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In der Nahtodpoetik Ricarda Junges ist die Welt entgrenzt
"Jetzt, wo ich krank bin, würde ich gerne eine Geschichte erzählen, die leicht ist. Ein Picknick im Freien, über das die Krankheit wie ein Gewitter hereinbricht. Du raffst alles zusammen, was nicht nass werden soll, und rennst." Zwei Wochen nach ihrem Umzug in die namenlose Stadt, in der sie Jura studieren will, erfährt Marie Landski, dass sie an einer Lungenkrankheit sterben wird. Von hier an fällt alles auseinander. Dinge verschwinden und tauchen - irgendwann, an ganz anderer Stelle - wieder auf, Menschen gehen verloren, und aus dem Untergrund steigt eine alles vernichtende Flut herauf. Eine leichte Geschichte ist Ricarda Junges zweiter Roman nicht, eher der Versuch eines großen Resümees: alles zusammenzuraffen, was noch einen Sinn ergab, bevor es vom Tod bedroht wurde.
"Das klingt vielleicht merkwürdig, aber wenn man eine Krankheit in sich trägt, die nach außen hin unsichtbar, die einem nicht anzusehen ist, sieht plötzlich alles ganz anders aus. Man sieht sich selbst anders an. Man traut den Dingen nicht mehr. Hinter allem lauert ein Abgrund." Es beginnt mit Zahnbürsten, Kopfkissen, Fahrrädern, die aus dem Wohnheim verschwinden. Alles kehrt am Ende auf Umwegen zurück: nie, wenn man gerade danach fragt, nie dort, wo man es sucht. Die Stadt ist wie ein Meer, in dessen Wogen Gegenstände, Häuser, Identitäten treiben und an anderer Stelle wieder an die Oberfläche gespült werden.
In dieser steten Bewegung wird dann auch der Tod zu einer Episode. "Vielleicht konnte man sterben und war trotzdem noch da. Man verschwand nicht wirklich aus diesem Leben, löste sich nicht auf, zerfiel nicht zu Staub, sondern tauchte in einer anderen Form wieder auf. In den Lebenden, den Körpern, Gesichtern und ihren Namen." Die Figuren haben die Aura von Gespenstern. Verletzungen, die der eine sich zuzog, führen zu Symptomen am Körper eines anderen. Schwer zu sagen, wer die Erfindung eines anderen ist, wer der Doppelgänger eines Dritten, wer längst gestorben. Maries Liebe zu Peter - oder zu Arndt? - ist ihre Bestätigung, noch am Leben zu sein, so wie die mit dem Duft frischgebackenen Brotes gesüßte Morgenluft, die sie im Krankenbett in ihre schwächer werdenden Lungen strömen lässt. Niemand kann sterben in der Stadt, solange er noch als Phantomschmerz eine Spur in der Erinnerung eines andern hinterlässt.
Auflösungserscheinungen und Wiederholungsstrukturen charakterisieren auch den Text, dessen Einheit hauptsächlich die zu Leitmotiven gesteigerten Krankheitssymptome stiften. Handlungsstränge brechen unvermittelt ab und gehen an anderer Stelle weiter. Der Leser bewegt sich durch das Buch wie Marie durch die Stadt. Ricarda Junge, die ihr Handwerk am Deutschen Literaturinstitut Leipzig gelernt hat, erschafft hier mit einer bis zur Sprödigkeit schnörkellosen Sprache ein unbehagliches, hermetisches Universum, das sich jeder psychoanalytischen Lesart widersetzt.
Der Rhythmus der Erzählung wird allerdings immer dann gestört, wenn Junge auf das alltägliche Studentenleben mit Vorlesungen, Partys und Filmvorführungen rekurriert. Damit soll vermutlich die Distanz zwischen einem weitgehend normalen und einem aus den Fugen geratenen Wahrnehmungszustand markiert werden. Dieser Hinweis wäre jedoch gar nicht nötig. Er fügt der Geschichte, die die Beklemmung der Todesnähe über die refrainartige Wiederholung von Erzähl- und Erinnerungsfragmenten transportiert, einen weiteren, ungewollten Bruch hinzu.
ARIANE BREYER
Ricarda Junge: "Eine schöne Geschichte". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 256 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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