Die Entstehung der menschlichen Moral gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaft. Gestützt auf jahrzehntelange empirische Forschungen, rekonstruiert Michael Tomasello die Entwicklung des einzigartigen menschlichen Sinns für Werte und Normen als einen langfristigen Prozess. Dieser beginnt vor einigen hunderttausend Jahren, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mussten, um zu überleben; und er endet beim modernen, ultrakooperativen homo sapiens sapiens. Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral ist der derzeit wohl umfassendste Versuch zu verstehen, wie wir das geworden sind, was nur wir sind: genuin moralische Wesen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2016Wir ist mehr als ich
Woher nur kommt die Moral? Der Anthropologe Michael Tomasello findet die Antwort in der Naturgeschichte
Ein Primatenforscher, der Leipziger Max-Planck-Direktor Michael Tomasello, lässt auf seine frühere „Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ (2014) eine „Naturgeschichte der menschlichen Moral“ folgen. Als Biologe fügt er sich dem Denkrahmen von Charles Darwin und glaubt, nicht die Konkurrenz unter den Menschen, wohl aber die Kooperation bedürfe der Erklärung. Folgerichtig ist ihm Kants Gedanke der ungeselligen Geselligkeit fremd. Stattdessen sucht er zu zeigen, dass wegen neuer Umweltbedingungen für die Menschen die Kooperation notwendig wird und dass es zu deren Stabilität die Moral braucht. Das teils durch empirische Forschung, teils durch eine spekulative Vorstellungskraft gestützte Werk könnte daher auch den Titel tragen „Eine Naturgeschichte der menschlichen Kooperation“.
Ohne sich auf die einschlägigen Begriffskontroversen einzulassen, auch beinahe ohne jede nichtenglischsprachige Literatur hält Tomasello die Moral für den Inbegriff der einschlägigen Verbindlichkeiten: Moral ist für die lebensnotwendig gewordene Kooperation unverzichtbar, Punkt. Wie heute unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern üblich, wird also die Moral auf die Sozialmoral verkürzt. Für echte Pflichten gegen sich besteht kein Platz. Weil nach Tomasello die Moral der Kooperation und nur der Kooperation dient, kann man in seinen beiden Naturgeschichten unschwer die klassischen Bestimmungen des Menschen wiederfinden. Die Naturgeschichte des Denkens beschreibt den Menschen als sprach- und vernunftbegabtes, die der Moral als soziales Wesen.
Tomasellos Naturgeschichte der Moral beginnt sehr früh, vor sechs Millionen Jahren. Sie setzt bei den gemeinsamen Vorfahren der Menschenaffen und der Menschen an, da schon damals die zwei „moralischen“ Grundformen der Kooperation zutage traten, die altruistische Hilfe und die Zusammenarbeit zu wechselseitigem Vorteil. Beide Formen finden sich beim Menschen wieder, jetzt als Moral des Mitgefühls, beispielsweise als elterliche Fürsorge, und als Moral der Fairness im Rahmen einer von Wettbewerb freien Kooperation.
Tomasello beschreibt die Entstehung der Einzigartigkeit menschlicher Moral als eine zweistufige Entwicklung „jenseits der Menschenaffen“. Die erste Stufe, besser Phase, beginnt vor etwa 400 000 Jahren mit dem „Frühmenschen“: Wegen einer veränderten Umwelt sieht er sich gezwungen, seine Nahrung entweder mit einem Partner zu suchen oder aber zu verhungern. Allerdings stellt sich die Frage, ob tatsächlich nur die Umwelt, also lediglich ein externer Faktor zur Kooperation drängte oder im Menschen als einem sprach- und vernunftbegabten Wesen, auch ein innerer Antrieb lag. Jedenfalls entsteht damals, was Tomasello die „zweitpersonale Moral“ nennt, die sich schematisch in drei Formeln darstellen lasse: Auf die „Du ist mehr als Ich“-Formel, die frühmenschliche Moral des Mitgefühls, folgt die „Du gleich Ich“-Formel der Fairnessmoral, und gemäß der „Wir ist mehr als Ich“-Formel treten die Partner „die Gesamtkontrolle über ihre Einzelhandlungen uneingeschränkt an den gemeinsamen Akteur ‚wir‘ ab“. Damit sei die menschliche Spezies von der strategischen Kooperation zur echten Moral übergegangen.
