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Dieser Meinung ist auch deren berühmte Kollegin Atwood: Margaret Laurence' Roman "Eine Laune Gottes"
Ein fremdes Land betrete ich immer durch seine Buchläden. Mit der neuen Luft in der Nase, dem alten Jetlag in den Knochen suche ich zuallererst die schönsten Antiquariate auf und frage: "Was ist das eine Buch Ihres Landes, das ich unbedingt lesen muss?" Während eines ersten Toronto-Besuchs stellte ich diese Frage in drei Läden. Zweimal antworteten Menschen mit Lächeln: "Eine Laune Gottes" von Margaret Laurence. Die Verkäuferin im dritten Buchladen nannte einen anderen Roman - allerdings von derselben Autorin.
In ihrem Heimatland Kanada ist die 1926 geborene und 1987 gestorbene Margaret Laurence längst eine schreibende Säulenheilige, auch wenn sie zu ihren Lebzeiten heftigem Gegenwind ausgesetzt war: harscher und persönlicher Kritik und - viel schlimmer - der Androhung von Zensur und Verkaufsverbot ihres letzten Romans, dem noch unübersetzten Meisterwerk "The Diviners". Außerhalb Kanadas ist Laurence selbst in belesenen Kreisen größtenteils unbekannt und somit - viel schlimmer - ungelesen.
Ginge es nach ihrer um eine Generation jüngeren kanadischen Kollegin Margaret Atwood, wäre die ältere Margaret die bekannteste Autorin der Welt. In ihrem Nachwort zu "Eine Laune Gottes" nennt Atwood den Roman "ein beinahe vollkommenes Buch", und sie schwärmt: "Es ist schlicht, selbstgenügsam und von eleganter Form und enthält die Essenz eines Lebens."
Das Leben, dessen Essenz Laurence' dritter Roman von 1966 enthält, ist das der Rachel Cameron. Die vierunddreißigjährige Lehrerin wartet sich in der Kleinstadt Manawaka in Manitoba durch eine monotone Existenz. Seit dem frühen Tod ihres Vaters vor vielen Jahren lebt sie mit ihrer gebrechlichen, angstvollen und bestimmenden Mutter über dem Bestattungsinstitut, das der Vater bis zu seinem Tod geleitet hat. Symbolisch ist der Tod des Vaters gleich doppelt im Hause Cameron anwesend, und auch sonst schweben über Rachels Leben die Abwesenden. Ob tot oder lebendig, sie sind es, die es aus Manawaka rausgeschafft haben.
Rachel ist eine Gefangene ihres Lebens, gekettet an ihre Mutter, für die sie aufgrund deren harmlosen Herzleidens und fortschreitender Hypochondrie selbst die Rolle einer Mutter übernehmen muss, und gekettet an ihren Lehrberuf, der sie ebenfalls zur symbolischen Mutter fremder Kinder macht. Doch Rachel will keine Mutter sein, weder symbolisch noch sonst wie. In jedem Moment ihres Lebens will Rachel nur eines: flüchten. Wenn sie mit einer Freundin ausgeht, will sie nach Hause, wenn sie bei den Bridge-Freundinnen ihrer Mutter ist, wäre sie überall lieber als zu Hause.
Was der körperlich Feststeckenden, dieser gesellschaftlich stillgestellten Frau die Möglichkeit des Ausbruchs bietet, ist ihr Innenleben. Rachels Gedankenstrom ist bisweilen so glühend, dass sich die junge Frau selbst beruhigen muss, um nicht aus ihrer Haut zu fahren. Doch gerade durch ihre Gedankenschrauben und durch Laurence' dosiert gesetzte Bewusstseinsströme spielt der Fluchtwunsch in Rachels Geist, "in diesem tiefen Theater", die Hauptrolle und wird zum Hauptantrieb des Romans.
Obwohl Laurence keine vorrangig handlungsgetriebene Schriftstellerin ist, sind ihre Bücher stilistisch derart geschliffen, ihre Beschreibungen so klar und doch häufig leicht verfremdend, dass selbst Alltäglichkeiten in dieser Prosa zu spannungsgeladenen Erzählmomenten werden. So wird etwa die Beschreibung einer Nacht, in der die stets gedankengeplagte Rachel nicht in den Schlaf findet, zu einem unheilvollen epischen Bild: "Die Nacht fühlt sich an wie ein gigantisches Riesenrad, das in der Dunkelheit seine Runden dreht, sehr langsam, eine Umdrehung pro Stunde, unendlich langsam. Und ich bin daran festgeklebt oder festgebunden wie Papier, wie ein Foto, substanzlos, unfähig, mich zu erden, unfähig, dieses langsame nächtliche Kreisen zu stoppen."
Es steckt eine große Würde in Rachels verzweifelnden Versuchen, sich von ihrer Mutter abzunabeln, die eingespurten Familienmuster aus Schuld und Verantwortung zu verlassen und ein eigenes Leben zu beginnen. Es steckt eine enorme Schönheit in ihren Versuchen wie in ihrem Scheitern. Und letztlich in ihrem verdienten Erfolg.
Eine Sommerliebe zu dem früheren Schulfreund Nick, der zurück in der Kleinstadt ist, um seinen alternden Eltern zur Hand zu gehen, bietet Rachel das lang ersehnte Schlupfloch aus Manawaka. Nur durch ihr Vertrauen zu Nick und durch seine Bewunderung für sie wagt Rachel es, ihren tiefsten Gedanken Ausdruck zu verleihen: "Ich find's schrecklich, hier zu wohnen."
Wenn Nick die Kleinstadt verlässt und Rachel eine Zeit lang einsam und gebrochen scheint, erkennt sie, dass er einer der Abwesenden ist, die sie in Gedanken zu sich ziehen. "Hör zu, Nick . . . Ich rede mit ihm, wenn er nicht da ist, und erzähle ihm alles, was mir einfällt, alles, was jemals passiert ist und wie ich mich fühle."
Alle fünf großen Romane der Autorin spielen in der fiktiven Provinzstadt Manawaka, die sie so genau entwirft wie William Faulkner sein Yoknapatawpha. Laurence' Genauigkeit des Settings führt zu wunderschönen Beschreibungen, wie jene der einzigen Straße, auf der Rachel je gewohnt hat: "Japonica Street. Unser Haus steht immer noch inmitten von Fichten, so wie ich es schon ewig in Erinnerung habe. Keine anderen Bäume sind so schützend dunkel, halten neugierige Blicke oder die Sonne im Sommer fern, die Wipfel sind höher als Häuser, die niedrigen Äste hängen schwer auf den Boden wie die grobknochigen grünschwarz gefiederten Flügel ausgestorbener Vögel."
Ein Nebeneffekt von Laurence' hyperrealistischen Schilderung des Settings und seiner Eigenheiten ist, dass man Manawaka so gestochen scharf vor sich sieht, als wäre es der eigene Ort der Kindheit, den man nicht schnell genug verlassen kann, auch wenn es der schönste Ort des Lebens bleiben wird. Die Prosa von Laurence, tiefsinnig, bildreich, humorvoll, wird von Monika Baark, die schon "Der steinerne Engel" übertrug, in ein biegsam schönes Deutsch gebracht, das dem Original nicht nachsteht.
Will oder kann man aus der reichhaltigen und vielseitigen kanadischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts nur eine Autorin lesen, so muss es Margaret Laurence sein. Wer es nicht tut, verpasst die Essenz des Lebens. JAN WILM
Margaret Laurence: "Eine Laune Gottes". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark. Nachwort von Margaret Atwood. Edition Eisele, München 2022. 287 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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