Eine Langzeitstudie zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland. Der Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit gilt heute vielen als vorbildlich. Aber die Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" war lange Zeit keine Selbstverständlichkeit. Wie schwierig dieser Weg sein konnte, untersucht Philipp Kratz am Beispiel der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Er führt dabei die wichtigsten Felder der "Vergangenheitsbewältigung" zusammen: Wie gingen ehemalige Verfolger und Verfolgte miteinander um, die im städtischen Nahraum nach Kriegsende wieder aufeinandertrafen? Wie stritten die Zeitgenossen um Fragen nach individueller und kollektiver Schuld und die daraus zu ziehenden Konsequenzen? Welche Formen der Bestrafung, der Wiedergutmachung und des Gedenkens, aber auch der erneuten Demütigung, Instrumentalisierung und des Beschweigens bildeten sich heraus? Gibt es eine "zweite Schuld", weil die erste vielfach folgenlos blieb? Die konsequent lokale Perspektive erlaubt es, solchen Debatten detailliert und über einen langen Zeitraum hinweg nachzugehen. Dabei wird deutlich, dass sich die Auseinandersetzung der Deutschen mit der Schuldfrage weder als geradlinige Erfolgsgeschichte noch als bloße Defizitgeschichte erzählen lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2019Die Stadt, die Moral und die Schuld
Der Historiker und Wiesbadener Lehrer Philipp Kratz hat die Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach Kriegsende erforscht. Über die Schuldfrage gibt es bis heute keinen Konsens.
Von Oliver Bock
WIESBADEN. Immer dann, wenn es um die Schuldfrage ging, kam es zum Konflikt zwischen jenen, die vielfach Anhänger des Nationalsozialismus waren und einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollten, und denen, die Opfer waren und nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung strebten. So beschreibt der Historiker Philipp Kratz die Auseinandersetzungen in Wiesbaden nach dem Zweiten Weltkrieg. "Eine Stadt und die Schuld" ist sein opulentes Werk überschrieben, das ein bedeutsames Kapitel der Stadtgeschichte unter ganz besonderen Vorzeichen untersucht: Wie gingen die Stadt und ihre Bürger nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Last der Vergangenheit um?
Der eingangs beschriebene Konflikt ist für Kratz eine Konstante der Wiesbadener Nachkriegsgeschichte. Noch vor fünf Jahren beherrschte sie die Schlagzeilen anlässlich des Streits um das Ehrengrab für den ehemaligen Oberbürgermeister Erich Mix. Als die Stadtverordneten beschlossen, dass die Stadt die Grabpflege nicht mehr übernimmt, standen sich die zwei bekannten Lager gegenüber: jene, die Mix zumindest eine moralische Schuld während seiner ersten Amtszeit in Wiesbaden zwischen 1937 und 1945 vorwarfen, und jene, die seine Verdienste für die Stadt nach 1945, in seiner zweiten Amtszeit - als FDP-Politiker - zwischen 1954 und 1960 würdigten und ihm die Verstrickung in das Nazi-Regime nicht mehr zum Vorwurf machten.
Der promovierte Studienrat Kratz, Jahrgang 1979, hat während seiner Studien in der Generation der Nachkriegsgeborenen "zwei geschichtspolitische Lager" identifiziert, zwischen denen nur dann ein Konsens möglich war, wenn die Schuldfrage ausgeklammert wurde. Für Kratz ist der Wandel der Einstellung zu einem Ehrengrab für Mix auch "Ausdruck eines gewandelten Umgangs mit der NS-Vergangenheit". Heute heißt es in einer kommunalen Broschüre zu den 14 Oberbürgermeistern seit 1893, Mix habe "die Verfolgung und Ermordung der Wiesbadener Juden, die Drangsalierung von Zwangsarbeitern und Regimegegnern" mit zu verantworten.
Während des Zweiten Weltkriegs war Wiesbaden nicht nur Teil der Heimatfront und Sitz einiger Wehrmachtsstellen, sondern auch Tatort nationalsozialistischer Verbrechen. Noch im Februar 1945 deportierten Wiesbadener Behörden die zuvor verschonten jüdischen Ehepartner von "Ariern" und deren halbjüdische Kinder in den Tod. Gleichzeitig bereiteten sich Partei, Verwaltung und Stadtkommandant auf die Einnahme durch die amerikanischen Streitkräfte vor. "Defätisten" und "Wehrkraftzersetzer" sollten nach den Recherchen von Kratz verhaftet werden, während die NSDAP-Kreisleiter ihre Flucht nach Mitteldeutschland organisierten.
