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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Auf der Buchmesse soll ein als israelfeindlich kritisierter Roman ausgezeichnet werden. Ist er das?
Was der Frankfurter Buchmesse am Freitag nächster Woche blüht, ist folgendes Szenario: Israelische Autoren können die Messe nicht besuchen, weil sie traumatisiert durch die jüngsten Ereignisse in ihrem Land sind oder weil der Flugverkehr sich immer noch nicht normalisiert haben wird. Und um 18 Uhr wird auf der "Frankfurt International Stage" zwischen Halle 5 und 6 der renommierte LiBeraturpreis an die palästinensische Autorin Adania Shibli für deren Roman "Eine Nebensache" verliehen, gegen den es Antisemitismusvorwürfe gibt. Da wurde vor ein paar Wochen glückstrahlend von der Messe verkündet, in diesem Jahr gebe es das Problem der Präsenz rechter Verlage nicht, und nun droht ein moralisch weit heiklerer Konflikt, der neben politischen auch ästhetische Fragen berührt.
"Eine Nebensache" erschien auf Arabisch 2017 in einem Beiruter Verlag. Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen, deren erste einem historisch verbürgten Geschehen am 12. und 13. August 1949 gilt, als eine junge muslimische Beduinin in der Wüste Negev von einer Grenzpatrouille des damals erst ein Jahr bestehenden Staates Israel gefangen genommen, gedemütigt, massenvergewaltigt und erschossen wurde - wir lesen darüber aus der Perspektive des kommandierenden Offiziers. In der zweiten Hälfte des Romans wechselt er zur Ich-Erzählung: Eine mit der Autorin Adania Shibli exakt gleich alte Wissenschaftlerin geht auf Spurensuche nach der mittlerweile Jahrzehnte zurückliegenden Tat - im Museum der israelischen Armee und am Tatort, dem Kibbuz Nirim direkt an der Grenze zum Gazastreifen. Dabei schildert sie die alltäglichen Schikanen durch die israelische Armee im Westjordanland, und der Schluss suggeriert, dass auch sie im Negev von einer israelischen Patrouille erschossen wird.
Das Buch wurde 2019 ins Spanische, 2020 ins Englische und Französische und schließlich 2022 ins Deutsche übersetzt; überall erhielt es begeisterte Kritiken (auch in dieser Zeitung: F.A.Z. vom 26. April 2022), in Amerika und England war es für die dort jeweils wichtigsten Literaturpreise nominiert: die National Book Awards und den International Booker Prize. Der LiBeraturpreis ist nun die erste Auszeichnung, die "Eine Nebensache" auch gewonnen hat.
Ausgelobt wird dieser Preis von dem seit vierzig Jahren der Vermittlung nichtwestlicher Literatur verpflichteten und eng mit der Buchmesse verbandelten Verein Litprom (der Messechef Juergen Boos ist Vorstandsvorsitzender, und die Geschäftsräume befinden sich im Haus des Buches in Frankfurt, das dem Börsenverein gehört und auch Sitz der Buchmesse ist). Der LiBeraturpreis ist für Autoren des Globalen Südens reserviert und wird an ein Buch vergeben, das auf den vierteljährlich von Litprom erstellten Bestenlisten "Weltempfänger" stand.
Nach der diesjährigen Juryentscheidung hatte Ulrich Noller, ein freier Literaturkritiker, der vor allem für den WDR tätig ist, aus Protest die Weltempfänger-Jury verlassen - der fünfköpfigen LiBeraturpreis-Jury gehörte er nicht an. Noller kritisiert "antiisraelische und antisemitische Narrative" in Shiblis Roman. Den hatte der Schriftsteller Maxim Biller schon 2022 in anderem Kontext "ein unliterarisches Stück Propaganda" genannt. Und für den niederländischen Blogger Martien Pennings, der 2021 ein Buch mit dem Titel "Israel existiert und ist die legitimste Nation der Welt" veröffentlicht hat, ist Shiblis Roman "keine Nebensache, sondern eine schwere Perversion". Nun mehren sich die Stimmen, dass auf der Buchmesse in der derzeitigen Situation kein solches Buch geehrt werden sollte.
Aber ist es ein solches Buch? "Eine Nebensache" ist 110 Seiten kurz und mit großem Stilgefühl verfasst. Dass es einseitig die palästinensische Perspektive einnimmt, kann man dem Roman nicht vorwerfen - im Gegenteil wird der israelische Offizier darin als ambivalenter Täter gezeichnet, dessen moralisches Versagen auf Vergiftung durch einen Skorpionbiss zurückgeführt werden kann. Billers Argument, dass die israelischen Soldaten im Roman "gesichtslos, namenlos, brutal" seien, ist zutreffend, aber gesichts- und namenlos sind auch die beiden Palästinenserinnen. Dass sie nicht brutal sind, liegt in der Natur des Stoffs; für den von der "tageszeitung" erhobenen Vorwurf, es fehle in "Eine Nebensache" an Schilderungen palästinensischer Untaten, gilt dasselbe. Der Roman spielt eben nicht am 7. Oktober 2023, als auch Nirim von der Hamas angegriffen wurde.
Auch ein Kunstwerk kann Propaganda sein - die als antisemitisch inkriminierten Arbeiten von Ruangrupa auf der Documenta haben es gezeigt. Nun ist Propagandaanklage bei bildender Kunst leichter zu führen als bei Literatur: Die Übernahme antisemitischer Stereotypen im Bild ist evident, während Shiblis Roman "Räume für Lesarten öffnet" - so Nollers Feststellung. Damit hat er recht, aber Lesarten sind Interpretationen, noch keine Tatsachen. Sehenden Auges ist die Plausibilität eines Propagandavorwurfs leichter zu beurteilen als lesenden Auges. Unsere Lesart von "Eine Nebensache" differiert von derjenigen der Kritiker.
Es ist zu bezweifeln, dass die öffentliche Debatte um die Preisvergabe ohne den Terrorangriff auf Israel geführt worden wäre; die Forderung nach deren Aussetzung erinnert an das Verlangen nach pauschalem Verzicht auf Kunst russischen Ursprungs nach dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Hilflosigkeit suchte sich verständlicherweise ein Ventil. Diesbezüglich haben wir zu differenzieren gelernt, und man darf hoffen, dass von Adania Shibli nun etwas zu ihrer Haltung angesichts der aktuellen Situation in Israel zu hören sein wird - Litprom hatte die Autorin schon nach Nollers Vorwürfen darüber informiert; dass sie seitdem schwieg, ist unklug. Shibli lebt seit Längerem in Berlin, also sollte sie im Gegensatz zu israelischen Kollegen keine logistischen Schwierigkeiten haben, nach Frankfurt zu kommen. Ob es moralische geben wird, liegt jetzt an ihr. ANDREAS PLATTHAUS
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