Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt ein großer Teil der Menschheit in bitterer Armut. Daraus ergibt sich die brennende Frage, was die Bürger wohlhabender Länder extrem armen Menschen moralisch schulden. Valentin Beck beantwortet sie im Rahmen einer umfassenden Theorie der globalen Verantwortung. In seinem glänzend geschriebenen Buch behandelt er zentrale Fragen der Theorie globaler Gerechtigkeit, unterzieht unsere Verflechtung in globale soziale Strukturen einer detaillierten Analyse und wirft so ein neues Licht auf eine der größten moralischen Herausforderungen unserer Zeit. Wir müssen mit Blick auf den politischen und individuellen Umgang mit der Weltarmut umdenken, so lautet die zentrale Forderung dieser Studie.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Pawlik bekommt mit dem Buch des Philosophen Valentin Beck leider nicht viel mehr als den Beleg der Ohnmacht des guten Willens. Becks laut Pawlik theoretisch gut abgesicherte und mit Gewährsleuten wie Rawls und Sen bestückte Theorie globaler Verantwortung zeigt für den Rezensenten ein eklatantes Missverhältnis zwischen argumentativem Aufwand und Ergebnis. Die Erkenntnis, dass die Menschenrechte als Mindeststandard im Diskurs über globale Gerechtigkeit gelten sollten, wie der Autor meint, findet Pawlik weder überraschend noch strittig. Auf die dringendere Frage, was die reichen Staaten konkret tun sollen, hat der Autor aber leider keine Antwort, muss der Rezensent feststellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2017Die Ohnmacht des guten Willens
Valentin Beck sucht nach Mindeststandards für den moralisch gebotenen Kampf gegen extreme Armut
Es gibt Evidenzen, die stärker sind als alle Vernünfteleien. Wer einmal durch einen Slum gegangen ist, wird sich nicht lange mit der Frage aufhalten, ob die Bürger und die Regierungen reicher Staaten sich aus Gerechtigkeitsgründen oder nur aufgrund eines Gebots allgemein menschlicher Solidarität darum bemühen sollen, das Los von Menschen in extremer Armut zu lindern. Daran, dass die Dinge nicht so bleiben dürfen, wie sie sind, wird er jedenfalls nicht zweifeln.
Auch Valentin Beck geht es entgegen dem reißerischen Titel seines Buches nicht darum, eine nach allen Regeln der philosophischen Kunst abgesicherte Theorie globaler Verantwortung zu entwerfen. Sein Ziel ist bescheidener. Es besteht darin, die Mindeststandards zu identifizieren, auf die sich die Befürworter intellektuell satisfaktionsfähiger Theorien globaler Gerechtigkeit verständigen können. "Es soll ein Konsens verschiedener grundsätzlicher Positionen darüber ausgewiesen werden, was wir Menschen in extremer Armut schulden, ohne die tiefgreifenden und zumindest teilweise auch vernünftigen Meinungsverschiedenheiten darüber zu nivellieren, warum wir ihnen gegenüber eine solche moralische Verantwortung tragen."
Beck kann sich für sein Vorgehen auf eine Reihe namhafter Vorgänger berufen; sie reichen vom späten John Rawls bis zu führenden Vertretern des heutigen philosophischen Jetset wie Amartya Sen und Martha Nussbaum. Philosophie ist danach weniger die selbstgenügsame Liebe zur Weisheit als vielmehr eine politiknahe Interventionswissenschaft, deren Hauptziel die Hervorbringung kommuniquétauglicher Verständigungsformeln ist. Derartige Formeln sind freilich in der Regel durch eine gewisse Überraschungsarmut gekennzeichnet; man könnte auch sagen, sie erschöpfen sich meist in terminologisch aufgebrezelten Trivialitäten.