In der zweiten Phase, vor circa 150 000 Jahren, entwickelt sich die Zweitpersonenmoral zur „objektiven“ Moral. Die Mitgefühlsmoral der Frühmenschen gegenüber ihren direkten Kooperationspartnern wandelt sich zur Loyalität gegenüber allen Mitgliedern der jeweiligen Kulturgruppe. Wie diese Entwicklung zustande kommt, wie aus der Fairnessmoral der Frühmenschen die Gerechtigkeitsmoral der modernen Menschen wird, zeigt Tomasello an den drei dafür entscheidenden psychologischen Prozessen (die ansonsten schöne Übersetzung, kommt hier leider nicht ohne die vielen üblich gewordenen Fremdwörter aus): Es brauche die kognitiven Prozesse kollektiver Intentionalität, die sozial-interaktiven Prozesse kulturellen Handelns und kultureller Identität und die selbstregulierenden Prozesse der moralischen Selbststeuerung und moralischen Identität.
Bekanntlich finden wir uns heute vor zahlreiche moralische Dilemmata gestellt. Tomasello nennt dafür einen überzeugenden Grund: Wegen der skizzierten Naturgeschichte stehe der heutige Mensch „unter dem Einfluss von mindestens drei verschiedenen Arten von Moral“: der Moral des Mitgefühls für Verwandte und Freunde, der Moral der Kooperation mit wohlbestimmten Personen und jener „kollektiven Moral kultureller Normen und Institutionen, der zufolge alle Mitglieder der Kulturgruppe“ – allerdings auch nur dieser Gruppe! – „gleichermaßen wertvoll sind“.
Den Schritt zu einer wahrhaft universalistischen, alle Menschen als gleichermaßen wertvoll zu betrachtenden Moral geht Tomasello nicht. Daher fehlt auch die Frage, ob dafür lediglich externe Ursachen oder auch einige der Moral interne Gründe verantwortlich sind. Ebenso wenig wird verständlich, warum es jene über alle Kulturgrenzen hinweg gemeinsamen Verbindlichkeiten gibt, die ich ein „Weltmoralerbe“ nenne. In dessen so gut wie überall und zu allen Zeiten erhobenen Forderungen nach Rechtschaffenheit und Hilfsbereitschaft, auch nach Anerkennung der Goldenen Regel taucht Tomasellos Einschränkung auf die Mitglieder der jeweils eigenen Kultur nicht auf.
In der Bezeichnung der entsprechenden Subjekte als „moderner Menschen“ liegt eine Provokation, auf die Tomasello nicht aufmerksam macht, sodass ihm eine wichtige Pointe entgeht. Nach der für die Biologie mit ihrer Evolutionstheorie plausiblen, für andere Disziplinen wie die Ideen- und die Sozialgeschichte aber problematischen Annahme soll unsere Spezies sich seit 150 000 Jahren nicht wesentlich verändert haben. Seitdem gelte der Mensch als homo sapiens sapiens, worin eine zwar übliche, aber doch merkwürdige Verdoppelung der Sapientia liegt: Ist der Mensch tatsächlich in einem qualitativen Sinn „weiser“ oder zumindest „(lebens)klüger“ geworden? Wichtiger ist die Frage, warum aus nichtbiologischer Sicht die Moderne viel später beginnt, etwa mit der Reformation oder mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Die einschlägige Kontroverse kann hier dahingestellt bleiben, denn sozial- und ideengeschichtlich gesehen beginnt die Moderne nicht schon vor etlichen Jahrzehntausenden, sondern erst vor wenigen Jahrhunderten.
Somit bieten sich zwei grundverschiedene Begriffe von Moderne an, die zwar problemlos nebeneinander bestehen können, für das Thema, die menschliche Moral, aber eine Überlegung verdienen.
Ein Moralphilosoph liest Tomasellos Werk mit erheblichem Gewinn, da es neue Einsichten eröffnet. Er vermisst aber die für eine Diskussion der menschlichen Moral unverzichtbaren Alternativen, namentlich die großen Vier: den Eudaimonismus, der sich am gelungenen Leben orientiert; den Autonomiegedanken, also die Selbstgesetzgebung des Willens samt dem kategorischen Imperativ; den Utilitarismus mit dem „größten Glück der größten Zahl“ und als deren ständigen Begleiter die facettenreiche Moralkritik. So bedeutende Denker wie Aristoteles, Kant und Bentham nebst Mill tauchen nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Tomasello könnte zwar einwenden, diese Grundpositionen philosophischer Ethik gehörten nicht mehr zur Naturgeschichte der Moral. Dann aber sollte er einräumen, dass ab einer gewissen Phase die Naturgeschichte der menschlichen Moral in eine Sozial- und Kulturgeschichte übergeht, ihr sogar weicht.
Auch folgende Frage bleibt unerörtert: Laut Tomasello zeichnet den Menschen seit Jahrzehntausenden ein gegenseitiger Respekt aus. Trotzdem bestehen mancherorts über Jahrhunderte Sklaverei und Leibeigenschaft, herrscht vielerorts die Ungleichbehandlung der „unteren Stände“ und der Frauen vor und erhalten sich mafiöse Strukturen immer noch: Ist der heutige Mensch im Unterschied zu den frühen Sammlern und Jägern, obwohl auch er zweifach „sapient“ ist, nicht lebensklug genug, die Vorteile der kooperativen Rationalität rundum zu ernten?
