Dies war das zweite Buch von William Boyd, das ich gelesen habe. Ich stelle fest, das es dem Autor gefällt, seine Hauptfiguren völlig neuen Lebenssituationen auszusetzen. In seinem Roman “Eine große Zeit” lässt sich ein junger Schauspieler der britischen Oberschicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts
in Wien wegen Potenzproblemen behandeln und gerät unverhofft als Spion zwischen die Fronten des…mehrDies war das zweite Buch von William Boyd, das ich gelesen habe. Ich stelle fest, das es dem Autor gefällt, seine Hauptfiguren völlig neuen Lebenssituationen auszusetzen. In seinem Roman “Eine große Zeit” lässt sich ein junger Schauspieler der britischen Oberschicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien wegen Potenzproblemen behandeln und gerät unverhofft als Spion zwischen die Fronten des ersten Weltkriegs. Im vorliegenden Buch möchte der Klimaforscher Adam Kindred eigentlich nur wieder in seiner Heimatstadt London beruflich Fuß fassen. Dazu kommt es auch. Nur anders als gedacht. Statt des Forschungsstipendiums am Imperial College landet er als Obdachloser unter einer Brücke an der Themse.
“Eine scheinbar unbedeutende Entscheidung, und nichts ist mehr, wie es einmal war. Im Bruchteil einer Sekunde entgleitet ein ganzes Leben.” So steht es im Klappentext zu “Einfache Gewitter”. Es ist keineswegs eine unbedeutende Entscheidung die die Hauptfigur trifft, eher eine unüberlegte Handlung. Nach seinem Vorstellungsgespräch lernt Adam beim Essen zufällig den Arzt Dr. Philipp Wang kennen. Der Allergologe vergisst seine Aktenmappe im Restaurant. Adam bringt ihm diese netterweise nach Hause. Er findet den Wissenschaftler blutüberströmt im Schlafzimmer. Ein Messer ragt aus seiner Brust. Adam zieht es heraus und wird so vom zufälligen Zeugen eines Mordes zum Haupttatverdächtigen.
Was Boyd nun erzählt ist so phantastisch, das es schon wieder wahr sein könnte. Adam entscheidet sich, die Flucht in den Untergrund zu wählen, bis der wahre Täter gefasst wird bzw. selber zu versuchen, diesen zu stellen. Als neues Domizil findet er ein Uferdreieck unter einer Brücke an der Themse. Nur seinen Aktenkoffer, einen Regenmantel und hundert Pfund Bargeld rettet er aus seinem alten Leben. Als ihm auch dies noch bei einem Überfall gestohlen wird, kämpft er ums nackte Überleben.
Es gibt viele Stellen die gleichzeitig verstören und faszinieren. Als der Hunger am größten ist, erlegt Adam mit angeschwemmtem Strandgut eine Möwe. Nach dem Verzehr des verkohlten Fleisches fühlt er sich gestärkt weitere Herausforderungen zu Bestehen. Und derer hat der Autor einige für seinen Helden vorgesehen.
Adam kommt der Verschwörung eines Pharmaunternehmens auf die Spur. Der getötete Arzt hat an der Erforschung eines neuen Medikamentes zur Heilung von Asthma gearbeitet. Kurz vor der Einführung auf den Markt, schien ihn irgendetwas bewogen zu haben, auf einen Rückzug zu drängen. Ein millionenschweres Geschäft das zu platzen drohte. Die Manager von Calenture Deutz sind jedenfalls dringend daran interessiert, an die Unterlagen zu kommen, die sich in Adams Besitz befinden und setzen einen Profikiller auf ihn an.
Boyd ist ein großartiger Erzähler. Er erzeugt Spannung durch eingängige Sprachbilder. Seine Figuren wirken bis ins kleinste Detail authentisch. Selbst sprachliche Unterschiede arbeitet er fein heraus. Er nimmt sich Zeit für den Blick hinter die Fassade jedes seiner unterschiedlichen Protagonisten. Die Handlung wird so zu einem Spiegel der Londoner Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Auch diesen Roman fand ich mehr als unterhaltsam. Er hat mich gefesselt, verblüfft und menschlich berührt. Er war lehrreich und dennoch unterhaltsam. Und es wird nicht das letzte Werk dieses außergewöhnlichen Schriftstellers bleiben, dass ich lesen werde.