Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Eine Autobiografie Erstdruck Querido, Amsterdam 1936. Neuausgabe. Herausgegeben von Karl-Maria Guth. Berlin 2016, 2. Auflage. Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage. Gesetzt aus der Minion Pro, 11 pt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2024Der Revolutionär, der kein Blut vergießen wollte
Der politische Aktivist Ernst Toller könnte nicht aktueller sein: Jetzt erscheint seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" als Neuausgabe
Ernst Toller war der Popstar unter den politischen Schriftstellern der Weimarer Republik. Seine Biographie, sein Temperament und nicht zuletzt sein attraktives Aussehen prädestinierten ihn zur romantisch verehrten Heldenfigur. Als Befehlshaber aufständischer Arbeitertruppen hatte er 1919 für die Münchner Räterepublik gekämpft - aber nachweislich versucht, Blutvergießen zu vermeiden. Sobald er auf ein Podium stieg, flogen ihm als feurigem Volksredner die Herzen seiner Zuhörer zu. Als Mann mit spürbarem Charisma hatte er großen Erfolg bei Frauen. Und seine Theaterstücke, die zu Beginn der Zwanzigerjahre in halb Europa und den USA wie Offenbarungen gefeiert wurden, schrieb er in der winzigen Gefängniszelle, in der er fünf Jahre Haft wegen seiner Beteiligung an der Münchner Revolution absitzen musste.
Toller, geboren 1893, war zu beeindruckenden Gesten fähig. Als ihm die bayerischen Behörden angesichts seiner wachsenden Bühnenerfolge die vorzeitige Begnadigung anboten, lehnte er ab. Er wollte nicht besser behandelt werden als seine Kampfgenossen, die mit ihm verurteilt worden waren. Als ein Schwalbenpaar in seiner Zelle nistete, schrieb er ein Gedichtzyklus über diese Gefährten seiner Gefängniseinsamkeit. Und als die Direktion der Haftanstalt das Nest zerstören ließ, verstand er es, den Zyklus zur wirkungsvollen lyrischen Anklage gegen inhumanen Strafvollzug zu machen.
Nach seiner Freilassung 1924 war Tollers Ruhm buchstäblich grenzenlos. Sein Autorenfreund Hermann Kesten, der häufig mit ihm auf Reisen war, berichtete von einem arabischen Chauffeur, der ihn in Tripolis erkannte: "Sie sind Toller!" Von einem Kellner in einem Londoner Pub, der ihm freudig die Hand reichte: "Genosse Toller!" Von einem Flic in einem Pariser Café, der ihn ergriffen begrüßte: "Vous êtes Toller!" Von Studenten, die ihn auf Schultern durch Zagreb trugen. Von Geheimpolizisten Mussolinis, die ihn bei einem Italienbesuch überwachen sollten, ihm aber stattdessen Verse aus seinem Schwalbenzyklus vortrugen.
In den folgenden Weimarer Jahren, die viele Autoren an die extremen Ränder des politischen Spektrums trieb, bekannte er sich konsequent zu Gewaltlosigkeit, Demokratie und einem gemäßigten Sozialismus. Während Brecht oder Anna Seghers, Benn oder Ernst Jünger mit diktatorischen Herrschaftsformen liebäugelten, blieb Toller unbeirrbar Republikaner. Er warnte frühzeitig vor den Nazis und vor den moskautreuen Kommunisten, die er während der Münchner Revolutionskämpfe als brutale Zyniker der Macht kennengelernt hatte. Er begriff sich als ganz und gar unabhängiger Schriftsteller und verließ sowohl die USPD als auch die jüdische Gemeinde, um nur noch seinem persönlichen politischen Kompass verpflichtet zu sein.
Mit seinem hochfliegenden Idealismus und seinen eher tief empfundenen als genau durchdachten Vorstellungen von einer brüderlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung lieferte Toller exakt die deklamatorischen Stücke, nach denen das expressionistische Theater verlangte. Doch sobald die literarische Mode umschlug und betont nüchterne, neusachliche Töne Konjunktur hatten, begann Tollers Stern als Dramatiker zu sinken. Um weiterhin erfolgreich zu sein, war er nun angewiesen auf die Zusammenarbeit mit genialen Regisseuren wie Erwin Piscator oder mit Ko-Autoren wie Walter Mehring, Walter Hasenclever oder Hermann Kesten, die ihre literarischen Mittel bewusster einsetzten als der Instinkt-Schriftsteller Toller.
