Die Geschichte der Reichspogromnacht wurde bereits wenige Wochen nach dem 9. November 1938 von dem Journalisten Konrad Heiden akribisch aufgezeichnet. Heiden hatte den Aufstieg des Nationalsozialismus seit seinen Anfängen in München beobachtet und in mehreren Büchern beschrieben. In Paris erreichten den Exilanten die ersten Augenzeugenberichte von den Ereignissen in Deutschland. Er erkannte sofort die Bedeutung der Eskalation der Gewalt und verfasste den zeitgenössischen Bericht "Eine Nacht im November 1938", der 1939 in England unter dem Titel "The New Inquisition" erschien. Sein Text, der nun nach 75 Jahren erstmals auf Deutsch publiziert wird, ist einer der frühesten Versuche einer einordnenden Gesamtdarstellung des "Zivilisationsbruchs" Reichspogromnacht. Scharfsinnig beschreibt Heiden mit bisweilen bissiger Ironie die Rassenideologie der Nationalsozialisten. Mit Hilfe zahlreicher Berichte von jüdischen Augenzeugen und gestützt auf Zeitungsartikel der NS-Propaganda und der freien Welt schildert er die Vorgeschichte und die mörderischen Ereignisse jener Nacht, die schon für die Zeitgenossen einen entscheidenden Wendepunkt in der Verfolgung der Juden darstellten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2013Landesweite Barbarei
Schon 1939 erschien ein Buch über die „Kristallnacht“
Als in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 die Scheiben splitterten, Geschäfte zerbarsten, Synagogen in Flammen aufgingen und Menschen erschlagen wurden, ahnten die meisten nicht, dass dieser staatlich gelenkte Terror zum Programm der Vernichtung der Juden gehörte. Mit den Toten der Pogromnacht rückte der physische Massenmord in die Dimension des Denkbaren. Tatsächlich gab die SS-Postille Schwarzes Korps zwei Wochen danach die Parole aus, „Verbrecher auszurotten. Das Ergebnis wäre das endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung“.
Doch wer las damals ernsthaft dieses barbarische Hetzblatt? Überliefert wurde das Zitat in der Schrift „Eine Nacht im November 1938“, der ersten auf Quellen basierenden Veröffentlichung über die Pogromnacht. Der Autor Konrad Heiden stellte Material zusammen, das er in der NS-Presse und in ausländischen Zeitungen, in Augenzeugenberichten des Jewish Central Information Office und Informationen der Exil-SPD fand.
Konrad Heiden (1901 bis 1966) war einer der frühesten kritischen Chronisten des Nationalsozialismus und einer der erfolgreichsten Publizisten im Exil. Er schrieb eine Geschichte des Nationalsozialismus, eine zweibändige Hitler-Biografie, die im Ausland Furore machte, und mehrere aufsehenerregende Bücher. Über Zürich, Paris und Lissabon flüchtete er in die USA, nach Deutschland kehrte er nie zurück. Heute ist er so gut wie vergessen, es gibt nicht einmal eine Biografie.
Das lange Zeit verharmlosend als Reichskristallnacht bezeichnete reichsweite Pogrom gegen die Juden mit seinen unfassbaren Rohheiten und Peinigungen lief als „Unternehmen Isaak“, von der Nazi-Presse höhnisch als „Jehovas Pleite“ bejubelt. Es wurde demontiert, geplündert, zerstört, misshandelt, gefoltert, gemordet. „Bestialität als Gemeinschaftsrausch“, schrieb Heiden, und „ringsum stand das versammelte Volk und sah zu“.
Die zeitnahe Tatsachenbeschreibung samt Deutung erschien 1939 in englischer („The New Exquisition“), französischer („Les Vêpres Hitlériennes“) und schwedischer („Tyskland i fara“) Übersetzung. Aber nie auf Deutsch. Jetzt endlich, zum 75. Erinnerungstag an die Pogromnacht, ist dieses entsetzlich drastische und niederschmetternde Büchlein – der bloße Text hat nur 99 Druckseiten – mit einem gründlichen Anhang erstmals in Konrad Heidens Sprache lesbar.
HELMUT LÖLHÖFFEL
Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht. Hrsg.: Markus Roth, Sascha Feuchert, Christiane Weber. Wallstein Verlag, 2013. 192 Seiten, 19,90 Euro.
Der Publizist Helmut Lölhöffel lebt in Berlin.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schon 1939 erschien ein Buch über die „Kristallnacht“
Als in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 die Scheiben splitterten, Geschäfte zerbarsten, Synagogen in Flammen aufgingen und Menschen erschlagen wurden, ahnten die meisten nicht, dass dieser staatlich gelenkte Terror zum Programm der Vernichtung der Juden gehörte. Mit den Toten der Pogromnacht rückte der physische Massenmord in die Dimension des Denkbaren. Tatsächlich gab die SS-Postille Schwarzes Korps zwei Wochen danach die Parole aus, „Verbrecher auszurotten. Das Ergebnis wäre das endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung“.
