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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Autokratische Kontinuitäten: Orlando Figes verhebt sich am Versuch, aus tausend Jahren russischer Geschichte die heutigen Verhältnisse zu erhellen
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 eröffnete unendlich viele Chancen für einen Neubeginn in Russland. Ein demokratischer Aufbruch, die Verabschiedung vom Imperium, friedliche nachbarschaftliche Beziehungen, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft schienen möglich. Nichts davon existiert heute. Unter Putin ist Russland in die dunkelsten Kapitel seiner Geschichte vorangeschritten zu Repression, Rechtlosigkeit und Gewalt nach innen und außen.
Das Land scheint in der Wiederholungsschleife des autokratischen Staats zu stecken, meint der britische Historiker Orlando Figes. Die heutige russische Politik werde viel zu häufig ohne ausreichende Kenntnis der Geschichte Russlands analysiert, beklagt er zu Recht. Sogar Historiker übersehen, wie sehr das handlungsleitende Geschichtsnarrativ des Putin-Regimes sich nicht nur an der Sowjetunion orientiert, sondern auch am fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, als der Moskauer Zentralstaat entstand. Zur historischen Begründung des Krieges in der Ukraine wird sogar der mittelalterliche Staat der Kiewer Rus zur Vorgeschichte Russlands umdeklariert und auf diese Weise die heutige Unabhängigkeit der Ukraine historisch negiert.
Russlands Geschichte sei voll von solchen Mythen, so Figes, die grundlegend für das russische Verständnis der eigenen Geschichte und des nationalen Charakters seien. Daraus leitet sich der aufklärerisch-pädagogische Anspruch des Buches ab, ihre Entstehung und Wirkungen zu erklären. Um die autokratische Kontinuität Russlands vorzuführen, holt Figes weit aus. Über tausend Jahre Geschichte nimmt er in den Blick, vom Kiewer Großfürsten Wladimir, dem die Russen in Moskau jüngst und die Ukrainer in Kiew vor ein paar Jahren ein Denkmal setzten, bis Wladimir Putin. Dessen Regime gehe auf den "monarchischen Archetyp der Herrschaft" zurück, der sich vor Jahrhunderten ausgebildet, den Alleinherrscher überhöht und die Gesellschaft unterworfen habe. Angetrieben werde es von Vorstellungen patriotischer Geschichte, imperialer Größe und globaler Bedeutung. Ein Geschichtsregime, folgt man Figes, kein Karbonregime, das von Öl- und Gasexporten lebt. Erklärungsversuche außerhalb der historisch-politischen Kultur hält er für unzureichend.
Auf der Suche nach der ununterbrochenen Spur des autokratischen Staates findet Figes "den Kult des heiligen Herrschers" im elften Jahrhundert. Nirgendwo sei Macht so stark sakralisiert worden wie in Russland, behauptet er. Der japanische Tenno, der Sapa Inka, Byzantinisten und andere Mediävisten geraten ins Grübeln, kommen aber nicht vor. Die Mongolen, die 1240 Kiew eroberten, hätten den autokratischen Einfluss verstärkt. Kaum hebt Figes zu einer differenzierten Diskussion des mongolischen Erbes in der Geschichte Russlands an, konfrontiert er die Leser mit einer waghalsigen Schlussfolgerung. Das "System der Abhängigkeit vom Herrscher hat sich bis heute gehalten. Putins Oligarchen sind völlig von seinem Willen abhängig." Putin, ein politisches Kind der Mongolen. Interessant!
Die Figur des "heiligen" Zaren ist für Figes zentral. An ihr hängen unumschränkte Herrschaft, die Identität von Herrscher und Staat und die Unterwerfung der Gesellschaft. Allein, sie ist eine These der älteren Forschung. In Jahrzehnten erarbeitete Forschungsergebnisse haben sie mit guten Gründen dekonstruiert. In den Quellen findet man außerdem keinen "heiligen" Zaren, wohl aber den "gerechten", was nicht dasselbe ist. Einmal auf diese Figur festgelegt, kehrt sie in allen Epochen der Geschichte Russlands einschließlich Lenin und Stalin wieder. Auf diese Weise schließen sich die Jahrhunderte zusammen, deren vorläufigen Schlusspunkt Putin bildet.
Lässt sich aber die Geschichte Russlands auf die Weise erzählen, dass die historischen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft ununterscheidbar werden? Zweifel sind angebracht. Figes bürstet die Geschichte Russlands in Richtung Autokratie. Das zieht Ausblendungen und Engführungen nach sich. Er muss dann nicht mehr nach dem Anteil von Religion und Kirche an der Geschichte der russischen Autokratie fragen, obwohl der unübersehbar ist. Oder etwas kleinförmiger: Zwischen der Breschnew-Zeit und dem Stalinismus liegen zwar keine Welten, aber wenn das Morden aufhört und die Sowjetbürger erstmals in einer relativen Sicherheit vor dem Staat lebten, braucht es andere Begriffe als "autokratischer Staat".
Figes weiß das, und er verschweigt die sperrigen Fragen auch nicht, aber seine Erzählung hebt nicht darauf ab. Wie kommt es, dass die Ukrainer sich gegen den postsowjetischen Autoritarismus erfolgreich zur Wehr setzten und die Russen nicht, wenn doch beide seit Jahrhunderten zur selben Autokratiekultur gehörten? Warum eigentlich möchte Figes den Lesern die Widersprüche und Komplikationen der Geschichte nicht zumuten? Das ist doch der Stoff, aus dem sie besteht.
Jede groß angelegte Geschichte ist anfechtbar. Figes scheitert nicht an verzeihlichen kleinen Fehlern, sondern an dem Größeren, das er wagt. Die Tatsache, dass er die Anfänge der Autokratie verzerrt darstellt, zu den Sinndimensionen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, sofern rezipiert, kaum Zugang findet und die autokratischen Kontinuitäten strapaziert, hätte sich in späteren Kapiteln durch mehr Klärung noch ausgleichen lassen. Die Fixierung auf eine politische Kultur der Macht, ohne theoretische Vorabklärungen und als Kontinuum postuliert, welche die heterogene Geschichte Russlands zwar aufscheinen lässt, sie aber nicht verstehend vermitteln kann, ist ein ernsteres Problem. Die Entscheidung schließlich, das Genre der chronologischen Geschichtserzählung zu wählen anstelle der Verwendung strukturierender Begriffe, Konzepte und analytischer Kategorien, die den Stoff gliedern, könnte falsch gewesen sein.
Geschichtserzählung kommt hier an ihre Grenzen. Die Trias von Mythendekonstruktion, Geschichte und Geschichtswissenschaft bleibt unaufgelöst, weil es in dem Buch sehr viel historischen Stoff gibt, der für politisierte Geschichtsnarrative keine Bedeutung hat. Welchen er dann hat, bleibt unklar. Schließlich behauptet Figes, kein anderes Land habe seine Geschichte so häufig neu erfunden wie Russland. Das klingt nach Generalwiderspruch zur Kontinuitätsthese. Beim nächsten Versuch, da muss man ihm zustimmen, sind die bisherigen Narrative gründlich zu zertrümmern. STEFAN PLAGGENBORG
Orlando Figes: "Eine Geschichte Russlands".
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2022. 448 S., geb., 28,- Euro.
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