Seine politischen Ambitionen konnte das nicht bremsen. Im Gegenteil, je seltener seine literarischen Triumphe wurden, desto entschiedener stellte er seine Popularität in den Dienst zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ständig war er unterwegs zu Kongressen, Demonstrationen, Kundgebungen, schrieb Protestnoten, unterzeichnete Resolutionen, gab Interviews, hielt Reden und Vorträge.
In dieser Rolle des unermüdlichen Aktivisten ist Toller eine sehr gegenwartsnahe Figur. Seine weitgespannte politische Agenda und seine rhetorischen Fähigkeiten würden ihn heute zu einem Lieblingsgast aller Talkshows machen: Er engagierte sich für die Rechte der Armen, der Frauen, der Strafgefangenen. Er protestierte gegen die Lynchmorde an Schwarzen in den USA, als sei er ein früher Vertreter der Black-Lives-Matter-Bewegung, und gegen die koloniale Ausbeutung der Länder des globalen Südens, als dieses Thema noch wenig Interesse weckte.
Mit seiner Geliebten Christiane Grautoff dürfte er sich heute allerdings nicht erwischen lassen. Grautoff galt als das Theaterwunderkind von Berlin. Seit sie zwölf war, spielte sie unter Regisseuren wie Max Reinhardt an den besten Bühnen der Stadt oder in Filmen mit Henny Porten und Gustaf Gründgens. Als sie den 23 Jahre älteren Toller kennenlernte, war sie erst 14. Dennoch beschrieb sie ihre Verbindung zu Toller später in ihrer Autobiographie nicht als Missbrauch, sondern als schicksalhafte Liebe. Kurz nach Grautoffs 18. Geburtstag heirateten die beiden in London.
Im Zentrum von Tollers politischem Engagement stand der Kampf gegen die NSDAP. Manche Warnungen, die er damals notierte, sind heute mit Blick auf die AfD wieder aktuell: "Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten 'abwirtschaften'. Dabei vergessen sie, daß die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht und zur Machtbehauptung. Sie wird es sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben."
Als Hitler dann tatsächlich die Macht übernahm, befand sich Toller auf einer Vortragsreise durch die Schweiz. Nur wenige Tage später brach ein SA-Trupp in seine leere Wohnung ein, wohl um ihn in ein Gefängnis oder einen ihrer Folterkeller zu verschleppen. Ob er diese Begegnung überlebt hätte, ist fraglich.
In diesen Wochen Anfang 1933 beendete er gerade die Arbeit an seiner Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland". Im Gegensatz zu seinen Theaterstücken, die mit ihrem Weltrettungs- und Menschheitspathos heute überlebt wirken, ist dieses Buch literarisch erstaunlich frisch geblieben. Der Historiker Ernst Piper hat es jetzt zusammen mit einigen umsichtig ausgewählten Dokumenten und einem ausführlichen Nachwort neu vorgelegt.
Tollers Lebensbericht reicht von seiner Geburt in einem kleinen Ort bei Posen, wo er als Sohn einer gutsituierten deutsch-jüdischen Familie aufwuchs, bis zu seiner Entlassung aus der Gefängnishaft. In einem knappen, nüchternen Ton beschreibt er die penetrant nationalistische und offen antisemitische Atmosphäre seiner Kindheit. Um den angeblichen Makel seiner jüdischen Herkunft abzustreifen, meldet er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zum Dienst an einen der mörderischsten Frontabschnitte östlich von Verdun. Was er aus diesem Inferno schildert, erinnern an Szenen aus Erich Maria Remarques Klassiker "Im Westen nichts Neues", der vielen Veteranen überhaupt erst die Sprache lieferte, in der sie von ihren albtraumhaften Erlebnissen in den Schützengräben berichten konnten.
Die größten Qualitäten des Buches liegen in der Beschreibung des revolutionären halben Jahres in Bayern zwischen November 1918 und Mai 1919. Toller schont sich dabei nicht, selbstkritisch schildert er die Illusionen und die Unfähigkeit der aufständischen Arbeiter- und Soldatenräte und ihrer Anführer. Die Lehre aus seinen revolutionären Erfahrungen fällt ebenso skeptisch wie überzeugend aus: "Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen, kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten."
Obwohl die Nazis Tollers Bücher verboten und verbrannt hatten, wurde "Eine Jugend in Deutschland" nach seinem Erscheinen im Amsterdamer Querido Verlag ein großer Erfolg, der erste der Exilliteratur. Toller ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Sein politischer Aktivismus nahm mehr und mehr manische Züge an, unterbrochen durch depressive Phasen. Christiane Grautoff verließ ihn, weil sie seinen hektischen Lebensstil nicht mehr ertrug und auch mit ihrer Arbeit als Schauspielerin nicht vereinbaren konnte. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs brachte sich Ernst Toller in New York um. UWE WITTSTOCK
Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland."