Als die amerikanischen Kampfverbände bei Oppenheim und St. Goarshausen über den Rhein setzten und Mainz schon eingenommen war, befahl der damalige Gauleiter Sprenger die Evakuierung Wiesbadens. Ein Befehl, den die Notverwaltung der Stadt kurz darauf widerrief und die Bürger zu Ruhe und Besonnenheit aufforderte. Kampflos nahmen die Amerikaner am 28. März 1945 die Stadt ein. Die Stimmungslage in Wiesbaden wurde laut Kratz von Zeitgenossen mit Lethargie, Missmut und Mutlosigkeit umrissen. Es überwog die Sorge, für die Verbrechen der Nationalsozialisten haften zu müssen. Die Schuld wurde allein beim "Führer" abgeladen, eine "Kollektivschuld" abgestritten. Zudem war Wiesbaden mit rund 1700 Bürgern, die infolge des Luftkriegs starben, vergleichsweise glimpflich durch den Krieg gekommen. Aber ein Fünftel der Wohnungen war zerstört worden, die meisten der privaten Wohngebäude waren beschädigt.
Nach dem Krieg war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kein geradliniger Prozess, sondern starken Schwankungen unterworfen. Kratz hat diesen Prozess in mehrere Abschnitte unterteilt. Die "Phase der Abrechnung" ist jene der Jahre 1945/46, als nicht nur die Alliierten Kriegsverbrecher straften, sondern auch Selbstjustiz in den Straßen zu beobachten war - etwa durch antifaschistische Rollkommandos. Die Bürger, so beschreibt es Kratz, sahen sich in jener Zeit vor allem als Opfer und weniger als Mitschuldige am Unrechtssystem.
Danach begann für Kratz die lange "Phase des Schweigens", während der es zwar auch eine Erinnerungskultur gab, die sich in einigen Gedenkstätten ausdrückte. Bezeichnend war aber das Verhalten von Politikern wie Oberbürgermeister Mix, der Teile seiner Biographie verschwieg. Zudem wurden ehemals prominente Nazi-Anhänger wieder in die Stadtgesellschaft integriert. Schon 1953 stellten NS-Gegner im Magistrat nur noch eine Minderheit, hält Kratz fest. Zwei Magistratsmitglieder hätten vor 1945 als NSDAP-Mitglieder Karriere gemacht, und fünf andere waren demnach zumindest als Mitläufer anzusehen. Allerdings, so schränkt der Autor ein, hätten selbst ehemalige KZ-Häftlinge nach dem Krieg aus wahltaktischen Gründen vermieden, die NS-Vergangenheit ihrer Mitbewerber publik zu machen.
Im Jahr 1960 beginnt für Kratz die Phase der Bewältigung, nun wurde der Umgang mit der NS-Vergangenheit kritisch hinterfragt. Anlass waren offenbar antisemitische Vorfälle um den Jahreswechsel 1959/60. Georg Buch (SPD), ein Verfolgter der NS-Zeit, war zum Oberbürgermeister gewählt worden, und die SPD dominierte die Stadtpolitik. Die Erinnerungs- und Gedenkkultur erhielt dadurch neue Impulse. Kratz hält aber auch fest, dass die großen NS-Prozesse - der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und die Auschwitzprozesse zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt - in Wiesbaden nur marginal zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus geführt hätten.
Nach 1969 folgt in der Einschätzung des Autors eine knappe Dekade der "Instrumentalisierung". Das Thema Nationalsozialismus wurde auch in Wiesbaden zur fast beliebigen Diffamierung des politischen Gegners genutzt. NS-Vergleiche wurden inflationär für die politische Auseinandersetzung gezogen, die bisweilen in eine prinzipielle Staatskritik mündeten. Kratz sieht für diese Zeit eine Verhärtung der politischen Fronten und eine Stagnation der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus.
Erst die vierteilige amerikanische Fernsehserie "Holocaust" trug demnach dazu bei, dass 1979 eine neue Phase der Aufarbeitung und ein "Gedenkboom" begannen. Es wurde wieder mit neuem Elan recherchiert, diskutiert, dokumentiert und publiziert. Kratz konstatiert einen nachhaltigen "erinnerungskulturellen Wandel", dem die Grünen nach ihrem Einzug ins Stadtparlament 1985 und der Bildung einer Koalition mit der SPD auch politisch neue Impulse gegeben hätten.
Seit 1993 sieht der Autor Wiesbaden in der Phase der Bewahrung, in der die zuvor initiierte Erinnerungskultur verstetigt wurde. Mahnmale, Gedenktafeln, Stolpersteine, Veranstaltungsreihen prägten und prägen bis heute den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Dabei stehen nach Einschätzung von Kratz allerdings vor allem die 1500 jüdischen Opfer im Mittelpunkt und weniger andere Opfergruppen. Er sieht darin den "kleinsten gemeinsamen erinnerungspolitischen Nenner", auf den sich die Stadtpolitik einigen kann. Denn immer dann, wenn es um die Schuldfrage gehe, flamme der alte Streit wieder auf. Um an die ermordeten Juden zu erinnern, müsse nicht zwingend geklärt werden, wer daran Schuld habe: Erst dieses Ausblenden mache "das Opfergedenken für alle politischen Entscheidungsträger anschluss- und konsensfähig".
