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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Ein Manuskript als Flaschenpost: Ljudmila Ulitzkaja schildert, wie Stalins Geheimdienst eine Pandemie vereitelte
Patient null hieß Abraham Berlin. Im Winter 1939 hatte sich der russische Mikrobiologe aus Saratow bei einem Tierversuch mit einem noch nicht freigegebenen Pest-Impfstoff infiziert und war ohne Wissen über die eigene Ansteckung zu einer Dienstreise nach Moskau aufgebrochen. Dort sollte er das vor der Zulassung stehende Vakzin der obersten Gesundheitsbehörde vorstellen. Offiziell galt die auch als "septische Grippe" oder Form11 umschriebene Pest in der Sowjetunion seit 1938 als ausgerottet, doch vor allem in den südlichen Republiken kam es immer wieder zu streng geheim gehaltenen Ausbrüchen.
Im Land der Zukunft waren Seuchen aus einer rückständigen Vergangenheit tabu. Die Verbreitung vermeintlich "böswilliger" Gerüchte über Epidemien wurde drastisch geahndet. Abraham Berlin kam mit Verdacht auf Lungenentzündung in ein Moskauer Krankenhaus, wo der ebenso umsichtige wie todesmutige Arzt Simon Gorelik Lungenpest diagnostizierte. Er schloss sich mit dem Infizierten ein, informierte die staatlichen Stellen und löste damit eine beispiellose von Stalins Geheimdienst organisierte Kontaktverfolgung aus. Bei Dutzenden Personen stand der gefürchtete NKWD vor der Tür. Es kam zu einem nahezu vollständigen Absonderungsgewahrsam der Kontaktpersonen in wenigen Stunden. Drei Menschen starben: Neben den Medizinern auch ein Friseur, bei dem sich Berlin kurz vor seiner wichtigen Präsentation im Hotel hatte rasieren lassen. Die Epidemie konnte verhindert werden. Alle Informationen über die gerade noch gebannte tödliche Gefahr für die Millionenmetropole Moskau wanderten in geheim gehaltene Archive, darunter die pathologischen Obduktionsprotokolle.
So weit zum historisch verbrieften Hintergrund des neuen Buchs der grande dame der russischen Literatur, Ljudmila Ulitzkaja. Verblüffend daran ist die Tatsache, dass es bereits 1978 entstand, als Bewerbungsskript für ein Drehbuchseminar. Wie im Nachwort zu lesen ist, hatte Ulitzkaja von der Tochter eines 1939 involvierten Pathologen von dem Vorfall erfahren. Weniger verwundert, dass aus dem Manuskript nie ein Film wurde. Es verschwand in der Schublade, bis es der Autorin während des Lockdowns im letzten Jahr wieder in die Hände fiel. Seuchen galten in der Sowjetunion als Seuchen der anderen, dass sie hausgemacht sein könnten, wurde, wie etwa beim Ausbruch einer Milzbrandepidemie 1979 in Swerdlowsk, totgeschwiegen. Dort hatte man bei der Entwicklung biologischer Waffen einen Luftfilter vergessen. Fast siebzig Menschen starben. Offiziell hieß es, Gammelfleisch wäre die Ursache.