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ernst Piper. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 345 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der politische Aktivist Ernst Toller könnte nicht aktueller sein: Jetzt erscheint seine Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" als Neuausgabe
Ernst Toller war der Popstar unter den politischen Schriftstellern der Weimarer Republik. Seine Biographie, sein Temperament und nicht zuletzt sein attraktives Aussehen prädestinierten ihn zur romantisch verehrten Heldenfigur. Als Befehlshaber aufständischer Arbeitertruppen hatte er 1919 für die Münchner Räterepublik gekämpft - aber nachweislich versucht, Blutvergießen zu vermeiden. Sobald er auf ein Podium stieg, flogen ihm als feurigem Volksredner die Herzen seiner Zuhörer zu. Als Mann mit spürbarem Charisma hatte er großen Erfolg bei Frauen. Und seine Theaterstücke, die zu Beginn der Zwanzigerjahre in halb Europa und den USA wie Offenbarungen gefeiert wurden, schrieb er in der winzigen Gefängniszelle, in der er fünf Jahre Haft wegen seiner Beteiligung an der Münchner Revolution absitzen musste.
Toller, geboren 1893, war zu beeindruckenden Gesten fähig. Als ihm die bayerischen Behörden angesichts seiner wachsenden Bühnenerfolge die vorzeitige Begnadigung anboten, lehnte er ab. Er wollte nicht besser behandelt werden als seine Kampfgenossen, die mit ihm verurteilt worden waren. Als ein Schwalbenpaar in seiner Zelle nistete, schrieb er ein Gedichtzyklus über diese Gefährten seiner Gefängniseinsamkeit. Und als die Direktion der Haftanstalt das Nest zerstören ließ, verstand er es, den Zyklus zur wirkungsvollen lyrischen Anklage gegen inhumanen Strafvollzug zu machen.
Nach seiner Freilassung 1924 war Tollers Ruhm buchstäblich grenzenlos. Sein Autorenfreund Hermann Kesten, der häufig mit ihm auf Reisen war, berichtete von einem arabischen Chauffeur, der ihn in Tripolis erkannte: "Sie sind Toller!" Von einem Kellner in einem Londoner Pub, der ihm freudig die Hand reichte: "Genosse Toller!" Von einem Flic in einem Pariser Café, der ihn ergriffen begrüßte: "Vous êtes Toller!" Von Studenten, die ihn auf Schultern durch Zagreb trugen. Von Geheimpolizisten Mussolinis, die ihn bei einem Italienbesuch überwachen sollten, ihm aber stattdessen Verse aus seinem Schwalbenzyklus vortrugen.
In den folgenden Weimarer Jahren, die viele Autoren an die extremen Ränder des politischen Spektrums trieb, bekannte er sich konsequent zu Gewaltlosigkeit, Demokratie und einem gemäßigten Sozialismus. Während Brecht oder Anna Seghers, Benn oder Ernst Jünger mit diktatorischen Herrschaftsformen liebäugelten, blieb Toller unbeirrbar Republikaner. Er warnte frühzeitig vor den Nazis und vor den moskautreuen Kommunisten, die er während der Münchner Revolutionskämpfe als brutale Zyniker der Macht kennengelernt hatte. Er begriff sich als ganz und gar unabhängiger Schriftsteller und verließ sowohl die USPD als auch die jüdische Gemeinde, um nur noch seinem persönlichen politischen Kompass verpflichtet zu sein.
Mit seinem hochfliegenden Idealismus und seinen eher tief empfundenen als genau durchdachten Vorstellungen von einer brüderlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung lieferte Toller exakt die deklamatorischen Stücke, nach denen das expressionistische Theater verlangte. Doch sobald die literarische Mode umschlug und betont nüchterne, neusachliche Töne Konjunktur hatten, begann Tollers Stern als Dramatiker zu sinken. Um weiterhin erfolgreich zu sein, war er nun angewiesen auf die Zusammenarbeit mit genialen Regisseuren wie Erwin Piscator oder mit Ko-Autoren wie Walter Mehring, Walter Hasenclever oder Hermann Kesten, die ihre literarischen Mittel bewusster einsetzten als der Instinkt-Schriftsteller Toller.
Seine politischen Ambitionen konnte das nicht bremsen. Im Gegenteil, je seltener seine literarischen Triumphe wurden, desto entschiedener stellte er seine Popularität in den Dienst zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ständig war er unterwegs zu Kongressen, Demonstrationen, Kundgebungen, schrieb Protestnoten, unterzeichnete Resolutionen, gab Interviews, hielt Reden und Vorträge.
