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Eine unheimliche Stimmung grundiert diese Familiensaga, die mit Flüchtlingen beginnt und mit Verfolgten endet: Die Dichterin Dagmar Nick erzählt die wechselvolle Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren in Hamburg, Berlin und Breslau vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Selten zuvor wurde so lebendig nachvollziehbar, was jüdisches Leben in Deutschland über Generationen bedeutete. Sie kamen aus Spanien, arbeiteten sich von Hausierern zu Hoflieferanten hoch, finanzierten als gnädig geduldete Hofjuden mehrere Herrscher, aber ihre Existenz hing immer am seidenen Faden. Ein falscher Verdacht konnte Haft…mehr

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Produktbeschreibung
Eine unheimliche Stimmung grundiert diese Familiensaga, die mit Flüchtlingen beginnt und mit Verfolgten endet: Die Dichterin Dagmar Nick erzählt die wechselvolle Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren in Hamburg, Berlin und Breslau vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Selten zuvor wurde so lebendig nachvollziehbar, was jüdisches Leben in Deutschland über Generationen bedeutete. Sie kamen aus Spanien, arbeiteten sich von Hausierern zu Hoflieferanten hoch, finanzierten als gnädig geduldete Hofjuden mehrere Herrscher, aber ihre Existenz hing immer am seidenen Faden. Ein falscher Verdacht konnte Haft und Folter bedeuten. Dagmar Nick kann für ihre atmosphärisch dichte Erzählung auf erstaunliche Funde in zahlreichen Archiven zurückgreifen, aber auch auf die berühmten Lebenserinnerungen der Glückel von Hameln oder den einzigartigen Erlebnisbericht des Isaak Behrens. Die Große Alte Dame der deutschen Lyrik erweist sich in diesem Buch als begnadete Erzählerin, die souverän mit wenigen Worten den Kern einer Sache trifft, Personen zum Leben erweckt und Spannung erzeugt.

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Autorenporträt
Dagmar Nick, Tochter des Komponisten Edmund Nick und Kusine des Historikers Fritz Stern, gehört zu den wichtigsten deutschen Lyrikerinnen nach 1945. Sie ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2015