OTFRIED HÖFFE
Die Fairnessmoral der
Frühmenschen wandelt sich zur
modernen Gerechtigkeitsmoral
Sammler und Jäger haben
die Vorteile der Kooperation
erkannt. Und wir?
Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 282 Seiten, 32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Woher nur kommt die Moral? Der Anthropologe Michael Tomasello findet die Antwort in der Naturgeschichte
Ein Primatenforscher, der Leipziger Max-Planck-Direktor Michael Tomasello, lässt auf seine frühere „Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ (2014) eine „Naturgeschichte der menschlichen Moral“ folgen. Als Biologe fügt er sich dem Denkrahmen von Charles Darwin und glaubt, nicht die Konkurrenz unter den Menschen, wohl aber die Kooperation bedürfe der Erklärung. Folgerichtig ist ihm Kants Gedanke der ungeselligen Geselligkeit fremd. Stattdessen sucht er zu zeigen, dass wegen neuer Umweltbedingungen für die Menschen die Kooperation notwendig wird und dass es zu deren Stabilität die Moral braucht. Das teils durch empirische Forschung, teils durch eine spekulative Vorstellungskraft gestützte Werk könnte daher auch den Titel tragen „Eine Naturgeschichte der menschlichen Kooperation“.
Ohne sich auf die einschlägigen Begriffskontroversen einzulassen, auch beinahe ohne jede nichtenglischsprachige Literatur hält Tomasello die Moral für den Inbegriff der einschlägigen Verbindlichkeiten: Moral ist für die lebensnotwendig gewordene Kooperation unverzichtbar, Punkt. Wie heute unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern üblich, wird also die Moral auf die Sozialmoral verkürzt. Für echte Pflichten gegen sich besteht kein Platz. Weil nach Tomasello die Moral der Kooperation und nur der Kooperation dient, kann man in seinen beiden Naturgeschichten unschwer die klassischen Bestimmungen des Menschen wiederfinden. Die Naturgeschichte des Denkens beschreibt den Menschen als sprach- und vernunftbegabtes, die der Moral als soziales Wesen.
Tomasellos Naturgeschichte der Moral beginnt sehr früh, vor sechs Millionen Jahren. Sie setzt bei den gemeinsamen Vorfahren der Menschenaffen und der Menschen an, da schon damals die zwei „moralischen“ Grundformen der Kooperation zutage traten, die altruistische Hilfe und die Zusammenarbeit zu wechselseitigem Vorteil. Beide Formen finden sich beim Menschen wieder, jetzt als Moral des Mitgefühls, beispielsweise als elterliche Fürsorge, und als Moral der Fairness im Rahmen einer von Wettbewerb freien Kooperation.
Tomasello beschreibt die Entstehung der Einzigartigkeit menschlicher Moral als eine zweistufige Entwicklung „jenseits der Menschenaffen“. Die erste Stufe, besser Phase, beginnt vor etwa 400 000 Jahren mit dem „Frühmenschen“: Wegen einer veränderten Umwelt sieht er sich gezwungen, seine Nahrung entweder mit einem Partner zu suchen oder aber zu verhungern. Allerdings stellt sich die Frage, ob tatsächlich nur die Umwelt, also lediglich ein externer Faktor zur Kooperation drängte oder im Menschen als einem sprach- und vernunftbegabten Wesen, auch ein innerer Antrieb lag. Jedenfalls entsteht damals, was Tomasello die „zweitpersonale Moral“ nennt, die sich schematisch in drei Formeln darstellen lasse: Auf die „Du ist mehr als Ich“-Formel, die frühmenschliche Moral des Mitgefühls, folgt die „Du gleich Ich“-Formel der Fairnessmoral, und gemäß der „Wir ist mehr als Ich“-Formel treten die Partner „die Gesamtkontrolle über ihre Einzelhandlungen uneingeschränkt an den gemeinsamen Akteur ‚wir‘ ab“. Damit sei die menschliche Spezies von der strategischen Kooperation zur echten Moral übergegangen.
In der zweiten Phase, vor circa 150 000 Jahren, entwickelt sich die Zweitpersonenmoral zur „objektiven“ Moral. Die Mitgefühlsmoral der Frühmenschen gegenüber ihren direkten Kooperationspartnern wandelt sich zur Loyalität gegenüber allen Mitgliedern der jeweiligen Kulturgruppe. Wie diese Entwicklung zustande kommt, wie aus der Fairnessmoral der Frühmenschen die Gerechtigkeitsmoral der modernen Menschen wird, zeigt Tomasello an den drei dafür entscheidenden psychologischen Prozessen (die ansonsten schöne Übersetzung, kommt hier leider nicht ohne die vielen üblich gewordenen Fremdwörter aus): Es brauche die kognitiven Prozesse kollektiver Intentionalität, die sozial-interaktiven Prozesse kulturellen Handelns und kultureller Identität und die selbstregulierenden Prozesse der moralischen Selbststeuerung und moralischen Identität.