In dieser Rolle des unermüdlichen Aktivisten ist Toller eine sehr gegenwartsnahe Figur. Seine weitgespannte politische Agenda und seine rhetorischen Fähigkeiten würden ihn heute zu einem Lieblingsgast aller Talkshows machen: Er engagierte sich für die Rechte der Armen, der Frauen, der Strafgefangenen. Er protestierte gegen die Lynchmorde an Schwarzen in den USA, als sei er ein früher Vertreter der Black-Lives-Matter-Bewegung, und gegen die koloniale Ausbeutung der Länder des globalen Südens, als dieses Thema noch wenig Interesse weckte.
Mit seiner Geliebten Christiane Grautoff dürfte er sich heute allerdings nicht erwischen lassen. Grautoff galt als das Theaterwunderkind von Berlin. Seit sie zwölf war, spielte sie unter Regisseuren wie Max Reinhardt an den besten Bühnen der Stadt oder in Filmen mit Henny Porten und Gustaf Gründgens. Als sie den 23 Jahre älteren Toller kennenlernte, war sie erst 14. Dennoch beschrieb sie ihre Verbindung zu Toller später in ihrer Autobiographie nicht als Missbrauch, sondern als schicksalhafte Liebe. Kurz nach Grautoffs 18. Geburtstag heirateten die beiden in London.
Im Zentrum von Tollers politischem Engagement stand der Kampf gegen die NSDAP. Manche Warnungen, die er damals notierte, sind heute mit Blick auf die AfD wieder aktuell: "Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten 'abwirtschaften'. Dabei vergessen sie, daß die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht und zur Machtbehauptung. Sie wird es sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben."
Als Hitler dann tatsächlich die Macht übernahm, befand sich Toller auf einer Vortragsreise durch die Schweiz. Nur wenige Tage später brach ein SA-Trupp in seine leere Wohnung ein, wohl um ihn in ein Gefängnis oder einen ihrer Folterkeller zu verschleppen. Ob er diese Begegnung überlebt hätte, ist fraglich.
In diesen Wochen Anfang 1933 beendete er gerade die Arbeit an seiner Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland". Im Gegensatz zu seinen Theaterstücken, die mit ihrem Weltrettungs- und Menschheitspathos heute überlebt wirken, ist dieses Buch literarisch erstaunlich frisch geblieben. Der Historiker Ernst Piper hat es jetzt zusammen mit einigen umsichtig ausgewählten Dokumenten und einem ausführlichen Nachwort neu vorgelegt.
Tollers Lebensbericht reicht von seiner Geburt in einem kleinen Ort bei Posen, wo er als Sohn einer gutsituierten deutsch-jüdischen Familie aufwuchs, bis zu seiner Entlassung aus der Gefängnishaft. In einem knappen, nüchternen Ton beschreibt er die penetrant nationalistische und offen antisemitische Atmosphäre seiner Kindheit. Um den angeblichen Makel seiner jüdischen Herkunft abzustreifen, meldet er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zum Dienst an einen der mörderischsten Frontabschnitte östlich von Verdun. Was er aus diesem Inferno schildert, erinnern an Szenen aus Erich Maria Remarques Klassiker "Im Westen nichts Neues", der vielen Veteranen überhaupt erst die Sprache lieferte, in der sie von ihren albtraumhaften Erlebnissen in den Schützengräben berichten konnten.
Die größten Qualitäten des Buches liegen in der Beschreibung des revolutionären halben Jahres in Bayern zwischen November 1918 und Mai 1919. Toller schont sich dabei nicht, selbstkritisch schildert er die Illusionen und die Unfähigkeit der aufständischen Arbeiter- und Soldatenräte und ihrer Anführer. Die Lehre aus seinen revolutionären Erfahrungen fällt ebenso skeptisch wie überzeugend aus: "Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen, kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten."
Obwohl die Nazis Tollers Bücher verboten und verbrannt hatten, wurde "Eine Jugend in Deutschland" nach seinem Erscheinen im Amsterdamer Querido Verlag ein großer Erfolg, der erste der Exilliteratur. Toller ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Sein politischer Aktivismus nahm mehr und mehr manische Züge an, unterbrochen durch depressive Phasen. Christiane Grautoff verließ ihn, weil sie seinen hektischen Lebensstil nicht mehr ertrug und auch mit ihrer Arbeit als Schauspielerin nicht vereinbaren konnte. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs brachte sich Ernst Toller in New York um. UWE WITTSTOCK
Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland."
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ernst Piper. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 345 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main