Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet. Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt. In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hugo Lindenbergs Roman über die Familie von Holocaust-Überlebenden, die ihren Urlaub an einem französischen Strand verbringen, hat Fritz Göttler mit großem Interesse gelesen. Der zehnjährige, namenlose Erzähler, so Göttler, merkt, dass er außerhalb der Strandgemeinschaft steht, sein gleichaltriger Freund erklärt ihm, das liege daran, dass er Jude sei. Für seine Großmutter und Tante, die jüdische Traditionen einhalten, schämt sich der Erzähler und fühlt sich erst in einer christlichen Messe und beim Abendessen mit der Familie seines Freundes Baptiste wohl, fasst Göttler zusammen. Es geht, erklärt Göttler, um das Weitermachen nach dem Holocaust, was überhaupt noch erzählbar ist und wie die nachfolgenden Generationen mit diesem Trauma umgehen. Der Rezensent ist von der "surrealen Präzision" fasziniert, mit der das Buch verfasst worden ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.07.2023Blut für die Quallen
In „Eines Tages wird es leer sein“ schildert Hugo Lindenberg die Jugend eines Juden in Frankreich
Plötzlich ist er da, Baptiste, etwa zehn Jahre alt, er steht am Strand vor dem gleichaltrigen Erzähler, im Gegenlicht. Eine Aura von Allmacht ist um ihn, ein bronzener Glanz. „Er passt so gut ins Bild, dass ich immer eine Weile brauche, um ihn im Gedränge zu entdecken. Er ist die Bewegung. Sein Körper setzt die Welt in Bewegung, während bei meinem alles ins Stocken gerät ... Alles, was zu schnell geht, macht mir Angst.“ Vor dem Erzähler – er bleibt namenlos – liegt bei der ersten Begegnung mit Baptiste eine Qualle am Strand. Er bohrt einen Stock in die glibbrige Masse. „Weil nichts passiert, drücke ich die Spitze tiefer, bis das Tier in zwei Hälften zerreißt. Es ist fest, unempfindlich, wie ein zu zähes Stück Fleisch, seit Jahrtausenden tot. Ich bringe einen Kadaver zur Strecke und plötzlich rinnt mir der Schweiß von den Wimpern über die Wangen, brennende Tränen, die alles wegwischen, den Jungen, den Strand und diese Qualle, die ich für das Versprechen einer Sommerfreundschaft opfere.“ Die Kakophonie der toten Quallen wird ihn von da an begleiten.
Die Sommerfrische ist eine bürgerliche Institution in Frankreich, Sonne und Meer, Familien am Strand, alte Villen in der Normandie, Idylle mit einem Versprechen von Abenteuer. Der Ort der Kindheit, in der die Zeit verloren geht und der in der Zeit verloren geht, vielfach beschworen von Marcel Proust und Éric Rohmer. Überkommenes und Modernes mischt sich hier, Erlebtes und Imaginiertes, die Menschen erfinden sich am Strand neu. „Eines Tages wird es leer sein“ von Hugo Lindenberg ist ein verstörendes Buch, sehr traurig, aber auch sehr komisch, man spürt den Geist der „Ferien des Monsieur Hulot“.
Der Erzähler bleibt außerhalb dieser Strandgemeinschaft, er spürt, dass er nicht dazugehört und beobachtet und belauscht fremde Familien am Strand. „Maman meint, dass ihr Juden seid“, sagt Baptiste einmal, beiläufig, in aller Unschuld. Ja, die Großmutter ist in Lodz geboren, eine Überlebende des Holocaust. Bei dieser Großmutter wohnt der Erzähler auch, in der Villa Magnolia. Sie kocht für ihn, wäscht ihn in der Badewanne, bringt ihn zu Bett. Sie bewohnen allerdings nur eins der Stockwerke der Villa, und er schläft mit ihr in einem Zimmer. Dann ist da noch eine Tante, die ist hässlich und dick und stinkt – ein „Verrücktenkörper“ –, raucht Zigarillos und hat ein grünes Diabolo im Schrank. Es sind die Achtzigerjahre. Als diese Tante tatsächlich mal an den Strand zum Schwimmen kommt, erfüllen ihn Scham und Horror, er hofft, nicht mit diesen Frauen in Verbindung gebracht zu werden, die sein Anderssein markieren. Er würde sich nicht rühren, wenn die Tante am Ertrinken wäre – und weiß sehr wohl um das Monströse dieser Vorstellung.
Baptistes Familie hingegen ist Normalität: Vater und Mutter, eine Tochter und ein Sohn. Der Erzähler darf zu ihnen an den Familientisch, sogar bei ihnen übernachten. Die Großmutter bringt Baptistes Mutter eine Schüssel gehackte Leber, ein traditionelles jüdisches Gericht, als Gastgeschenk. Was den Jungen mit Scham erfüllt, er bleibt der jüdischen Tradition gegenüber auf Distanz. Fasziniert ist er dagegen, als Baptiste ihn mit zu einem Gottesdienst in die Kirche nimmt, das Händereichen beim „Der Friede sei mit dir“, das Abendmahl und die Hostie. Er träumt von Baptistes Mutter, ist verliebt in sie.