Bekanntlich finden wir uns heute vor zahlreiche moralische Dilemmata gestellt. Tomasello nennt dafür einen überzeugenden Grund: Wegen der skizzierten Naturgeschichte stehe der heutige Mensch „unter dem Einfluss von mindestens drei verschiedenen Arten von Moral“: der Moral des Mitgefühls für Verwandte und Freunde, der Moral der Kooperation mit wohlbestimmten Personen und jener „kollektiven Moral kultureller Normen und Institutionen, der zufolge alle Mitglieder der Kulturgruppe“ – allerdings auch nur dieser Gruppe! – „gleichermaßen wertvoll sind“.
Den Schritt zu einer wahrhaft universalistischen, alle Menschen als gleichermaßen wertvoll zu betrachtenden Moral geht Tomasello nicht. Daher fehlt auch die Frage, ob dafür lediglich externe Ursachen oder auch einige der Moral interne Gründe verantwortlich sind. Ebenso wenig wird verständlich, warum es jene über alle Kulturgrenzen hinweg gemeinsamen Verbindlichkeiten gibt, die ich ein „Weltmoralerbe“ nenne. In dessen so gut wie überall und zu allen Zeiten erhobenen Forderungen nach Rechtschaffenheit und Hilfsbereitschaft, auch nach Anerkennung der Goldenen Regel taucht Tomasellos Einschränkung auf die Mitglieder der jeweils eigenen Kultur nicht auf.
In der Bezeichnung der entsprechenden Subjekte als „moderner Menschen“ liegt eine Provokation, auf die Tomasello nicht aufmerksam macht, sodass ihm eine wichtige Pointe entgeht. Nach der für die Biologie mit ihrer Evolutionstheorie plausiblen, für andere Disziplinen wie die Ideen- und die Sozialgeschichte aber problematischen Annahme soll unsere Spezies sich seit 150 000 Jahren nicht wesentlich verändert haben. Seitdem gelte der Mensch als homo sapiens sapiens, worin eine zwar übliche, aber doch merkwürdige Verdoppelung der Sapientia liegt: Ist der Mensch tatsächlich in einem qualitativen Sinn „weiser“ oder zumindest „(lebens)klüger“ geworden? Wichtiger ist die Frage, warum aus nichtbiologischer Sicht die Moderne viel später beginnt, etwa mit der Reformation oder mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Die einschlägige Kontroverse kann hier dahingestellt bleiben, denn sozial- und ideengeschichtlich gesehen beginnt die Moderne nicht schon vor etlichen Jahrzehntausenden, sondern erst vor wenigen Jahrhunderten.
Somit bieten sich zwei grundverschiedene Begriffe von Moderne an, die zwar problemlos nebeneinander bestehen können, für das Thema, die menschliche Moral, aber eine Überlegung verdienen.
Ein Moralphilosoph liest Tomasellos Werk mit erheblichem Gewinn, da es neue Einsichten eröffnet. Er vermisst aber die für eine Diskussion der menschlichen Moral unverzichtbaren Alternativen, namentlich die großen Vier: den Eudaimonismus, der sich am gelungenen Leben orientiert; den Autonomiegedanken, also die Selbstgesetzgebung des Willens samt dem kategorischen Imperativ; den Utilitarismus mit dem „größten Glück der größten Zahl“ und als deren ständigen Begleiter die facettenreiche Moralkritik. So bedeutende Denker wie Aristoteles, Kant und Bentham nebst Mill tauchen nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Tomasello könnte zwar einwenden, diese Grundpositionen philosophischer Ethik gehörten nicht mehr zur Naturgeschichte der Moral. Dann aber sollte er einräumen, dass ab einer gewissen Phase die Naturgeschichte der menschlichen Moral in eine Sozial- und Kulturgeschichte übergeht, ihr sogar weicht.
Auch folgende Frage bleibt unerörtert: Laut Tomasello zeichnet den Menschen seit Jahrzehntausenden ein gegenseitiger Respekt aus. Trotzdem bestehen mancherorts über Jahrhunderte Sklaverei und Leibeigenschaft, herrscht vielerorts die Ungleichbehandlung der „unteren Stände“ und der Frauen vor und erhalten sich mafiöse Strukturen immer noch: Ist der heutige Mensch im Unterschied zu den frühen Sammlern und Jägern, obwohl auch er zweifach „sapient“ ist, nicht lebensklug genug, die Vorteile der kooperativen Rationalität rundum zu ernten?