Die Gärtnerin
des Stammbaums
Dagmar Nick erzählt die Geschichte
des Judentums in zehn Generationen
VON SABINE REITHMAIER
Dagmar Nick lebt mit den Schatten ihrer Ahnen. Jahrelang hat sie nach ihnen in Archiven gesucht, Dokumente gesammelt, Urkunden studiert, Grabinschriften ausgewertet, Briefe transkribiert, Lebensläufe erforscht, um all das in einem jüdischen Familienbuch einzufangen. „Am Ende war die Bude voll mit Ahnen. Wenn ich die Arme ausstreckte, setzten sie sich wie Vögel auf eine Stange und erzählten mir“, sagt die zierliche 89-Jährige. Auf der Stelle spürt man, warum sie so großartige Gedichte schreibt. Die Schatten dagegen zeigen sich nicht, sie verstecken sich unter Zetteln, Ahnenrollen und Stammbäumen. Von ihnen mag sich Dagmar Nick noch nicht trennen.
  Zehn Generationen hat sie in „Eingefangene Schatten“ (C.H. Beck) versammelt. Die Geschichte beginnt 1550, als die Juden, aus Spanien und Portugal vertrieben, in Deutschland Fuß zu fassen versuchten. Moses Spanier, der älteste Vorfahre, den Nick ausfindig machte, wurde 1550 in Hamburg geboren. Von dort aus verstreuten sich seine Nachkommen nach Hannover, Berlin, Breslau und stiegen rasch von wenig geachteten Hausierern zu Hoflieferanten auf, zuständig für Seide und Juwelen, die Ausstattung ganzer Heere und auch dafür, dass die Herrscher immer Geld in der Kasse hatten.
  Es ist unglaublich, wie viele Querverbindungen Nick entdeckt hat. Ungezählte Stammbäume mit sich weit verzweigenden Ästen hat sie geklebt. Immer wenn sie wieder einen „neuen“ Ahnen fand, notierte sie die Ergänzung mit einem Rotstift, was die handgeschriebenen Bögen fast wie Kunstwerke aussehen lässt. Eineinhalb Jahre brauchte sie, um alles aufzuschreiben, arbeitete zehn Stunden am Tag. „Ich war irgendwie besoffen von der Arbeit.“ Eine Formulierung, die nicht so recht zu der schönen, alten Dame zu passen scheint. Die aber ihr Temperament verrät und auch erklärt, warum sie sich jetzt ungern von den Ahnen verabschiedet.
  Von Lina Morgenstern etwa, „dem Schrecken der Berliner Fabrikbesitzer“. Wo sie einen ungenutzten Raum entdeckte, versuchte diese Frau eine Küche einzurichten. Schon 1848 gründete sie ihren ersten Verein, um arme Schulkinder zu unterstützen. Dann sammelte sie Geld, um Kindergärten einzurichten, bildete Kinderpflegerinnen aus. Als sich im Kriegsjahr 1866 die Versorgungslage verschlechterte, erfand sie in Berlin Volksküchen, die sie, als 1870 der Krieg gegen Frankreich beginnt, auf Bahnhöfe ausdehnte. Sie schreckte nicht nur die Fabrikbesitzer, sondern auch die Familie, die unter ihren ständig neuen Ideen litt. Im Familiengedächtnis überlebte Lina denn auch nicht als engagierte Frauenrechtlerin, sondern als schlampige Hausfrau. „Wenn es bei uns im Kinderzimmer sehr unordentlich war, sagte meine Mutter, hier sehe es aus wie bei Lina Morgenstern.“
  Deren Schwester Jenny, Nicks Urgroßmutter, heiratete den linksliberalen Arzt Sigismund Asch (1825-1901), Mitglied der ersten preußischen Volksvertretung, „ein Demokrat reinsten Wassers“. Aber nicht alle Ahnen waren so nobel. Mit dem „schrecklichen“ Veitel Heine Ephraim, der sich 1766 ein Palais in Berlin baute, wäre Nick lieber nicht verwandt: Ihn bat König Friedrich II., ruiniert durch seine Kriegsausgaben, Falschgeld herzustellen, was er auch tat. Er schmolz vollwertige Münzen um, ließ sie mit vermindertem Silberanteil in Leipziger Münzstätten prägen. Kein Wunder, dass die Firma Ephraim & Co zum Inbegriff der jüdischen Raffgier wurde. Dass der König dahintersteckte, wusste freilich niemand. Angeblich brachte diesem die Münzmanipulation mehr als 25 Millionen Taler ein, genug, um in Potsdam den Bau des Neuen Schlosses zu starten.
  Das Buch steckt voller anrührender Geschichten, die wunderbar poetisch, aber auch sehr klar aufgeschrieben sind. Man erfährt unendlich viel über jüdisches Leben in Deutschland und ist erleichtert, als mit dem preußischen Edikt von 1812 endlich die gesetzliche Emanzipation der Juden beginnt und damit eine halbwegs glückliche Zeit im Leben von Nicks Vorfahren. Sie fühlten sich als Preussen, Religion spielte keine große Rolle mehr. Wer wollte, ging in die Synagoge, andere ließen ihre Kinder evangelisch taufen. Nicks Großmutter wechselte 14-jährig die Konfession. Wegen der Konfirmation, vermutet die Enkelin. Aber 1933, als „das Nicht-Vorstellbare“ passierte und sich der Rassenwahn Bahn brach, habe das alles keine Rolle mehr gespielt, sagt Nick und kramt in ihren Listen. Die führte sie schon als Kind, weshalb die Mutter sie die „Listenreiche“ nannte. „Übersicht ist mir eben wichtig“, sagt sie dann.