Auch bei Beck steht der argumentative Aufwand, den er zur Herleitung seiner Position betreibt, in einem die Zeitökonomie seiner Leser arg strapazierenden Missverhältnis zu den von ihm erzielten Ergebnissen. Die gesuchte normative Schnittmenge bestehe in einem Set grundlegender Menschenrechte, von Rechten also, "deren institutioneller Schutz besonders wichtig dafür ist, dass die Rechtssubjekte ein im weiteren Sinn gutes Leben führen können, was auch immer diese darunter genauer verstehen mögen". Neben Grundfreiheiten und politischen Rechten gehörten dazu grundlegende Subsistenzrechte.
Letztere würden einem beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung noch immer vorenthalten. "Die Zahl der unterernährten Menschen liegt seit Jahrzehnten über oder an der Marke von 800 Millionen. Ungefähr 884 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Geschätzte 924 Millionen Menschen lebten im Jahr 2001 in Slums. Ungefähr 2,5 Milliarden Menschen hatten im letzten Jahrzehnt keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen. Geschätzte 774 Millionen Erwachsene sind Analphabeten. Fast ein Drittel der Menschheit hat keinen gesicherten Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten."
Diesem skandalösen Missstand abzuhelfen ist nach Beck ein menschenrechtliches Gebot, und Schuldner dieser Pflicht sei der besser bemittelte Teil der Menschheit. So allgemein formuliert, ist dies eine Forderung, der man kaum zu widersprechen wagt. Weitaus schwieriger ist freilich die Frage, was die Gesellschaften und Regierungen der reichen Staaten im Einzelnen tun sollen, um dieser Verpflichtung Genüge zu tun. Soll man die Entwicklungshilfe aufstocken, obwohl bekannt ist, dass ein Großteil von der sechs- bis achthundert Milliarden Euro, die allein die afrikanischen Staaten seit der Unabhängigkeit erhalten haben, in dunklen Kanälen versickert ist? Oder sollen die wohlhabenden Staaten ihre Grenzen noch weiter öffnen, obgleich dies gerade nicht den Allerärmsten hilft, sondern denen, die sich die teure Reise leisten können, und eher dazu beiträgt, die despotischen Herrschaftsverhältnisse in deren Heimatländern zu festigen?
Darüber, dass solche Maßnahmen allenfalls zu einer punktuellen Entspannung führen, sind sich die Experten weitgehend einig. Auch Beck führt aus, dass der einzige erfolgversprechende Weg in einer Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen bestehe. Bislang seien diese durch eine durchgängige Schlechterstellung der armen Länder geprägt, von den Handelsbarrieren, die Europa und Nordamerika gegen landwirtschaftliche Importe aus Afrika aufgebaut hätten, über das internationale Patentrecht bis hin zur Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Nicht weniger verwerflich sei die fast grenzenlose Nachsicht, mit der bislang selbst die übelsten Potentaten rechnen dürften, sofern sie nur über Erdöl oder Bodenschätze verfügen.
Auch für diese Forderungen kann Beck sich breiter Zustimmung sicher sein. Wirklich schwierig wird es erst dann, wenn sie in die kleine Münze politisch akzeptanzfähiger und rechtlich zulässiger Handlungsstrategien konvertiert werden sollen. Die Not der Ärmsten ist ein starkes Argument, aber so stark, dass sie alle entgegenstehenden Gesichtspunkte ohne weiteres überrollt, ist selbst sie nicht. So hat die Überzeugung, dass sogar ein schlechter Herrscher besser sei als ein Bürgerkrieg, in der politischen Philosophie eine große Tradition, und selbst den Satz "Wenn wir es nicht tun, machen es halt die anderen" kann man in einer auf Wettbewerb und Verdrängung ausgerichteten Wirtschaftsordnung nicht einfach als zynisch abtun. Es muss abgewogen werden, auch wenn es angesichts der Bilder von Not und Elend schwer fällt.