OTFRIED HÖFFE
Die Fairnessmoral der
Frühmenschen wandelt sich zur
modernen Gerechtigkeitsmoral
Sammler und Jäger haben
die Vorteile der Kooperation
erkannt. Und wir?
Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 282 Seiten, 32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Lars Weisbrod hat Michael Tomasellos "Naturgeschichte der menschlichen Moral" zwar durchaus mit Interesse gelesen. Allerdings räumt der Kritiker ein, dass der Verhaltensforscher die üppig zitierten moralphilosophischen Gewährsmänner, von Hume über Rousseau bis zu Strawson, nicht recht einzuordnen weiß und der Leser in Folge häufig verloren zurückbleibt. Und auch wenn Weisbrod hier einige provokante metaethische Fragen, etwa zur Relativität von Werten, entdeckt, muss er gestehen, dass Tomasello beim Versuch, Moral evolutionär zu erklären, ziemlich ins Schlittern gerät.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2016Schimpansen sind und bleiben Egozentriker
Am Anfang war das Fressen, dann kam die Moral. Aber wie genau hat sich das zugetragen? Der Primatenforscher Michael Tomasello unternimmt eine evolutionäre Herleitung.
Die Flüchtlingskrise hat zweierlei gezeigt: Zum einen haben viele Menschen anderen geholfen, die in großer Not zu ihnen kamen. Zum anderen aber hat es im Laufe der Zeit Abgrenzungsbewegungen gegeben, deren Ziel darin bestand, ein "Wir" vor den "Fremden" zu schützen. In seinem neuen Buch geht es dem Anthropologen und Verhaltensforscher Michael Tomasello nicht um politische Fragen der Gegenwart. Und doch kennt das Buch, das zeigen will, wie sich zentrale moralische Kompetenzen des Menschen evolutionär entwickelt haben, sowohl ein selbstloses Mitgefühl als auch eine eher gruppenbezogene Moral, die nach innen bindet, nach außen aber ausschließt.
"Die einzigartige menschliche Variante der Kooperation, die wir als Moral kennen", so Tomasello, "tritt in der Natur in zwei analogen Formen auf. Einerseits kann eine Person Opfer bringen, um einer anderen Person zu helfen . . . Andererseits können miteinander interagierende Personen nach einer Möglichkeit suchen, damit alle einen ausgeglichenen Nutzen haben." Das "alle" im letzten Teil des Zitats meint nun nicht alle Menschen, sondern eben alle, mit denen ich kooperiere, sei es in der Jagd, im Feldbau oder im Unternehmen.
Kooperation ist neben Selektion und Anpassung der Schlüsselbegriff der "hypothetischen" Geschichte, die Tomasello erzählt. Die Moral entsteht in Zusammenhängen, in denen Individuen miteinander kooperieren müssen, weil sie anders nicht an Nahrungsmittel kommen oder Unterkünfte bauen können. Schon für Primaten gilt, dass sie in konkreten Handlungszusammenhängen, etwa einer Jagd, lokale Gemeinschaften bilden, die nur funktionieren können, wenn alle mehr oder weniger an einem Strang ziehen und dafür auch bereit sind, eigene Bedürfnisse zurückzustellen.
Anders als andere Primatenforscher geht Tomasello aber nicht davon aus, dass Primaten echte gemeinsame Intentionalität kennen; sie können in einer Gruppe gemeinsam jagen, aber wenn die Beute erlegt ist, hätte im Prinzip jeder gerne die Beute für sich allein, das Ziel der Jagd war also nicht wirklich ein gemeinsames. So bleiben in Tomasellos Perspektive Schimpansen und Bonobos egozentrische Tiere, die in einer konkurrenzorientierten Umwelt leben und nur dann kooperieren, wenn es aus Konkurrenzgründen nötig ist. Mitgefühl entwickeln sie nur gegenüber Verwandten und "Freunden", nicht aber gegenüber fremden Tieren.
Eine Überwindung der rein egozentrischen Perspektive sieht Tomasello erst auf der Stufe früher Menschen gegeben, die aus Gründen gewandelter Lebensbedingungen genötigt waren, in kleinen Gruppen Ziele gemeinsam zu erreichen. Hier entwickelten sich arbeitsteilige Abhängigkeiten, deren letzter Zweck immer noch strategisch war, in denen aber immerhin ein Bewusstsein der Angewiesenheit auf andere entstehen konnte, das zu reziproken Verpflichtungsgefühlen führte.
Weil man den anderen als Kollaborationspartner brauchte, musst man um sein Wohlergehen besorgt sein und entwickelte geteilte normative Standards, die, darauf weist Tomasello immer wieder hin, die Form einer Vertragsmoral annahmen und sich damit nur auf die erstreckten, mit denen man tatsächlich kooperierte. Aber immerhin, der "kooperative Samen", der langfristig moralische Früchte tragen sollte, war gesät, eine "zweitpersonale Moral" konnte entstehen, die auf gegenseitigem Respekt beruhte und Vertragsbruch mit moralischen Sanktionen belegte.