  Dagmar Nick war sehr früh sehr berühmt. Auslöser war ein Gedicht, das gerade wieder sehr aktuell ist: „Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind. / Laß es liegen, es ist halb zerrissen. / Häuser schwanken müde wie Kulissen / durch den Wind.“ Nick war 19 Jahre alt, als sie 1945 „Flucht“ schrieb. Erich Kästner, Feuilletonchef der Münchner Neuen Zeitung, publizierte es, und plötzlich galt Nick als neue poetische Stimme Deutschlands. Zwei Jahre später erschien ihr erster Lyrikband „Märtyrer“, der mit dem Liliencron-Preis ausgezeichnet wurde. Viele weitere Preise und zwölf Gedichtbände folgten seither, der bislang letzte, „Schattengespräche“, im Jahr 2008.
  Im Moment „passieren“ ihr keine Gedichte. „Wenn mich etwas beutelt oder aufwühlt, dann wird mir schon wieder etwas zufallen.“ Gedichte sind für sie Zufälle. Und sie wachsen langsam. Nie im Sitzen, sondern nur während des Gehens. Aber das sei logisch, sagt sie. Schließlich sei ihre Lyrik angetrieben von einer inneren Bewegung, müsse rhythmisch sein.
  Auch ihre Prosatexte sind musikalisch. Das liegt vielleicht an den Eltern: Eduard Nick war Komponist, Kaete Nick-Jaenicke Konzertsängerin. 1933 feuerten die Nazis den Vater als Leiter des Breslauer Senders, die Mutter durfte als Halbjüdin nicht mehr auftreten. Die Familie zog nach Berlin, lebte von den Bühnen- und Filmmusiken des Vaters. Als sie 1943 ausgebombt wurden, zogen sie nach Mähren, später nach Böhmen, immer zu Verwandten. Und die Flucht? „Das waren fünf Tage und vier Nächte, als wir, tatsächlich vertrieben, 1945 unterwegs nach Lenggries zum Onkel waren“, sagt Nick.
  Leicht war die Zeit nicht. 1943 erkrankte Dagmar Nick an Tuberkulose. Sechs Jahre in Kliniken oder zu Hause im Bett. „Ich konnte weder tanzen noch ausgehen.“ Und 1948 auch nicht zur Gruppe 47 fahren, die sie eingeladen hatte. „Ich dachte, so lang kann ich nicht sitzen.“ Es erschien ihr auch nicht wichtig, in der Szene aufzutauchen. Leider sei sie völlig ehrgeizlos, sagt sie und wirkt darüber sehr amüsiert. Auch die zweite Einladung der Gruppe nahm sie 1950 nicht an, dieses Mal, weil sie gerade geheiratet hatte, ihr Mann nicht allein bleiben wollte, und sie wieder keine Wichtigkeit erkennen konnte. Jetzt im Nachhinein betrachtet – sie wiegt den Kopf – wäre es wohl schon wichtig gewesen. „Aber von 1945 bis 1952 – das war auf jeden Fall meine große Zeit.“ Der Satz erheitert sie, vielleicht weil sie ihre „Kindergedichte“ – „so nenne ich alles, was ich bis zu meinem 24. Lebensjahr geschrieben habe“ – nicht so ernst nimmt. Sie hat noch viel anderes geschrieben: Hörspiele, Texte zu Israel, vier ebenso poetische wie präzise Reiseführer über Inseln – „der über Sizilien ist für mich mein genauestes und intelligentestes Buch“ – oder die drei Monologe, die sie Medea, Lilith und Penelope in den Mund legt. Letztere würden gern im Deutschabitur verwendet, sagt sie. Ansonsten stehen ihre Gedichte noch immer in Schulbüchern, weshalb sich manchmal auch Schüler melden. Manche besuchen sie sogar. „Das sind Freuden“, hat sie dann doch das Gefühl, nicht vergessen zu sein
  Ein neues Buch plant sie nicht. „Ich muss nicht unbedingt was Neues machen. So alt wie ich bin.“ Des Lebens überdrüssig ist sie nicht, auch wenn es Dinge gibt, die sie gern nicht hätte, schmerzende Bandscheiben etwa. Hellwach aber hält sie ihre Neugier. „Ich will immer noch wissen, wie es politisch weitergeht, was aus den Flüchtlingen wird. Und wie der Frühling wird.“
Wer wollte, ging in die
Synagoge, andere ließen ihre
Kinder evangelisch taufen
Sie erkrankte an Tuberkulose,
verbrachte sechs Jahre in
Kliniken und zu Hause im Bett
Ungezählte Stammbäume hat Dagmar Nick geschrieben und geklebt, bis sie die Schatten ihrer Ahnen und den Kanon ihrer Stimmen eingefangen hatte und sie ihr neues Buch schreiben konnte. Entstanden ist ein eindrucksvolles Familienpanorama, das von 1550 bis zur Shoah reicht.
Foto: natalie neomi isser 
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Hans-Jürgen Schings lernt bei Dagmar Nick eine weit verzweigte jüdische Familie kennen, eine Geschichte über viereinhalb Jahrhunderte mit Höhepunkten im 18. Jahrhundert, der Zeit des Hofjudentums. Wie liebevoll und stolz und persönlich Nick über Feste, den Hannoverschen Hof, Hofjuden-Klischees und hohe Politik schreibt, über Glaubenstreue und schließlich über den Bankrott der Familie, hat Schings in den Bann gezogen. Großzügig aus Quellen zitierend, gibt die Autorin dem Rezensenten ein sachlich genaues wie aufregendes Bild, mit der NS-Zeit und ihren Ängsten erst ganz am Schluss.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2016

