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Als der deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath am 7. November 1938 in Paris niederschoss, konnte er nicht ahnen, dass diese Verzweiflungstat von den Nationalsozialisten als Vorwand benutzt werden würde, um einen lange geplanten mörderischen Furor gegen die deutschen Juden zu entfachen. In dem als Reichspogromnacht in die Geschichtsbücher eingegangenen Terror der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 wurde eine neue Qualität der antisemitischen Verfolgungspraxis sichtbar. Die Zahl der ermordeten, misshandelten und deportierten Opfer, die zerstörten Synagogen und geraubten Kunstschätze bedeuteten eine neue Stufe der völkischen Rassenpolitik: "Ausschaltung" der Juden aus dem öffentlichen Leben musste von nun an auch in der tödlichen Dimension des Begriffs verstanden werden.
Einer, der diese Systematik des staatlich gelenkten antijüdischen Pogroms erkannt hatte, war der Journalist Konrad Heiden. Im französischen Exil schrieb er innerhalb weniger Wochen nach den Ereignissen der Pogromnacht eine umfassende Quellenstudie der antisemitischen Ausschreitungen. Der 1939 publizierte Bericht ist Chronologie und Analyse des Entrechtungsprozesses der Juden. Nun kann man ihn mit großer Verspätung erstmals auf Deutsch lesen (Konrad Heiden: "Eine Nacht im November 1938". Ein zeitgenössischer Bericht. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 192 S., geb., 19,90 [Euro]).
Für Heiden war klar, dass der Terror jener Nacht nicht unabhängig von dem größeren Kontext politischer Programmatik betrachtet werden konnte, der die antisemitischen Aktionen und Gesetze seit der Machtübergabe an die Nazis 1933 bestimmte. Freilich war es kein Zufall, dass ihm frühzeitig das Ausmaß des Werks der "hochzivilisierten Barbaren" bewusst war: Heiden galt als intimer Kenner der Nazi-Bewegung, hatte die erste, weltweit beachtete Hitler-Biographie verfasst und den Aufstieg der NSDAP mit zahlreichen Interventionen begleitet.
Seine Untersuchung füllt eine Lücke, die viele seiner Zeitgenossen in ihren Abhandlungen über den NS-Staat offengelassen haben: die zentrale Stellung der antisemitischen Weltanschauung im Nationalsozialismus. Zudem schildert er eindrucksvoll die Zunahme des Terrors, belegt durch zahlreiche Augenzeugenberichte jüdischer Flüchtlinge. Besonders die auf die Nacht des 9. November folgenden Tage ließen Heiden konstatieren, dass von den Nationalsozialisten "ein Massenmord gewünscht wird".
OLIVER MARUSCZYK
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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