Welche Rolle spielt schon ein Name?, denkt Marie, als sie am Bahnhof einer großen Stadt mit einer Studentin verwechselt und in ein Studentenwohnheim einquartiert wird. Dort teilt sie ein Zimmer mit Colina, die kurz darauf spurlos verschwindet. Von diesem Moment an verändert sich alles. Die Stadt verschiebt sich, Cafes verschwinden, Straßen gibt es nicht mehr, Häuser tauchen an anderer Stelle wieder auf. Manchmal kommt es Marie vor, als würden sich die Dinge vor ihr verbergen, und überall kleben plötzlich Zettel: Menschen werden vermisst, Hunde und Katzen gesucht, Wohnungen, Schlüssel, Geldbörsen, Jobs. Was ist das für ein Leben, in dem einem ständig etwas abhanden kommt? Und wie findet man sich zurecht, wenn jeder Plan sofort durchkreuzt wird?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2008Wiedergeburt als Zahnbürste
In der Nahtodpoetik Ricarda Junges ist die Welt entgrenzt
"Jetzt, wo ich krank bin, würde ich gerne eine Geschichte erzählen, die leicht ist. Ein Picknick im Freien, über das die Krankheit wie ein Gewitter hereinbricht. Du raffst alles zusammen, was nicht nass werden soll, und rennst." Zwei Wochen nach ihrem Umzug in die namenlose Stadt, in der sie Jura studieren will, erfährt Marie Landski, dass sie an einer Lungenkrankheit sterben wird. Von hier an fällt alles auseinander. Dinge verschwinden und tauchen - irgendwann, an ganz anderer Stelle - wieder auf, Menschen gehen verloren, und aus dem Untergrund steigt eine alles vernichtende Flut herauf. Eine leichte Geschichte ist Ricarda Junges zweiter Roman nicht, eher der Versuch eines großen Resümees: alles zusammenzuraffen, was noch einen Sinn ergab, bevor es vom Tod bedroht wurde.
"Das klingt vielleicht merkwürdig, aber wenn man eine Krankheit in sich trägt, die nach außen hin unsichtbar, die einem nicht anzusehen ist, sieht plötzlich alles ganz anders aus. Man sieht sich selbst anders an. Man traut den Dingen nicht mehr. Hinter allem lauert ein Abgrund." Es beginnt mit Zahnbürsten, Kopfkissen, Fahrrädern, die aus dem Wohnheim verschwinden. Alles kehrt am Ende auf Umwegen zurück: nie, wenn man gerade danach fragt, nie dort, wo man es sucht. Die Stadt ist wie ein Meer, in dessen Wogen Gegenstände, Häuser, Identitäten treiben und an anderer Stelle wieder an die Oberfläche gespült werden.
In dieser steten Bewegung wird dann auch der Tod zu einer Episode. "Vielleicht konnte man sterben und war trotzdem noch da. Man verschwand nicht wirklich aus diesem Leben, löste sich nicht auf, zerfiel nicht zu Staub, sondern tauchte in einer anderen Form wieder auf. In den Lebenden, den Körpern, Gesichtern und ihren Namen." Die Figuren haben die Aura von Gespenstern. Verletzungen, die der eine sich zuzog, führen zu Symptomen am Körper eines anderen. Schwer zu sagen, wer die Erfindung eines anderen ist, wer der Doppelgänger eines Dritten, wer längst gestorben. Maries Liebe zu Peter - oder zu Arndt? - ist ihre Bestätigung, noch am Leben zu sein, so wie die mit dem Duft frischgebackenen Brotes gesüßte Morgenluft, die sie im Krankenbett in ihre schwächer werdenden Lungen strömen lässt. Niemand kann sterben in der Stadt, solange er noch als Phantomschmerz eine Spur in der Erinnerung eines andern hinterlässt.