Damit aber will Beck, insoweit ganz der Philosoph alter Schule, nichts zu tun haben. Hinweise, wie man seine menschenrechtlich begründeten Forderungen zu auch nur ansatzweise operablen Handlungsprogrammen verdichten könnte, finden sich bei ihm nicht. Insofern ist sein Buch weniger jene intellektuelle Landmarke, als welche es in der Verlagswerbung dargestellt wird, als ein Symptom der Ohnmacht des guten Willens. Beck bleibt, um mit Hegel zu sprechen, in einem perennierenden Sollen stecken - wohltönend, aber folgenlos. Dies ist freilich weniger ein Vorwurf an den Autor als an die Welt, in der wir uns, sei es als Moralisten, sei es als Realpolitiker, nur allzu bequem eingerichtet haben. Nicht Bücher vermögen uns aufzuschrecken, sondern vermutlich erst eine Völkerwanderung.
MICHAEL PAWLIK.
Valentin Beck: "Eine Theorie der globalen Verantwortung". Was wir Menschen in extremer Armut schulden.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 S., br., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Valentin Beck sucht nach Mindeststandards für den moralisch gebotenen Kampf gegen extreme Armut
Es gibt Evidenzen, die stärker sind als alle Vernünfteleien. Wer einmal durch einen Slum gegangen ist, wird sich nicht lange mit der Frage aufhalten, ob die Bürger und die Regierungen reicher Staaten sich aus Gerechtigkeitsgründen oder nur aufgrund eines Gebots allgemein menschlicher Solidarität darum bemühen sollen, das Los von Menschen in extremer Armut zu lindern. Daran, dass die Dinge nicht so bleiben dürfen, wie sie sind, wird er jedenfalls nicht zweifeln.
Auch Valentin Beck geht es entgegen dem reißerischen Titel seines Buches nicht darum, eine nach allen Regeln der philosophischen Kunst abgesicherte Theorie globaler Verantwortung zu entwerfen. Sein Ziel ist bescheidener. Es besteht darin, die Mindeststandards zu identifizieren, auf die sich die Befürworter intellektuell satisfaktionsfähiger Theorien globaler Gerechtigkeit verständigen können. "Es soll ein Konsens verschiedener grundsätzlicher Positionen darüber ausgewiesen werden, was wir Menschen in extremer Armut schulden, ohne die tiefgreifenden und zumindest teilweise auch vernünftigen Meinungsverschiedenheiten darüber zu nivellieren, warum wir ihnen gegenüber eine solche moralische Verantwortung tragen."
Beck kann sich für sein Vorgehen auf eine Reihe namhafter Vorgänger berufen; sie reichen vom späten John Rawls bis zu führenden Vertretern des heutigen philosophischen Jetset wie Amartya Sen und Martha Nussbaum. Philosophie ist danach weniger die selbstgenügsame Liebe zur Weisheit als vielmehr eine politiknahe Interventionswissenschaft, deren Hauptziel die Hervorbringung kommuniquétauglicher Verständigungsformeln ist. Derartige Formeln sind freilich in der Regel durch eine gewisse Überraschungsarmut gekennzeichnet; man könnte auch sagen, sie erschöpfen sich meist in terminologisch aufgebrezelten Trivialitäten.
Auch bei Beck steht der argumentative Aufwand, den er zur Herleitung seiner Position betreibt, in einem die Zeitökonomie seiner Leser arg strapazierenden Missverhältnis zu den von ihm erzielten Ergebnissen. Die gesuchte normative Schnittmenge bestehe in einem Set grundlegender Menschenrechte, von Rechten also, "deren institutioneller Schutz besonders wichtig dafür ist, dass die Rechtssubjekte ein im weiteren Sinn gutes Leben führen können, was auch immer diese darunter genauer verstehen mögen". Neben Grundfreiheiten und politischen Rechten gehörten dazu grundlegende Subsistenzrechte.
Letztere würden einem beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung noch immer vorenthalten. "Die Zahl der unterernährten Menschen liegt seit Jahrzehnten über oder an der Marke von 800 Millionen. Ungefähr 884 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Geschätzte 924 Millionen Menschen lebten im Jahr 2001 in Slums. Ungefähr 2,5 Milliarden Menschen hatten im letzten Jahrzehnt keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen. Geschätzte 774 Millionen Erwachsene sind Analphabeten. Fast ein Drittel der Menschheit hat keinen gesicherten Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten."