Man kann sich vorstellen, wie ich geschrien habe
Glückel von Hameln und ihre Erben: Dagmar Nick verfolgt die wechselhaften Geschicke ihrer jüdischen Familie

Die Familie, mit der es Dagmar Nick zu tun hat, umfasst gut siebenhundert Personen in viereinhalb Jahrhunderten. Auch auf verwickelten, weitläufigen und miteinander verhakten Stammtafeln kaum zu bändigen, beginnt ihre Geschichte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts mit sephardischen Einwanderern nach Deutschland; ihre Höhepunkte findet sie im achtzehnten Jahrhundert, insbesondere in den Dezennien um 1700, die Zeit der sogenannten Hofjuden; das furchtbare zwanzigste Jahrhundert bildet lediglich eine Art Epilog. Es ist das Netz ihrer jüdischen Familie, das die bekannte Lyrikerin in Liebe und Stolz rekonstruiert.

Bei aller verhalten historiographischen Aufmachung ein sehr persönliches Buch also, eine Schattenbeschwörung in eigener Sache, ein Familienbuch von Heimatlosen, die doch nicht wurzellos sind. Es ist anrührend, wie Dagmar Nick im Laufe ihrer Erkundungen und Entdeckungen erst ein wenig zaghaft, dann aber bestimmt von "unserer" und "meiner" Familie spricht und damit Teil dieser Geschichte wird. Mit leisem Nachdruck leitet diese Partizipation ihre Darstellung.

Es trifft sich gut, dass in dieser Familie Glückel von Hameln auftaucht, auch sie eine Familien-Schriftstellerin, die erste und gleich auch sehr berühmte jüdisch-deutsche Autobiographin. Sie lebt von 1645 bis 1726, fünf Jahrzehnte in Hamburg, zuletzt in Metz und schreibt seit 1691 die Geschichte ihrer Familie auf, ein einzigartiges literarisches und kulturgeschichtliches Dokument. Die wohlhabende Hamburger Jüdin und Kauffrau Glückel von Hameln (der Name stammt vom Herkunftsort ihres Ehemanns), erfolgreich im Handel mit Juwelen und Gold tätig, schenkt zwölf Kindern das Leben - damit ist der Kreis ihrer aus Sorgen geborenen, nächtlichen Schriftstellerei beinahe schon abgesteckt.