Doch wer las damals ernsthaft dieses barbarische Hetzblatt? Überliefert wurde das Zitat in der Schrift „Eine Nacht im November 1938“, der ersten auf Quellen basierenden Veröffentlichung über die Pogromnacht. Der Autor Konrad Heiden stellte Material zusammen, das er in der NS-Presse und in ausländischen Zeitungen, in Augenzeugenberichten des Jewish Central Information Office und Informationen der Exil-SPD fand.
Konrad Heiden (1901 bis 1966) war einer der frühesten kritischen Chronisten des Nationalsozialismus und einer der erfolgreichsten Publizisten im Exil. Er schrieb eine Geschichte des Nationalsozialismus, eine zweibändige Hitler-Biografie, die im Ausland Furore machte, und mehrere aufsehenerregende Bücher. Über Zürich, Paris und Lissabon flüchtete er in die USA, nach Deutschland kehrte er nie zurück. Heute ist er so gut wie vergessen, es gibt nicht einmal eine Biografie.
Das lange Zeit verharmlosend als Reichskristallnacht bezeichnete reichsweite Pogrom gegen die Juden mit seinen unfassbaren Rohheiten und Peinigungen lief als „Unternehmen Isaak“, von der Nazi-Presse höhnisch als „Jehovas Pleite“ bejubelt. Es wurde demontiert, geplündert, zerstört, misshandelt, gefoltert, gemordet. „Bestialität als Gemeinschaftsrausch“, schrieb Heiden, und „ringsum stand das versammelte Volk und sah zu“.
Die zeitnahe Tatsachenbeschreibung samt Deutung erschien 1939 in englischer („The New Exquisition“), französischer („Les Vêpres Hitlériennes“) und schwedischer („Tyskland i fara“) Übersetzung. Aber nie auf Deutsch. Jetzt endlich, zum 75. Erinnerungstag an die Pogromnacht, ist dieses entsetzlich drastische und niederschmetternde Büchlein – der bloße Text hat nur 99 Druckseiten – mit einem gründlichen Anhang erstmals in Konrad Heidens Sprache lesbar.
HELMUT LÖLHÖFFEL
Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht. Hrsg.: Markus Roth, Sascha Feuchert, Christiane Weber. Wallstein Verlag, 2013. 192 Seiten, 19,90 Euro.
Der Publizist Helmut Lölhöffel lebt in Berlin.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2013Konrad Heiden als Zeuge des Pogroms
Als der deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath am 7. November 1938 in Paris niederschoss, konnte er nicht ahnen, dass diese Verzweiflungstat von den Nationalsozialisten als Vorwand benutzt werden würde, um einen lange geplanten mörderischen Furor gegen die deutschen Juden zu entfachen. In dem als Reichspogromnacht in die Geschichtsbücher eingegangenen Terror der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 wurde eine neue Qualität der antisemitischen Verfolgungspraxis sichtbar. Die Zahl der ermordeten, misshandelten und deportierten Opfer, die zerstörten Synagogen und geraubten Kunstschätze bedeuteten eine neue Stufe der völkischen Rassenpolitik: "Ausschaltung" der Juden aus dem öffentlichen Leben musste von nun an auch in der tödlichen Dimension des Begriffs verstanden werden.
Einer, der diese Systematik des staatlich gelenkten antijüdischen Pogroms erkannt hatte, war der Journalist Konrad Heiden. Im französischen Exil schrieb er innerhalb weniger Wochen nach den Ereignissen der Pogromnacht eine umfassende Quellenstudie der antisemitischen Ausschreitungen. Der 1939 publizierte Bericht ist Chronologie und Analyse des Entrechtungsprozesses der Juden. Nun kann man ihn mit großer Verspätung erstmals auf Deutsch lesen (Konrad Heiden: "Eine Nacht im November 1938". Ein zeitgenössischer Bericht. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 192 S., geb., 19,90 [Euro]).
Für Heiden war klar, dass der Terror jener Nacht nicht unabhängig von dem größeren Kontext politischer Programmatik betrachtet werden konnte, der die antisemitischen Aktionen und Gesetze seit der Machtübergabe an die Nazis 1933 bestimmte. Freilich war es kein Zufall, dass ihm frühzeitig das Ausmaß des Werks der "hochzivilisierten Barbaren" bewusst war: Heiden galt als intimer Kenner der Nazi-Bewegung, hatte die erste, weltweit beachtete Hitler-Biographie verfasst und den Aufstieg der NSDAP mit zahlreichen Interventionen begleitet.