Diesem skandalösen Missstand abzuhelfen ist nach Beck ein menschenrechtliches Gebot, und Schuldner dieser Pflicht sei der besser bemittelte Teil der Menschheit. So allgemein formuliert, ist dies eine Forderung, der man kaum zu widersprechen wagt. Weitaus schwieriger ist freilich die Frage, was die Gesellschaften und Regierungen der reichen Staaten im Einzelnen tun sollen, um dieser Verpflichtung Genüge zu tun. Soll man die Entwicklungshilfe aufstocken, obwohl bekannt ist, dass ein Großteil von der sechs- bis achthundert Milliarden Euro, die allein die afrikanischen Staaten seit der Unabhängigkeit erhalten haben, in dunklen Kanälen versickert ist? Oder sollen die wohlhabenden Staaten ihre Grenzen noch weiter öffnen, obgleich dies gerade nicht den Allerärmsten hilft, sondern denen, die sich die teure Reise leisten können, und eher dazu beiträgt, die despotischen Herrschaftsverhältnisse in deren Heimatländern zu festigen?
Darüber, dass solche Maßnahmen allenfalls zu einer punktuellen Entspannung führen, sind sich die Experten weitgehend einig. Auch Beck führt aus, dass der einzige erfolgversprechende Weg in einer Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen bestehe. Bislang seien diese durch eine durchgängige Schlechterstellung der armen Länder geprägt, von den Handelsbarrieren, die Europa und Nordamerika gegen landwirtschaftliche Importe aus Afrika aufgebaut hätten, über das internationale Patentrecht bis hin zur Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Nicht weniger verwerflich sei die fast grenzenlose Nachsicht, mit der bislang selbst die übelsten Potentaten rechnen dürften, sofern sie nur über Erdöl oder Bodenschätze verfügen.
Auch für diese Forderungen kann Beck sich breiter Zustimmung sicher sein. Wirklich schwierig wird es erst dann, wenn sie in die kleine Münze politisch akzeptanzfähiger und rechtlich zulässiger Handlungsstrategien konvertiert werden sollen. Die Not der Ärmsten ist ein starkes Argument, aber so stark, dass sie alle entgegenstehenden Gesichtspunkte ohne weiteres überrollt, ist selbst sie nicht. So hat die Überzeugung, dass sogar ein schlechter Herrscher besser sei als ein Bürgerkrieg, in der politischen Philosophie eine große Tradition, und selbst den Satz "Wenn wir es nicht tun, machen es halt die anderen" kann man in einer auf Wettbewerb und Verdrängung ausgerichteten Wirtschaftsordnung nicht einfach als zynisch abtun. Es muss abgewogen werden, auch wenn es angesichts der Bilder von Not und Elend schwer fällt.
Damit aber will Beck, insoweit ganz der Philosoph alter Schule, nichts zu tun haben. Hinweise, wie man seine menschenrechtlich begründeten Forderungen zu auch nur ansatzweise operablen Handlungsprogrammen verdichten könnte, finden sich bei ihm nicht. Insofern ist sein Buch weniger jene intellektuelle Landmarke, als welche es in der Verlagswerbung dargestellt wird, als ein Symptom der Ohnmacht des guten Willens. Beck bleibt, um mit Hegel zu sprechen, in einem perennierenden Sollen stecken - wohltönend, aber folgenlos. Dies ist freilich weniger ein Vorwurf an den Autor als an die Welt, in der wir uns, sei es als Moralisten, sei es als Realpolitiker, nur allzu bequem eingerichtet haben. Nicht Bücher vermögen uns aufzuschrecken, sondern vermutlich erst eine Völkerwanderung.
MICHAEL PAWLIK.
Valentin Beck: "Eine Theorie der globalen Verantwortung". Was wir Menschen in extremer Armut schulden.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 S., br., 17,- [Euro].
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»Es ist begeisternd, von wie vielen Seiten sich der Autor seiner moralischen Fragestellung nähert, wie unermüdlich er Pros und Contras erörtert ... « Hilal Sezgin DIE ZEIT 20160811