Das Anderssein, das sind Erinnerungen und Traumata, in denen Familie und Generationenfolge sich zersetzten. Der Holocaust wird in diesem Buch nicht in seiner Brutalität und Menschenverachtung beschrieben, diese Erfahrungen sind nicht erzählbar, aber die Spuren, die er in den späteren Generationen hinterlässt, tauchen überall auf, in einzelnen Worten, Satzfolgen. „Meine Großmutter war daran gewöhnt, vom Tod zu reden. Sie gehörte zu einer Schwesternschaft von Frauen, die alles verloren hatten, ihre Familien, ihre Ehemänner und manchmal auch ihre Kinder ... Und wenn die Kinder nicht tot waren, waren sie monströs.“ Zur Schwesternschaft gehört auch Bronia, eine Freundin der Großmutter aus Lodz, Bronia Rosenberg. Deren Sohn, ein Musiker, ist ein ganzes Kapitel gewidmet, er ist aufgewachsen in Israel in einem Kibbuz, sang in Tel Aviv und Teheran, hatte in den Siebzigern als Mike Brant gewaltigen Erfolg in Frankreich mit seinen Chansons und Platten. Er ist ein spätes Opfer des Holocaust, „ohne das Wasser des Flusses stirbt der Fisch“, singt er. Mit achtundzwanzig beendete er sein Leben.
Der französische Autor Hugo Lindenberg, Jahrgang 1978, schrieb unter anderen für Les Inrockuptibles, war an den Zeitschriften Neon, Stylist und Machin Chose, einem kostenlosen Männermagazin. beteiligt. „Eines Tages wird es leer sein“ ist sein erster Roman, er erschien 2020. Es gibt kein Lamento in diesem Buch, keine Sentimentalität und es gibt keine tröstende Distanz. Immer wieder fällt der Erzähler in ein hartes, analytisches, unbeteiligtes Präsens, von surrealer Präzision. „Draußen ist es kochend heiß, das Licht blendet mich. Ich stelle mir ein Schwert vor, das mich durchbohrt, das mich wie ein Hitzschlag im Übergang vom Zimmer zum Balkon trifft, wie ein Lichtblitz. Wie ein Samurai durchstoße ich mich langsam mit beiden Händen mit der Klinge. Der Wunsch, für einen Augenblick, tot umzufallen, von der Sonne erschlagen. Ich bilde mir das Blut ein, das fast kühl aus mir heraussprudelt ... Blut für die Quallen, mein Blut als Heilmittel für das Meer.“
Von Opfern ist immer wieder die Rede in diesem Buch, vom Tod und von Auslöschung, von den Quallen, aber auch von den Tausenden gefallener junger Amerikaner am Omaha Beach, oder von der Playmobilfigur Vera, die geopfert werden soll. Auch die Liebe der zwei Jungen wird ein Opfer verlangen, das ultimative Opfer.
FRITZ GÖTTLER
Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus 2023. 164 Seiten, 22 Euro.
Hugo Lindenberg ist französischer Autor und Journalist.
Foto: Alexandre Guirkinger
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In „Eines Tages wird es leer sein“ schildert Hugo Lindenberg die Jugend eines Juden in Frankreich
Plötzlich ist er da, Baptiste, etwa zehn Jahre alt, er steht am Strand vor dem gleichaltrigen Erzähler, im Gegenlicht. Eine Aura von Allmacht ist um ihn, ein bronzener Glanz. „Er passt so gut ins Bild, dass ich immer eine Weile brauche, um ihn im Gedränge zu entdecken. Er ist die Bewegung. Sein Körper setzt die Welt in Bewegung, während bei meinem alles ins Stocken gerät ... Alles, was zu schnell geht, macht mir Angst.“ Vor dem Erzähler – er bleibt namenlos – liegt bei der ersten Begegnung mit Baptiste eine Qualle am Strand. Er bohrt einen Stock in die glibbrige Masse. „Weil nichts passiert, drücke ich die Spitze tiefer, bis das Tier in zwei Hälften zerreißt. Es ist fest, unempfindlich, wie ein zu zähes Stück Fleisch, seit Jahrtausenden tot. Ich bringe einen Kadaver zur Strecke und plötzlich rinnt mir der Schweiß von den Wimpern über die Wangen, brennende Tränen, die alles wegwischen, den Jungen, den Strand und diese Qualle, die ich für das Versprechen einer Sommerfreundschaft opfere.“ Die Kakophonie der toten Quallen wird ihn von da an begleiten.
Die Sommerfrische ist eine bürgerliche Institution in Frankreich, Sonne und Meer, Familien am Strand, alte Villen in der Normandie, Idylle mit einem Versprechen von Abenteuer. Der Ort der Kindheit, in der die Zeit verloren geht und der in der Zeit verloren geht, vielfach beschworen von Marcel Proust und Éric Rohmer. Überkommenes und Modernes mischt sich hier, Erlebtes und Imaginiertes, die Menschen erfinden sich am Strand neu. „Eines Tages wird es leer sein“ von Hugo Lindenberg ist ein verstörendes Buch, sehr traurig, aber auch sehr komisch, man spürt den Geist der „Ferien des Monsieur Hulot“.