Die nächste Stufe der moralischen Evolution war erreicht, als sich die kooperierenden Gruppen quantitativ vergrößerten und schließlich umfassendere Kulturen entstanden, die als Kollektive normative Regelungen brauchten. Um ein Gespür für Zeiträume zu bekommen: Tomasello lässt diese Phase vor etwa 100 000 Jahren beginnen, und, wenn man ihn richtig deutet, hält sie bis heute an und bringt das hervor, was er den "modernen" Menschen nennt. In großen kulturellen Gruppen kennt man zwar die meisten anderen nicht mehr, aber wenn man sie als Mitglieder der eigenen Kultur identifiziert, dann kann man davon ausgehen, dass sie wissen, was sich in dieser Kultur gehört und was nicht, was "objektiv" richtig ist und was nicht. Ein Sinn für Recht, Gerechtigkeit, Pflicht und Schuld entsteht, Loyalität der Gruppe gegenüber gehört nun zu den wichtigsten Elementen der moralischen Identität.
Obgleich Tomasello seine Überlegungen mit zahlreichen philosophischen Überlegungen stützt, enthalten sie doch einige philosophische Provokationen und eine Menge ungelöster Spannungen. So bedeutet "moderne" Moral für die meisten Philosophen - zumindest wenn sie unter dem Einfluss Kants stehen, was für einige der von Tomasello zitierten Autoren gilt - natürlich nicht Gruppenmoral, sondern eine universale Moral, die für alle gilt, unabhängig von spezifischen Zugehörigkeiten.
Tatsächlich spricht Tomasello an manchen Punkten auch von einer "natürlichen Moral", die allen Menschen eigen ist und sie zu Mitgefühl allen anderen Menschen gegenüber anhält, aber er scheint davon auszugehen, dass die "Diktate" dieser natürlichen Moral stets kulturell gebrochen werden und somit nie rein auftreten. So heißt es vom Regime der Apartheid, es habe eine "kreative Buchführung mit Bezug darauf, wer zur moralischen Gemeinschaft" gehört, betrieben, die im Augenblick der Aufhebung der Apartheid gleichsam durchschaut wurde, als hätte eine von Rassismus getriebene Gruppe einen Fehler erkannt: "Hoppla, die gehören ja doch zu uns!" Das ist nicht nur soziologisch und politisch naiv, es passt auch nicht zu Tomasellos Konstruktion der modernen Moral, die nun einmal eine Gruppenmoral ist, also die einen eingrenzt und die anderen ausgrenzt, und die in evolutionstheoretischer Perspektive das Überleben all derer sichern soll, die zur jeweiligen Kultur gehören. Richard Rorty hätte diese Moral "ethnozentrisch" genannt, kosmopolitische Züge hat sie nicht. So bleibt die "natürliche" Moral eigentümlich in der Luft hängen und findet keinen wirklichen Ort in Tomasellos Erzählung.
Dieses Problem hängt vielleicht auch mit Tomasellos Bevorzugung vertragstheoretischer Motive zusammen. Die moderne Moral ist letztlich eine, in der alle einen Nutzen von allgemeiner Kooperationsbereitschaft haben. Die "prosoziale Emotion des Mitgefühls" kommt vor, spielt auch eine undeutliche Rolle im Begriff der natürlichen Moral, aber sie bleibt reserviert für den Bereich familialer Ethik, wo etwa Eltern schon immer ein natürliches Mitgefühl zu ihren Kindern entwickeln. Als Basis für die kognitiv anspruchsvollen Formen einer Gerechtigkeitsmoral kann das Mitgefühl nicht dienen, deswegen spielen etwa feministisch inspirierte Formen der Fürsorgeethik in Tomasellos Rekonstruktion der Moralevolution keine Rolle.
Das muss kein Einwand sein, aber erlaubt einen Hinweis darauf, dass der Gedanke, den Ursprung "der" Moral in verschiedenen Formen überlebenssichernder Kooperation zu sehen, nur bestimmte Moralphilosophien für evolutionär tragfähig hält, andere dagegen nicht. Man kann es auch so sagen: In Tomasellos Perspektive muss die Moral etwas leisten, wenn sie wertvoll sein soll, sie muss nämlich das kollektive Überleben kultureller Gruppierungen sichern. Aber selbst manche der von Tomasello herangezogenen moralphilosophischen Autoren würden sich weigern, den Kern der Moral evolutionstheoretisch derart auszudeuten.
