in einigen Jahre getrost eine Aktualisierung vertragen könnte. Heute aber wird man lange suchen müssen, um etwas Vergleichbares zu finden.
TILMAN SPRECKELSEN
Neil MacGregor: "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten".
Aus dem Englischen von Waltraud Götting, Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel. Verlag C. H. Beck, München 2011. 816 S., Abb., geb., 39,95 [Euro].
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