Das einzige Interesse, das sie beseelt, gilt der Existenzsicherung der Familie in einer feindseligen Umgebung und der Versorgung der Kinder durch möglichst "prinzipale Partien". Die immer regelmäßig angesteuerten Höhepunkte ihrer Darstellung bilden deshalb Hochzeiten, die selbstverständlich meist Jahre im voraus von den Eltern angebahnt und strategisch geplant werden. "Meine Mutter hatte nun alle ihre Kinder in Reichtum und Ehre und in aller Vergnüglichkeit verheiratet." Besser kann die Summe eines Lebens gar nicht ausfallen. Die Familie habe sich "in beruhigender Weise" erweitert, so sagt es Dagmar Nick.

Auch sie berichtet gern von den großen Festen ihrer Familie, soweit das die Quellen zulassen. Alle sind ständig in Bewegung, aber das Leben "auf vollen Touren" ist nicht Leerlauf, sondern Zeichen des Aufstiegs. Der glänzendste "Goldfisch" auf dem Heiratsmarkt und die bedeutendste Figur, die die Familie dank ihrer Heiratspolitik an sich bindet, ist Leffmann Behrens. Das Buch widmet ihm große Aufmerksamkeit - zu Recht, handelt es sich doch um das Hannoversche Gegenstück zu dem weitaus berühmteren, dämonischeren und unglücklicheren Josef Süß Oppenheimer, der drei Jahrzehnte später in Württemberg aufsteigt und das Bild vom Hofjuden geprägt hat. Auch Leffmann Behrens schafft in kürzester Zeit den Aufstieg zum Hoffaktor am Hannoverschen Hof, zum womöglich engsten Vertrauten des Herzogs Ernst August, agiert als Bankier im größten Stil und im europäischen Format, kennt hohe Gewinne, aber auch hohe Risiken. Seine Geschichte gewährt einen guten Einblick in die heikle Existenz eines Hofjuden und die Klischees, die sich zwangsläufig formieren. Dagmar Nick korrigiert: von "Wucherzinsen" kann normalerweise nicht die Rede sein, und die Münzfälschungen, die man den jüdischen Finanziers in die Schuhe schiebt ("Kipper und Wipper"), gehen durchweg auf Anstiftung ihrer Fürsten zurück. Für die Ausrüstung des Heeres und sämtliche, auch die bizarrsten Luxusartikel des Hofes hat der Hoffaktor zu sorgen und selbstverständlich die Kosten vorzustrecken. Das Finanzwesen des Landes liegt mehr oder weniger in seinen Händen. So stellt Leffmann Behrens Millionen von Talern für das große politische Spiel zur Verfügung, für die Kurfürstenwürde des Hannoverschen Herzogs, für die Königskrone des Preußen Friedrich III. sowie, als Beistand des sächsischen Hofbankiers Behrend Lehmann, für die polnische Krone, die August der Starke erwirbt.

Solchermaßen an der hohen Politik beteiligt, kommt Leffmann Behrens gleichwohl allen Pflichten seines Glaubens und seiner Familie getreulich nach. Erfolgreich interveniert er bei seinem Herzog gegen antijüdische Hetzschriften. Eine herausragende Rolle spielt er als Mitorganisator eines großen und durchaus einzigartigen Religionsdisputs, den Dagmar Nick ausführlich zu Wort kommen lässt. Er findet 1704 zwischen dem Rabbiner Joseph Samson und einem nicht näher bekannten getauften Juden statt, dauert dreieinhalb Stunden und schlägt den anwesenden Hof und ein großes Publikum in seinen Bann. Dagmar Nick verbucht deutliche Punktgewinne für den Rabbiner, dessen Aufzeichnungen das Ereignis detailliert überliefern, einen Prestigezuwachs für Leffmann Behrens und die fortschrittliche Toleranz des Hannoverschen Hofes.