Auflösungserscheinungen und Wiederholungsstrukturen charakterisieren auch den Text, dessen Einheit hauptsächlich die zu Leitmotiven gesteigerten Krankheitssymptome stiften. Handlungsstränge brechen unvermittelt ab und gehen an anderer Stelle weiter. Der Leser bewegt sich durch das Buch wie Marie durch die Stadt. Ricarda Junge, die ihr Handwerk am Deutschen Literaturinstitut Leipzig gelernt hat, erschafft hier mit einer bis zur Sprödigkeit schnörkellosen Sprache ein unbehagliches, hermetisches Universum, das sich jeder psychoanalytischen Lesart widersetzt.
Der Rhythmus der Erzählung wird allerdings immer dann gestört, wenn Junge auf das alltägliche Studentenleben mit Vorlesungen, Partys und Filmvorführungen rekurriert. Damit soll vermutlich die Distanz zwischen einem weitgehend normalen und einem aus den Fugen geratenen Wahrnehmungszustand markiert werden. Dieser Hinweis wäre jedoch gar nicht nötig. Er fügt der Geschichte, die die Beklemmung der Todesnähe über die refrainartige Wiederholung von Erzähl- und Erinnerungsfragmenten transportiert, einen weiteren, ungewollten Bruch hinzu.
ARIANE BREYER
Ricarda Junge: "Eine schöne Geschichte". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 256 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Nahtodpoetik Ricarda Junges ist die Welt entgrenzt
"Jetzt, wo ich krank bin, würde ich gerne eine Geschichte erzählen, die leicht ist. Ein Picknick im Freien, über das die Krankheit wie ein Gewitter hereinbricht. Du raffst alles zusammen, was nicht nass werden soll, und rennst." Zwei Wochen nach ihrem Umzug in die namenlose Stadt, in der sie Jura studieren will, erfährt Marie Landski, dass sie an einer Lungenkrankheit sterben wird. Von hier an fällt alles auseinander. Dinge verschwinden und tauchen - irgendwann, an ganz anderer Stelle - wieder auf, Menschen gehen verloren, und aus dem Untergrund steigt eine alles vernichtende Flut herauf. Eine leichte Geschichte ist Ricarda Junges zweiter Roman nicht, eher der Versuch eines großen Resümees: alles zusammenzuraffen, was noch einen Sinn ergab, bevor es vom Tod bedroht wurde.
"Das klingt vielleicht merkwürdig, aber wenn man eine Krankheit in sich trägt, die nach außen hin unsichtbar, die einem nicht anzusehen ist, sieht plötzlich alles ganz anders aus. Man sieht sich selbst anders an. Man traut den Dingen nicht mehr. Hinter allem lauert ein Abgrund." Es beginnt mit Zahnbürsten, Kopfkissen, Fahrrädern, die aus dem Wohnheim verschwinden. Alles kehrt am Ende auf Umwegen zurück: nie, wenn man gerade danach fragt, nie dort, wo man es sucht. Die Stadt ist wie ein Meer, in dessen Wogen Gegenstände, Häuser, Identitäten treiben und an anderer Stelle wieder an die Oberfläche gespült werden.
In dieser steten Bewegung wird dann auch der Tod zu einer Episode. "Vielleicht konnte man sterben und war trotzdem noch da. Man verschwand nicht wirklich aus diesem Leben, löste sich nicht auf, zerfiel nicht zu Staub, sondern tauchte in einer anderen Form wieder auf. In den Lebenden, den Körpern, Gesichtern und ihren Namen." Die Figuren haben die Aura von Gespenstern. Verletzungen, die der eine sich zuzog, führen zu Symptomen am Körper eines anderen. Schwer zu sagen, wer die Erfindung eines anderen ist, wer der Doppelgänger eines Dritten, wer längst gestorben. Maries Liebe zu Peter - oder zu Arndt? - ist ihre Bestätigung, noch am Leben zu sein, so wie die mit dem Duft frischgebackenen Brotes gesüßte Morgenluft, die sie im Krankenbett in ihre schwächer werdenden Lungen strömen lässt. Niemand kann sterben in der Stadt, solange er noch als Phantomschmerz eine Spur in der Erinnerung eines andern hinterlässt.