Philipp Kratz: Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945. Wallstein Verlag Göttingen 2019, 432 Seiten, 42 Euro
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Der Historiker und Wiesbadener Lehrer Philipp Kratz hat die Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach Kriegsende erforscht. Über die Schuldfrage gibt es bis heute keinen Konsens.
Von Oliver Bock
WIESBADEN. Immer dann, wenn es um die Schuldfrage ging, kam es zum Konflikt zwischen jenen, die vielfach Anhänger des Nationalsozialismus waren und einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollten, und denen, die Opfer waren und nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung strebten. So beschreibt der Historiker Philipp Kratz die Auseinandersetzungen in Wiesbaden nach dem Zweiten Weltkrieg. "Eine Stadt und die Schuld" ist sein opulentes Werk überschrieben, das ein bedeutsames Kapitel der Stadtgeschichte unter ganz besonderen Vorzeichen untersucht: Wie gingen die Stadt und ihre Bürger nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Last der Vergangenheit um?
Der eingangs beschriebene Konflikt ist für Kratz eine Konstante der Wiesbadener Nachkriegsgeschichte. Noch vor fünf Jahren beherrschte sie die Schlagzeilen anlässlich des Streits um das Ehrengrab für den ehemaligen Oberbürgermeister Erich Mix. Als die Stadtverordneten beschlossen, dass die Stadt die Grabpflege nicht mehr übernimmt, standen sich die zwei bekannten Lager gegenüber: jene, die Mix zumindest eine moralische Schuld während seiner ersten Amtszeit in Wiesbaden zwischen 1937 und 1945 vorwarfen, und jene, die seine Verdienste für die Stadt nach 1945, in seiner zweiten Amtszeit - als FDP-Politiker - zwischen 1954 und 1960 würdigten und ihm die Verstrickung in das Nazi-Regime nicht mehr zum Vorwurf machten.
Der promovierte Studienrat Kratz, Jahrgang 1979, hat während seiner Studien in der Generation der Nachkriegsgeborenen "zwei geschichtspolitische Lager" identifiziert, zwischen denen nur dann ein Konsens möglich war, wenn die Schuldfrage ausgeklammert wurde. Für Kratz ist der Wandel der Einstellung zu einem Ehrengrab für Mix auch "Ausdruck eines gewandelten Umgangs mit der NS-Vergangenheit". Heute heißt es in einer kommunalen Broschüre zu den 14 Oberbürgermeistern seit 1893, Mix habe "die Verfolgung und Ermordung der Wiesbadener Juden, die Drangsalierung von Zwangsarbeitern und Regimegegnern" mit zu verantworten.
Während des Zweiten Weltkriegs war Wiesbaden nicht nur Teil der Heimatfront und Sitz einiger Wehrmachtsstellen, sondern auch Tatort nationalsozialistischer Verbrechen. Noch im Februar 1945 deportierten Wiesbadener Behörden die zuvor verschonten jüdischen Ehepartner von "Ariern" und deren halbjüdische Kinder in den Tod. Gleichzeitig bereiteten sich Partei, Verwaltung und Stadtkommandant auf die Einnahme durch die amerikanischen Streitkräfte vor. "Defätisten" und "Wehrkraftzersetzer" sollten nach den Recherchen von Kratz verhaftet werden, während die NSDAP-Kreisleiter ihre Flucht nach Mitteldeutschland organisierten.
Als die amerikanischen Kampfverbände bei Oppenheim und St. Goarshausen über den Rhein setzten und Mainz schon eingenommen war, befahl der damalige Gauleiter Sprenger die Evakuierung Wiesbadens. Ein Befehl, den die Notverwaltung der Stadt kurz darauf widerrief und die Bürger zu Ruhe und Besonnenheit aufforderte. Kampflos nahmen die Amerikaner am 28. März 1945 die Stadt ein. Die Stimmungslage in Wiesbaden wurde laut Kratz von Zeitgenossen mit Lethargie, Missmut und Mutlosigkeit umrissen. Es überwog die Sorge, für die Verbrechen der Nationalsozialisten haften zu müssen. Die Schuld wurde allein beim "Führer" abgeladen, eine "Kollektivschuld" abgestritten. Zudem war Wiesbaden mit rund 1700 Bürgern, die infolge des Luftkriegs starben, vergleichsweise glimpflich durch den Krieg gekommen. Aber ein Fünftel der Wohnungen war zerstört worden, die meisten der privaten Wohngebäude waren beschädigt.
