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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Doris Knechts Roman "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" vergisst erstaunlich wenig, wenn's um Effekt geht
Doris Knechts neuer Roman erinnert die Rezensentin an einen jüdischen Witz: Ein katholischer Priester, ein evangelischer Pastor und ein Rabbi streiten darüber, wann das menschliche Leben beginnt. Mit der Befruchtung der Eizelle, sagt der Priester. Wenn die Eizelle sich in der Gebärmutter einnistet, sagt der Pastor. O nein, sagt der Rabbi, das menschliche Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind, und der Hund ist tot.
In diesem Sinne steht Knechts Ich-Erzählerin an der Schwelle des Lebens, mit der Einschränkung, dass ihr Hund noch sehr lebendig und sie darüber heilfroh ist, fungiert er doch als eine Art Kindersatz mit verminderten Ansprüchen. Denn dem Weggang von Sohn und Tochter sieht sie durchaus freudig erwartungsvoll entgegen. Schließlich gehört sie der schreibenden Zunft an und konnte ihren Job jahrelang, umtost vom familiären Wirbel, nur dank Kopfhörern erledigen. Nun ist sie fest entschlossen, sich nicht dem comme il faut zu beugen: "Wenn die Kinder ausziehen, wird von uns maximaler Schmerz erwartet und heulendes Elend, als habe man uns eine Extremität abgeschnitten, als seien wir nur noch halb, unserer biologischen Funktion und damit unseres Lebensinhalts beraubt."
Dass diese Frau auch abgesehen vom Hund einiges mit Doris Knecht gemein hat, erschließt sich selbst der sporadischen Leserin von deren Kolumnen: Sie kommt aus Vorarlberg, schreibt Zeitungsartikel und Bücher, hat Zwillinge, von deren Vater sie getrennt lebt, weshalb sie sich, als die Kinder ausziehen, die große Wohnung in Wien nicht mehr leisten kann und in ihr ziemlich kleines ehemaliges Schreibstudio übersiedeln muss; wenigstens hat sie auch ein Haus im Waldviertel, quasi die Uckermark der Wiener. Mit den Realien geht die Erzählerin nonchalant um - als ihre Tochter Luzi erklärt, in dem Roman nicht vorkommen zu wollen, macht sie kurzerhand einen Sohn aus ihr und nennt ihn Max. "'Gefällt mir nicht', sagt Luzi. 'Na ja, sorry', sage ich, 'aber dich gibt's gar nicht mehr.'"
Sobald das einmal geklärt ist, macht Knecht sich an die Bestandsaufnahme, die zu einem nicht unwesentlichen Teil eine wirtschaftliche Bilanz ist; wie überhaupt Wohnen und Eigentum als Thema der Literatur, von Streeruwitz bis Haas, heute akut ist. Natürlich geht es bei Knecht um das Verhältnis der Protagonistin zu ihren Kindern (bei deren Fortgang der Mutter dann doch mulmig wird), zum Ex-Mann, zu den Eltern, Geschwistern, Freundinnen und zum Hund. Aber ebenso wichtig scheint ihr die Frage nach dem ökonomischen Status, weil das eine politische ist. Die Bestsellerautorin fragt sich im Namen ihrer Figur: Ist eine femme de lettres und Mutter gescheitert, wenn sie als Familienrestposten übrig bleibt, ihre Wohnbedürfnisse mit einer Garçonnière befriedigt und beim Diskont-Supermarkt einkauft? Immerhin: Ein Zimmer für sich allein hat sie jetzt. Die kleine Eigentumswohnung hat sie gekauft, als sie gut verdiente, und dort gleich eine Postkarte mit dem Cover von Virginia Woolfs Buch angebracht. Nun aber soll sie dort nicht nur arbeiten, sondern leben. Und Woolf forderte in "A Room of One's Own" bekanntlich auch ein jährliches Einkommen von 500 Pfund als Voraussetzung für weibliches Schreiben, hier ist umgekehrt das Schreiben die Voraussetzung für das Einkommen. Knecht steht jedenfalls in einer emanzipatorischen Tradition, die weiter zurückreicht: Schon Fanny Lewald investierte 1843 den Erlös ihres Erfolgsbuches "Jenny" in eine Wohnung.
Auch das Motto von "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" stammt von Virginia Woolf, darin heißt es: "Ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt." Das scheint ein bisschen viel Geheimniskrämerei für einen narrativen Zahlungsverkehr, der den Kunden Handfestes bietet: Dieses Ich macht doch einen sehr wirklichen Eindruck. Die kurzen, clipartigen Kapitel haben Überschriften wie "Solitude", "Auf dem Immobilienmarkt", "Das Bett", "Empty Nesters" oder "Eine Liste von Dingen, die ich verloren habe". Zur Roman-Inventur gehört auch das Ausmisten der alten Wohnung, das zwangsläufig Erinnerungen heraufbeschwört, denen das Ich, wie es sich für ein reflektiertes Memoir gehört, nicht traut. Für die Rückblenden verlässt Knecht das Tagebuch-Präsens, und wir erfahren von der Erzählerin, dass sie eigentlich "unter netten Menschen aufwuchs" und ihre Therapeutin ihr geraten hat, lieber nicht so offenherzig über ihre Phobien zu schreiben; dass bei der Abtreibung in einer tatsächlich existierenden Adresse am Wiener Fleischmarkt "alle irrsinnig lieb zu mir waren"; dass es ihr nicht guttut, zu viel mit glücklichen Paaren zu verkehren ("ist so"), und sie manche Männer "nicht mal an den Arsch gebunden haben wollte".
Woher kommt es, dass die Fülle aktueller Problemstoffe die Leserin zwar unterhält, aber unbefriedigt lässt? Einmal räsoniert Knechts Alter Ego über seine Neigung, eine "erfundene Mutter" zu präsentieren, damit die Geschichte "pointierter" und "griffiger" wird: "Alle machen das so, beim Erzählen, so geht Erzählen." Wirklich? Ist das nicht bloß das Rezept für mündliches Erzählen? Knechts Sprache, eher in Berlin zu Hause als in Wien, betont die saloppe Lümmelhaltung noch, die Erzählerin "schnallt" etwas und "kriegt" Dinge "gebacken", aber doch zu beiläufig und inkonsequent, um als literarischer Stilwille durchzugehen. Vor allem aber liest sich das Buch wie der Versuch, eine Glosse zum Roman aufzublasen, und was im Kleinen originell, klug und charmant wirken mag, verliert in der extended version an Dichte, ohne an Tiefe zu gewinnen.
Einige Perlen (selbst-)ironischen Hintersinns finden sich darin allemal. Wenn die Erzählerin etwa nach dem Tod des ihr vermeintlich unbekannten Philosophen Rudolf Burger draufkommt, dass sie mit ihm ein Interview geführt hat, und in ihrer Bibliothek ein Buch mit Randnotizen entdeckt: "Ich habe Burger nicht nur getroffen, ich habe auch Bücher von ihm gelesen, eins übers Erinnern zum Beispiel, und auch das hab ich vergessen." DANIELA STRIGL
Doris Knecht: "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe".
Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 237 S., geb., 24,- Euro.
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