Der Erzähler bleibt außerhalb dieser Strandgemeinschaft, er spürt, dass er nicht dazugehört und beobachtet und belauscht fremde Familien am Strand. „Maman meint, dass ihr Juden seid“, sagt Baptiste einmal, beiläufig, in aller Unschuld. Ja, die Großmutter ist in Lodz geboren, eine Überlebende des Holocaust. Bei dieser Großmutter wohnt der Erzähler auch, in der Villa Magnolia. Sie kocht für ihn, wäscht ihn in der Badewanne, bringt ihn zu Bett. Sie bewohnen allerdings nur eins der Stockwerke der Villa, und er schläft mit ihr in einem Zimmer. Dann ist da noch eine Tante, die ist hässlich und dick und stinkt – ein „Verrücktenkörper“ –, raucht Zigarillos und hat ein grünes Diabolo im Schrank. Es sind die Achtzigerjahre. Als diese Tante tatsächlich mal an den Strand zum Schwimmen kommt, erfüllen ihn Scham und Horror, er hofft, nicht mit diesen Frauen in Verbindung gebracht zu werden, die sein Anderssein markieren. Er würde sich nicht rühren, wenn die Tante am Ertrinken wäre – und weiß sehr wohl um das Monströse dieser Vorstellung.
Baptistes Familie hingegen ist Normalität: Vater und Mutter, eine Tochter und ein Sohn. Der Erzähler darf zu ihnen an den Familientisch, sogar bei ihnen übernachten. Die Großmutter bringt Baptistes Mutter eine Schüssel gehackte Leber, ein traditionelles jüdisches Gericht, als Gastgeschenk. Was den Jungen mit Scham erfüllt, er bleibt der jüdischen Tradition gegenüber auf Distanz. Fasziniert ist er dagegen, als Baptiste ihn mit zu einem Gottesdienst in die Kirche nimmt, das Händereichen beim „Der Friede sei mit dir“, das Abendmahl und die Hostie. Er träumt von Baptistes Mutter, ist verliebt in sie.
Das Anderssein, das sind Erinnerungen und Traumata, in denen Familie und Generationenfolge sich zersetzten. Der Holocaust wird in diesem Buch nicht in seiner Brutalität und Menschenverachtung beschrieben, diese Erfahrungen sind nicht erzählbar, aber die Spuren, die er in den späteren Generationen hinterlässt, tauchen überall auf, in einzelnen Worten, Satzfolgen. „Meine Großmutter war daran gewöhnt, vom Tod zu reden. Sie gehörte zu einer Schwesternschaft von Frauen, die alles verloren hatten, ihre Familien, ihre Ehemänner und manchmal auch ihre Kinder ... Und wenn die Kinder nicht tot waren, waren sie monströs.“ Zur Schwesternschaft gehört auch Bronia, eine Freundin der Großmutter aus Lodz, Bronia Rosenberg. Deren Sohn, ein Musiker, ist ein ganzes Kapitel gewidmet, er ist aufgewachsen in Israel in einem Kibbuz, sang in Tel Aviv und Teheran, hatte in den Siebzigern als Mike Brant gewaltigen Erfolg in Frankreich mit seinen Chansons und Platten. Er ist ein spätes Opfer des Holocaust, „ohne das Wasser des Flusses stirbt der Fisch“, singt er. Mit achtundzwanzig beendete er sein Leben.
Der französische Autor Hugo Lindenberg, Jahrgang 1978, schrieb unter anderen für Les Inrockuptibles, war an den Zeitschriften Neon, Stylist und Machin Chose, einem kostenlosen Männermagazin. beteiligt. „Eines Tages wird es leer sein“ ist sein erster Roman, er erschien 2020. Es gibt kein Lamento in diesem Buch, keine Sentimentalität und es gibt keine tröstende Distanz. Immer wieder fällt der Erzähler in ein hartes, analytisches, unbeteiligtes Präsens, von surrealer Präzision. „Draußen ist es kochend heiß, das Licht blendet mich. Ich stelle mir ein Schwert vor, das mich durchbohrt, das mich wie ein Hitzschlag im Übergang vom Zimmer zum Balkon trifft, wie ein Lichtblitz. Wie ein Samurai durchstoße ich mich langsam mit beiden Händen mit der Klinge. Der Wunsch, für einen Augenblick, tot umzufallen, von der Sonne erschlagen. Ich bilde mir das Blut ein, das fast kühl aus mir heraussprudelt ... Blut für die Quallen, mein Blut als Heilmittel für das Meer.“
Von Opfern ist immer wieder die Rede in diesem Buch, vom Tod und von Auslöschung, von den Quallen, aber auch von den Tausenden gefallener junger Amerikaner am Omaha Beach, oder von der Playmobilfigur Vera, die geopfert werden soll. Auch die Liebe der zwei Jungen wird ein Opfer verlangen, das ultimative Opfer.
FRITZ GÖTTLER
Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus 2023. 164 Seiten, 22 Euro.
Hugo Lindenberg ist französischer Autor und Journalist.
Foto: Alexandre Guirkinger
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