Familiensinn und Glaubenstreue, Wohlstand und Aufstieg ziehen am Leser vorüber - trotz einer repressiven Umwelt, gegen die nur ein beträchtliches Vermögen einigen Schutz bieten kann, geht es der Familie gut. Die Familienkurve zeigt nach oben. So glaubt man jedenfalls, bis nur wenige Jahre nach dem Tod Leffmann Behrens' (1714) eine jähe Katastrophe das mühsam erworbene Renommee vernichtet: die Firma Behrens macht Bankrott. Die beiden Geschäftsinhaber, Isaak und Gumbert, Enkel des Leffmann Behrens, werden bei einem Fluchtversuch schon nach wenigen Kilometern gefangen gesetzt und ins Hannoversche Gefängnis "Clever Tor" verbracht; die Anklage lautet auf betrügerischen Bankrott; der Prozess endet, nach fünf Jahren, mit Freispruch, aber auch Landesverweisung. Die Sachlage ist nicht ganz klar. Man glaubt, dass die beiden mehrere Tonnen Goldes und eine Million Reichstaler in Sicherheit gebracht haben. Da sie kein Geständnis ablegen, wendet man "die scharfe Frage" an, also, in mehreren Stufen, die Folter. Was wir dazu dank der günstigen Quellenlage erfahren, verschlägt einem den Atem. Denn Isaak Behrens hat darüber einen ausführlichen Bericht hinterlassen, dessen Konkretion von erschütternder Kraft ist. Dagmar Nick zitiert große Passagen daraus

Wer weiß schon, was es heißt, krumm oder kreuzweise "geschlossen" zu werden, wie Daumenschrauben, "Sperrhölzer" um den Hals und "spanische Stiefel" funktionieren oder wie man "Feuertropfen" auf einen Rücken träufelt? Hier erfährt man das in allen Einzelheiten, ebenso sachlich wie genau. Zunächst ist es der "Gewaltiger", dann ein von auswärts bestellter Henker, die mit ihren Gehilfen ihr Werk verrichten, im Keller, und es kann zweieinhalb Stunden dauern. Das Objekt der Tortur bleibt lakonisch: "Man kann sich vorstellen, wie ich geschrieen habe."

Aber noch ist die Ära des Hofjudentums, trotz des verheerenden Prozesses die Glanzzeit der Familie, nicht zu Ende. Dagmar Nicks Darstellung begibt sich nach Potsdam, Berlin und Breslau, in die Welt der preußischen Schikanen, denen nur langsam die Freiheiten folgen. So lernen wir die Porzellan-Zwangsabgabe kennen, die Juden zur Abnahme des wenig konkurrenzfähigen preußischen Porzellans zwingt und viele an den Rand des Ruins bringt.

Auch die bürgerlichen Zeiten vermögen die Begabung der Familie nicht zu nivellieren. Sie findet immer neue Wege, etwa in die Welt des Theaters (Adolph L'Arronge), zur sozialen Fürsorge (Lina Morgenstern, auch "Suppenlina" genannt, die ein gutes Dutzend sozialer Vereine und Institutionen gründet) oder in die Wissenschaft (Fritz Stern). Nur auf den allerletzten Seiten ihres Buches lässt Dagmar Nick die Ängste der NS-Zeit wach werden. Dazu reichen schon die Worte, die sich der Sechsjährigen eingeprägt haben: "Abgeholtwerden", "Affidavit", "Hausdurchsuchung". Sie sind in dieser Familiengeschichte nicht so neu, wie sie klingen.

HANS-JÜRGEN SCHINGS

Dagmar Nick:

"Eingefangene Schatten". Mein jüdisches Familienbuch.

Verlag C. H. Beck, München 2015. 268 S., geb., 24,95 [Euro].

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