Auflösungserscheinungen und Wiederholungsstrukturen charakterisieren auch den Text, dessen Einheit hauptsächlich die zu Leitmotiven gesteigerten Krankheitssymptome stiften. Handlungsstränge brechen unvermittelt ab und gehen an anderer Stelle weiter. Der Leser bewegt sich durch das Buch wie Marie durch die Stadt. Ricarda Junge, die ihr Handwerk am Deutschen Literaturinstitut Leipzig gelernt hat, erschafft hier mit einer bis zur Sprödigkeit schnörkellosen Sprache ein unbehagliches, hermetisches Universum, das sich jeder psychoanalytischen Lesart widersetzt.
Der Rhythmus der Erzählung wird allerdings immer dann gestört, wenn Junge auf das alltägliche Studentenleben mit Vorlesungen, Partys und Filmvorführungen rekurriert. Damit soll vermutlich die Distanz zwischen einem weitgehend normalen und einem aus den Fugen geratenen Wahrnehmungszustand markiert werden. Dieser Hinweis wäre jedoch gar nicht nötig. Er fügt der Geschichte, die die Beklemmung der Todesnähe über die refrainartige Wiederholung von Erzähl- und Erinnerungsfragmenten transportiert, einen weiteren, ungewollten Bruch hinzu.
ARIANE BREYER
Ricarda Junge: "Eine schöne Geschichte". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 256 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Eine schöne Geschichte", wie der Titel von Ricarda Junges zweiten Roman lautet, erzählt das Buch nach Ansicht Ariane Breyers keineswegs. Sie fühlt sich vielmehr von dem Roman um eine angehende Jura-Studentin, die kurz nach ihrem Umzug in eine neue Stadt erfährt, dass sie an einer tödlichen Lungenkrankheit leidet, in ein "unbehagliches, hermetisches Universum" versetzt, das sich jeder psychoanalytischen Lesart entziehe. Sie liest das Buch als Versuch, ein Resümee zu ziehen, alles zusammenzuraffen, was einen Sinn hatte, "bevor es vom Tod bedroht wurde". Die Sprache der Autorin wirkt auf sie reduziert, fast ein wenig spröde. Den Text sieht sie von Auflösungserscheinungen und Wiederholungsstrukturen geprägt, seine Einheit von den als Leitmotiven eingesetzten Krankheitssymptome gestiftet. Die Todesnähe und das Auseinanderfallen des Lebens, die die Protagonistin erlebt, erzeugen bei ihr ein beklemmendes Gefühl. Allerdings moniert Breyer, dass der Rhythmus der Erzählung immer wieder durch die Schilderungen des alltäglichen Studentenleben mit Vorlesungen, Parties und Filmvorführungen gestört werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Jean-Michel Berg würdigt das Potential des Buches, in dem natürlich keine "schöne Geschichte" erzählt werde, ist am Ende aber doch nicht glücklich. Es geht um die Studentin Marie, die an einer tödlichen Krankheit leidet, die ihr nur noch wenige Wochen zu leben gibt. Während sich Marie bemüht, die Zeit mit ihrem Freund zu genießen und die Todesangst nach Kräften zu verdrängen sucht, verändert sich zunehmend ihre Umgebung: Dinge, Menschen und schließlich ganze Gebäude verschwinden auf rätselhafte Weise und so wandelt sich die Geschichte einer Krankheit mehr und mehr in eine "Groteske", meint der Rezensent. Krankheit und Stadt so nebeneinander zu stellen, hat seinen Reiz, lobt Berg, findet aber, dass Junge im Verlauf des Buches keinem der Motivstränge richtig gerecht wird. Und so wird ihm der insgesamt eher handlungsarme Roman auch zu einem etwas "stehenden Gewässer", das keinen mitreißenden Sog entwickelt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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