Nicht der Nutzen der Moral steht im Mittelpunkt dieser Modelle, sondern der Gedanke, dass die Moral Verhaltensweisen von uns verlangt, die unabhängig vom Nutzen moralisch geboten oder schlicht anständig sind. Ob diese Verhaltensweisen einen evolutionären Nutzen haben, ist eine andere Frage.
MARTIN HARTMANN
Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral".
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
282 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Anfang war das Fressen, dann kam die Moral. Aber wie genau hat sich das zugetragen? Der Primatenforscher Michael Tomasello unternimmt eine evolutionäre Herleitung.
Die Flüchtlingskrise hat zweierlei gezeigt: Zum einen haben viele Menschen anderen geholfen, die in großer Not zu ihnen kamen. Zum anderen aber hat es im Laufe der Zeit Abgrenzungsbewegungen gegeben, deren Ziel darin bestand, ein "Wir" vor den "Fremden" zu schützen. In seinem neuen Buch geht es dem Anthropologen und Verhaltensforscher Michael Tomasello nicht um politische Fragen der Gegenwart. Und doch kennt das Buch, das zeigen will, wie sich zentrale moralische Kompetenzen des Menschen evolutionär entwickelt haben, sowohl ein selbstloses Mitgefühl als auch eine eher gruppenbezogene Moral, die nach innen bindet, nach außen aber ausschließt.
"Die einzigartige menschliche Variante der Kooperation, die wir als Moral kennen", so Tomasello, "tritt in der Natur in zwei analogen Formen auf. Einerseits kann eine Person Opfer bringen, um einer anderen Person zu helfen . . . Andererseits können miteinander interagierende Personen nach einer Möglichkeit suchen, damit alle einen ausgeglichenen Nutzen haben." Das "alle" im letzten Teil des Zitats meint nun nicht alle Menschen, sondern eben alle, mit denen ich kooperiere, sei es in der Jagd, im Feldbau oder im Unternehmen.
Kooperation ist neben Selektion und Anpassung der Schlüsselbegriff der "hypothetischen" Geschichte, die Tomasello erzählt. Die Moral entsteht in Zusammenhängen, in denen Individuen miteinander kooperieren müssen, weil sie anders nicht an Nahrungsmittel kommen oder Unterkünfte bauen können. Schon für Primaten gilt, dass sie in konkreten Handlungszusammenhängen, etwa einer Jagd, lokale Gemeinschaften bilden, die nur funktionieren können, wenn alle mehr oder weniger an einem Strang ziehen und dafür auch bereit sind, eigene Bedürfnisse zurückzustellen.
Anders als andere Primatenforscher geht Tomasello aber nicht davon aus, dass Primaten echte gemeinsame Intentionalität kennen; sie können in einer Gruppe gemeinsam jagen, aber wenn die Beute erlegt ist, hätte im Prinzip jeder gerne die Beute für sich allein, das Ziel der Jagd war also nicht wirklich ein gemeinsames. So bleiben in Tomasellos Perspektive Schimpansen und Bonobos egozentrische Tiere, die in einer konkurrenzorientierten Umwelt leben und nur dann kooperieren, wenn es aus Konkurrenzgründen nötig ist. Mitgefühl entwickeln sie nur gegenüber Verwandten und "Freunden", nicht aber gegenüber fremden Tieren.
Eine Überwindung der rein egozentrischen Perspektive sieht Tomasello erst auf der Stufe früher Menschen gegeben, die aus Gründen gewandelter Lebensbedingungen genötigt waren, in kleinen Gruppen Ziele gemeinsam zu erreichen. Hier entwickelten sich arbeitsteilige Abhängigkeiten, deren letzter Zweck immer noch strategisch war, in denen aber immerhin ein Bewusstsein der Angewiesenheit auf andere entstehen konnte, das zu reziproken Verpflichtungsgefühlen führte.
Weil man den anderen als Kollaborationspartner brauchte, musst man um sein Wohlergehen besorgt sein und entwickelte geteilte normative Standards, die, darauf weist Tomasello immer wieder hin, die Form einer Vertragsmoral annahmen und sich damit nur auf die erstreckten, mit denen man tatsächlich kooperierte. Aber immerhin, der "kooperative Samen", der langfristig moralische Früchte tragen sollte, war gesät, eine "zweitpersonale Moral" konnte entstehen, die auf gegenseitigem Respekt beruhte und Vertragsbruch mit moralischen Sanktionen belegte.