Nach dem Krieg war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kein geradliniger Prozess, sondern starken Schwankungen unterworfen. Kratz hat diesen Prozess in mehrere Abschnitte unterteilt. Die "Phase der Abrechnung" ist jene der Jahre 1945/46, als nicht nur die Alliierten Kriegsverbrecher straften, sondern auch Selbstjustiz in den Straßen zu beobachten war - etwa durch antifaschistische Rollkommandos. Die Bürger, so beschreibt es Kratz, sahen sich in jener Zeit vor allem als Opfer und weniger als Mitschuldige am Unrechtssystem.
Danach begann für Kratz die lange "Phase des Schweigens", während der es zwar auch eine Erinnerungskultur gab, die sich in einigen Gedenkstätten ausdrückte. Bezeichnend war aber das Verhalten von Politikern wie Oberbürgermeister Mix, der Teile seiner Biographie verschwieg. Zudem wurden ehemals prominente Nazi-Anhänger wieder in die Stadtgesellschaft integriert. Schon 1953 stellten NS-Gegner im Magistrat nur noch eine Minderheit, hält Kratz fest. Zwei Magistratsmitglieder hätten vor 1945 als NSDAP-Mitglieder Karriere gemacht, und fünf andere waren demnach zumindest als Mitläufer anzusehen. Allerdings, so schränkt der Autor ein, hätten selbst ehemalige KZ-Häftlinge nach dem Krieg aus wahltaktischen Gründen vermieden, die NS-Vergangenheit ihrer Mitbewerber publik zu machen.
Im Jahr 1960 beginnt für Kratz die Phase der Bewältigung, nun wurde der Umgang mit der NS-Vergangenheit kritisch hinterfragt. Anlass waren offenbar antisemitische Vorfälle um den Jahreswechsel 1959/60. Georg Buch (SPD), ein Verfolgter der NS-Zeit, war zum Oberbürgermeister gewählt worden, und die SPD dominierte die Stadtpolitik. Die Erinnerungs- und Gedenkkultur erhielt dadurch neue Impulse. Kratz hält aber auch fest, dass die großen NS-Prozesse - der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und die Auschwitzprozesse zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt - in Wiesbaden nur marginal zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus geführt hätten.
Nach 1969 folgt in der Einschätzung des Autors eine knappe Dekade der "Instrumentalisierung". Das Thema Nationalsozialismus wurde auch in Wiesbaden zur fast beliebigen Diffamierung des politischen Gegners genutzt. NS-Vergleiche wurden inflationär für die politische Auseinandersetzung gezogen, die bisweilen in eine prinzipielle Staatskritik mündeten. Kratz sieht für diese Zeit eine Verhärtung der politischen Fronten und eine Stagnation der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus.
Erst die vierteilige amerikanische Fernsehserie "Holocaust" trug demnach dazu bei, dass 1979 eine neue Phase der Aufarbeitung und ein "Gedenkboom" begannen. Es wurde wieder mit neuem Elan recherchiert, diskutiert, dokumentiert und publiziert. Kratz konstatiert einen nachhaltigen "erinnerungskulturellen Wandel", dem die Grünen nach ihrem Einzug ins Stadtparlament 1985 und der Bildung einer Koalition mit der SPD auch politisch neue Impulse gegeben hätten.
Seit 1993 sieht der Autor Wiesbaden in der Phase der Bewahrung, in der die zuvor initiierte Erinnerungskultur verstetigt wurde. Mahnmale, Gedenktafeln, Stolpersteine, Veranstaltungsreihen prägten und prägen bis heute den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Dabei stehen nach Einschätzung von Kratz allerdings vor allem die 1500 jüdischen Opfer im Mittelpunkt und weniger andere Opfergruppen. Er sieht darin den "kleinsten gemeinsamen erinnerungspolitischen Nenner", auf den sich die Stadtpolitik einigen kann. Denn immer dann, wenn es um die Schuldfrage gehe, flamme der alte Streit wieder auf. Um an die ermordeten Juden zu erinnern, müsse nicht zwingend geklärt werden, wer daran Schuld habe: Erst dieses Ausblenden mache "das Opfergedenken für alle politischen Entscheidungsträger anschluss- und konsensfähig".
Philipp Kratz: Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945. Wallstein Verlag Göttingen 2019, 432 Seiten, 42 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die vorliegende Studie überzeugt nicht nur durch ihre Inhalte und ihre quellengesättigte Argumentation, sondern auch durch den Schreibstil des Autors.« (Jörn Retterath, Sehepunkte, 18.11.2019) »eine gut lesbare, nicht selten spannende Darstellung von geschichtspolitischen Auseinandersetzungen« (Peter Steinbach, Zeitschrift für Geschichtswisenschaft, 1/2020) »Mehr Wissenswertes ist auf den rund 400 Buchseiten zu entdecken, die für Wiesbadener Pflichtlektüre sein sollte.« (Heinz-Jürgen Hauzel, Wiesbadener Kurier. 18.05.2019)