Seine Untersuchung füllt eine Lücke, die viele seiner Zeitgenossen in ihren Abhandlungen über den NS-Staat offengelassen haben: die zentrale Stellung der antisemitischen Weltanschauung im Nationalsozialismus. Zudem schildert er eindrucksvoll die Zunahme des Terrors, belegt durch zahlreiche Augenzeugenberichte jüdischer Flüchtlinge. Besonders die auf die Nacht des 9. November folgenden Tage ließen Heiden konstatieren, dass von den Nationalsozialisten "ein Massenmord gewünscht wird".
OLIVER MARUSCZYK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als der deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath am 7. November 1938 in Paris niederschoss, konnte er nicht ahnen, dass diese Verzweiflungstat von den Nationalsozialisten als Vorwand benutzt werden würde, um einen lange geplanten mörderischen Furor gegen die deutschen Juden zu entfachen. In dem als Reichspogromnacht in die Geschichtsbücher eingegangenen Terror der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 wurde eine neue Qualität der antisemitischen Verfolgungspraxis sichtbar. Die Zahl der ermordeten, misshandelten und deportierten Opfer, die zerstörten Synagogen und geraubten Kunstschätze bedeuteten eine neue Stufe der völkischen Rassenpolitik: "Ausschaltung" der Juden aus dem öffentlichen Leben musste von nun an auch in der tödlichen Dimension des Begriffs verstanden werden.
Einer, der diese Systematik des staatlich gelenkten antijüdischen Pogroms erkannt hatte, war der Journalist Konrad Heiden. Im französischen Exil schrieb er innerhalb weniger Wochen nach den Ereignissen der Pogromnacht eine umfassende Quellenstudie der antisemitischen Ausschreitungen. Der 1939 publizierte Bericht ist Chronologie und Analyse des Entrechtungsprozesses der Juden. Nun kann man ihn mit großer Verspätung erstmals auf Deutsch lesen (Konrad Heiden: "Eine Nacht im November 1938". Ein zeitgenössischer Bericht. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 192 S., geb., 19,90 [Euro]).
Für Heiden war klar, dass der Terror jener Nacht nicht unabhängig von dem größeren Kontext politischer Programmatik betrachtet werden konnte, der die antisemitischen Aktionen und Gesetze seit der Machtübergabe an die Nazis 1933 bestimmte. Freilich war es kein Zufall, dass ihm frühzeitig das Ausmaß des Werks der "hochzivilisierten Barbaren" bewusst war: Heiden galt als intimer Kenner der Nazi-Bewegung, hatte die erste, weltweit beachtete Hitler-Biographie verfasst und den Aufstieg der NSDAP mit zahlreichen Interventionen begleitet.
Seine Untersuchung füllt eine Lücke, die viele seiner Zeitgenossen in ihren Abhandlungen über den NS-Staat offengelassen haben: die zentrale Stellung der antisemitischen Weltanschauung im Nationalsozialismus. Zudem schildert er eindrucksvoll die Zunahme des Terrors, belegt durch zahlreiche Augenzeugenberichte jüdischer Flüchtlinge. Besonders die auf die Nacht des 9. November folgenden Tage ließen Heiden konstatieren, dass von den Nationalsozialisten "ein Massenmord gewünscht wird".
OLIVER MARUSCZYK
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Klaus Hillenbrand begrüßt Konrad Heidens Buch über die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, das nun erstmals in einer deutschen Ausgabe vorliegt. Er kennt kaum einen "wortgewaltigeren, exakteren und entschiedeneren" Gegner der Nazis als den heute weitgehend vergessenen Autor, der unter anderem eine der ersten Biografien über Hitler verfasst hatte, die 1935 in Zürich erscheinen konnte. Das 1939/40 in englischer, französischer und schwedischer Sprache erschienene Buch "Eine Nacht im November 1938" ist für Hillenbrand eines der bedeutendsten Werke des 1966 im Exil verstorbenen Heiden. Er würdigt das Buch, das zahlreiche Augenzeugenberichte von Opfern des 9./10. November 1938 versammelt, als eindringliches und beklemmendes "Dokument der Nazibarbarei", des Leidens der deutschen Juden und des Wegsehens ihrer Nachbarn.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Jetzt endlich, zum 75. Erinnerungstag an die Pogromnacht, ist dieses entsetzlich drastische und niederschmetternde Büchlein (...) erstmals in Konrad Heidens Sprache lesbar.« (Helmut Lölhöffel, Süddeutsche Zeitung, 05.11.2013)