Die nächste Stufe der moralischen Evolution war erreicht, als sich die kooperierenden Gruppen quantitativ vergrößerten und schließlich umfassendere Kulturen entstanden, die als Kollektive normative Regelungen brauchten. Um ein Gespür für Zeiträume zu bekommen: Tomasello lässt diese Phase vor etwa 100 000 Jahren beginnen, und, wenn man ihn richtig deutet, hält sie bis heute an und bringt das hervor, was er den "modernen" Menschen nennt. In großen kulturellen Gruppen kennt man zwar die meisten anderen nicht mehr, aber wenn man sie als Mitglieder der eigenen Kultur identifiziert, dann kann man davon ausgehen, dass sie wissen, was sich in dieser Kultur gehört und was nicht, was "objektiv" richtig ist und was nicht. Ein Sinn für Recht, Gerechtigkeit, Pflicht und Schuld entsteht, Loyalität der Gruppe gegenüber gehört nun zu den wichtigsten Elementen der moralischen Identität.
Obgleich Tomasello seine Überlegungen mit zahlreichen philosophischen Überlegungen stützt, enthalten sie doch einige philosophische Provokationen und eine Menge ungelöster Spannungen. So bedeutet "moderne" Moral für die meisten Philosophen - zumindest wenn sie unter dem Einfluss Kants stehen, was für einige der von Tomasello zitierten Autoren gilt - natürlich nicht Gruppenmoral, sondern eine universale Moral, die für alle gilt, unabhängig von spezifischen Zugehörigkeiten.
Tatsächlich spricht Tomasello an manchen Punkten auch von einer "natürlichen Moral", die allen Menschen eigen ist und sie zu Mitgefühl allen anderen Menschen gegenüber anhält, aber er scheint davon auszugehen, dass die "Diktate" dieser natürlichen Moral stets kulturell gebrochen werden und somit nie rein auftreten. So heißt es vom Regime der Apartheid, es habe eine "kreative Buchführung mit Bezug darauf, wer zur moralischen Gemeinschaft" gehört, betrieben, die im Augenblick der Aufhebung der Apartheid gleichsam durchschaut wurde, als hätte eine von Rassismus getriebene Gruppe einen Fehler erkannt: "Hoppla, die gehören ja doch zu uns!" Das ist nicht nur soziologisch und politisch naiv, es passt auch nicht zu Tomasellos Konstruktion der modernen Moral, die nun einmal eine Gruppenmoral ist, also die einen eingrenzt und die anderen ausgrenzt, und die in evolutionstheoretischer Perspektive das Überleben all derer sichern soll, die zur jeweiligen Kultur gehören. Richard Rorty hätte diese Moral "ethnozentrisch" genannt, kosmopolitische Züge hat sie nicht. So bleibt die "natürliche" Moral eigentümlich in der Luft hängen und findet keinen wirklichen Ort in Tomasellos Erzählung.
Dieses Problem hängt vielleicht auch mit Tomasellos Bevorzugung vertragstheoretischer Motive zusammen. Die moderne Moral ist letztlich eine, in der alle einen Nutzen von allgemeiner Kooperationsbereitschaft haben. Die "prosoziale Emotion des Mitgefühls" kommt vor, spielt auch eine undeutliche Rolle im Begriff der natürlichen Moral, aber sie bleibt reserviert für den Bereich familialer Ethik, wo etwa Eltern schon immer ein natürliches Mitgefühl zu ihren Kindern entwickeln. Als Basis für die kognitiv anspruchsvollen Formen einer Gerechtigkeitsmoral kann das Mitgefühl nicht dienen, deswegen spielen etwa feministisch inspirierte Formen der Fürsorgeethik in Tomasellos Rekonstruktion der Moralevolution keine Rolle.
Das muss kein Einwand sein, aber erlaubt einen Hinweis darauf, dass der Gedanke, den Ursprung "der" Moral in verschiedenen Formen überlebenssichernder Kooperation zu sehen, nur bestimmte Moralphilosophien für evolutionär tragfähig hält, andere dagegen nicht. Man kann es auch so sagen: In Tomasellos Perspektive muss die Moral etwas leisten, wenn sie wertvoll sein soll, sie muss nämlich das kollektive Überleben kultureller Gruppierungen sichern. Aber selbst manche der von Tomasello herangezogenen moralphilosophischen Autoren würden sich weigern, den Kern der Moral evolutionstheoretisch derart auszudeuten.
Nicht der Nutzen der Moral steht im Mittelpunkt dieser Modelle, sondern der Gedanke, dass die Moral Verhaltensweisen von uns verlangt, die unabhängig vom Nutzen moralisch geboten oder schlicht anständig sind. Ob diese Verhaltensweisen einen evolutionären Nutzen haben, ist eine andere Frage.
MARTIN HARTMANN
Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral".
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
282 S., geb., 32,- [Euro].
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»Michael Tomasellos Buch ist nicht einfach zu lesen: Aber es ist nicht nur eines der faszinierendsten Bücher des Jahres, sondern meiner Ansicht nach des Jahrzehnts. Ein Meilenstein, in dem er die Evolution des Menschen zu einem sozialen Wesen mit Moral erklärt. Absolut faszinierend!« Gert Scobel 3sat 20161219