Ehrlicherweise betitelt der Verlag das hundert Seiten schmale Bändchen als Szenario und nicht als Roman. Mit extrem knapp gehaltenen Dialogen und in lakonisch beschriebenen Szenen wird die Bekämpfung einer biologischen Pest mit den Mitteln einer totalitär-politischen Hygienemaschinerie erzählt. Manch einer flieht, es kommt zu einem Selbstmord, denn jeder weiß, in welcher Absicht Stalins gefürchteter NKWD die Menschen normalerweise nachts aus den Wohnungen holt. Erklärungen werden nicht gegeben und selten erfragt. Die meisten Figuren bleiben skizzenhaft, mit Ausnahme der beiden Protagonisten, die hier Mayer und Sorin heißen. Überraschenderweise gelingt es Ulitzkaja gerade mit diesem eigenwilligen Genre des Fragmentarischen, die bedrückende Atmosphäre jener Zeit präzise einzufangen: Angst, schwelender Antisemitismus (viele Wissenschaftler waren jüdischer Herkunft), Obrigkeitshörigkeit, Naivität, ideologisch motivierte Wissensfeindlichkeit, Denunziation. Es ist Winter, meist ist es Nacht, hinter dem Vorhang des Seuchenspektakels agiert der "Sehr Mächtige Mann". Alles passiert sehr schnell, die Quasifestnahmen erfolgen nahezu im Minutentakt. Am Ende siegt der rote Terror über den Schwarzen Tod, und es bleibt die beunruhigende Frage unserer Tage im Raum, ob autoritäre Regimes mit ihren drakonischen Methoden in der Bekämpfung von Pandemien im Vorteil sind. Die Seuchenbekämpfung fungiert in allen politischen Systemen als Gradmesser staatlicher Handlungsfähigkeit.
Im Subtext des Szenarios findet sich noch eine andere Tragödie, die der studierten Biologin und Genetikerin Ulitzkaja schon 1978 bestens bekannt war. Mit Mayer im Zugabteil reist ein Gänsezüchter, der seinen Tieren das Leben in bitterer Kälte anerziehen wollte. Diese angeblich frostbeständigen Wundertiere sollen der staatlichen Akademie der Wissenschaften vorgestellt werden. Zum Leidwesen des Züchters verenden sie auf dem eisigen Zugperron. In dieser Episode versteckt sich die vulgärwissenschaftliche Kampagne des Biologen Lyssenko, der die Genetik als bourgeoise Wissenschaft auszuradieren suchte: Es gäbe keine Vererbung, alles könnte an- und umerzogen werden. Zwei Jahre vor dem bei Ulitzkaja beschriebenen bakteriologischen Unfall wurden im Großen Terror nahezu alle Koryphäen der sowjetischen Genetik und Mikrobiologie hingerichtet oder zu Zwangsarbeit verurteilt, darunter auch der Direktor des besagten Instituts für Mikrobiologie und Epidemiologie in Saratow, Sergej Nikanorow. Die Seuchenerforschung wurde wie andere Lebenswissenschaften in der Sowjetunion um Jahre zurückgeworfen.
Vorsichtig antwortet Mayer auf die Bemerkung des Gänsemannes, alles Leben hielte sich an die Gesetze des Marxismus-Leninismus: Seine Mikroben wüssten davon leider nichts.
SABINE BERKING
Ljudmila Ulitzkaja:
"Eine Seuche in der Stadt".
Szenario.
Mit einem Nachwort der Autorin. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2021. 112 S., geb., 16,- [Euro].
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"Ein Glanzstück bitterer Ironie. ... Wo Ljudmila Ulitzkaja mit leiser Ironie die fluide Dramatik der Epidemie mit dem zähen Albtraum des Stalinismus kurzschliesst, findet der Roman zu seinen stärksten Momenten. Der Ausnahmezustand lässt das Intime öffentlich und das Öffentliche intim, das Tragische komisch und das Komische tragisch werden." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 15.03.21
"Aktuell wie nie. ... 'Eine Seuche in der Stadt' liest sich wie ein Roman noir; knapp, elegant und in seinem rasanten Tempo dem Thema angemessen." Christian Esch und Ele Schmitter, Der Spiegel, 13.02.21
"Ulitzkaja gelingt es gerade mit diesem eigenwilligen Genre des Fragmentarischen, die bedrückende Atmosphäre jener Zeit präzise einzufangen." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.21
"Ein tiefschwarzes Stück. ... Ulitzkaja zeichnet ein beängstigendes Bild einer vom politischen Terror krank gemachten Gesellschaft." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 31.01.21
"Es gibt Gesellschaftsordnungen, wo es ein Trost sein kann, wenn es nur die Pest ist. Dass diese und alle anderen Szenen im Deutschen so knapp, lebendig und beunruhigend wirken, verdanken sie der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 06.02.21
"Ein grausig-gutes Buch." Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau, 27.01.21