Eine unheimliche Stimmung grundiert diese Familiensaga, die mit Flüchtlingen beginnt und mit Verfolgten endet: Die Dichterin Dagmar Nick erzählt die wechselvolle Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren in Hamburg, Berlin und Breslau vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Selten zuvor wurde so lebendig nachvollziehbar, was jüdisches Leben in Deutschland über Generationen bedeutete. Sie kamen aus Spanien, arbeiteten sich von Hausierern zu Hoflieferanten hoch, finanzierten als gnädig geduldete Hofjuden mehrere Herrscher, aber ihre Existenz hing immer am seidenen Faden. Ein falscher Verdacht konnte Haft und Folter bedeuten. Dagmar Nick kann für ihre atmosphärisch dichte Erzählung auf erstaunliche Funde in zahlreichen Archiven zurückgreifen, aber auch auf die berühmten Lebenserinnerungen der Glückel von Hameln oder den einzigartigen Erlebnisbericht des Isaak Behrens. Die Große Alte Dame der deutschen Lyrik erweist sich in diesem Buch als begnadete Erzählerin, die souverän mit wenigen Worten den Kern einer Sache trifft, Personen zum Leben erweckt und Spannung erzeugt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hans-Jürgen Schings lernt bei Dagmar Nick eine weit verzweigte jüdische Familie kennen, eine Geschichte über viereinhalb Jahrhunderte mit Höhepunkten im 18. Jahrhundert, der Zeit des Hofjudentums. Wie liebevoll und stolz und persönlich Nick über Feste, den Hannoverschen Hof, Hofjuden-Klischees und hohe Politik schreibt, über Glaubenstreue und schließlich über den Bankrott der Familie, hat Schings in den Bann gezogen. Großzügig aus Quellen zitierend, gibt die Autorin dem Rezensenten ein sachlich genaues wie aufregendes Bild, mit der NS-Zeit und ihren Ängsten erst ganz am Schluss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2016Man kann sich vorstellen, wie ich geschrien habe
Glückel von Hameln und ihre Erben: Dagmar Nick verfolgt die wechselhaften Geschicke ihrer jüdischen Familie
Die Familie, mit der es Dagmar Nick zu tun hat, umfasst gut siebenhundert Personen in viereinhalb Jahrhunderten. Auch auf verwickelten, weitläufigen und miteinander verhakten Stammtafeln kaum zu bändigen, beginnt ihre Geschichte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts mit sephardischen Einwanderern nach Deutschland; ihre Höhepunkte findet sie im achtzehnten Jahrhundert, insbesondere in den Dezennien um 1700, die Zeit der sogenannten Hofjuden; das furchtbare zwanzigste Jahrhundert bildet lediglich eine Art Epilog. Es ist das Netz ihrer jüdischen Familie, das die bekannte Lyrikerin in Liebe und Stolz rekonstruiert.
Bei aller verhalten historiographischen Aufmachung ein sehr persönliches Buch also, eine Schattenbeschwörung in eigener Sache, ein Familienbuch von Heimatlosen, die doch nicht wurzellos sind. Es ist anrührend, wie Dagmar Nick im Laufe ihrer Erkundungen und Entdeckungen erst ein wenig zaghaft, dann aber bestimmt von "unserer" und "meiner" Familie spricht und damit Teil dieser Geschichte wird. Mit leisem Nachdruck leitet diese Partizipation ihre Darstellung.
Es trifft sich gut, dass in dieser Familie Glückel von Hameln auftaucht, auch sie eine Familien-Schriftstellerin, die erste und gleich auch sehr berühmte jüdisch-deutsche Autobiographin. Sie lebt von 1645 bis 1726, fünf Jahrzehnte in Hamburg, zuletzt in Metz und schreibt seit 1691 die Geschichte ihrer Familie auf, ein einzigartiges literarisches und kulturgeschichtliches Dokument. Die wohlhabende Hamburger Jüdin und Kauffrau Glückel von Hameln (der Name stammt vom Herkunftsort ihres Ehemanns), erfolgreich im Handel mit Juwelen und Gold tätig, schenkt zwölf Kindern das Leben - damit ist der Kreis ihrer aus Sorgen geborenen, nächtlichen Schriftstellerei beinahe schon abgesteckt.
Das einzige Interesse, das sie beseelt, gilt der Existenzsicherung der Familie in einer feindseligen Umgebung und der Versorgung der Kinder durch möglichst "prinzipale Partien". Die immer regelmäßig angesteuerten Höhepunkte ihrer Darstellung bilden deshalb Hochzeiten, die selbstverständlich meist Jahre im voraus von den Eltern angebahnt und strategisch geplant werden. "Meine Mutter hatte nun alle ihre Kinder in Reichtum und Ehre und in aller Vergnüglichkeit verheiratet." Besser kann die Summe eines Lebens gar nicht ausfallen. Die Familie habe sich "in beruhigender Weise" erweitert, so sagt es Dagmar Nick.
Auch sie berichtet gern von den großen Festen ihrer Familie, soweit das die Quellen zulassen. Alle sind ständig in Bewegung, aber das Leben "auf vollen Touren" ist nicht Leerlauf, sondern Zeichen des Aufstiegs. Der glänzendste "Goldfisch" auf dem Heiratsmarkt und die bedeutendste Figur, die die Familie dank ihrer Heiratspolitik an sich bindet, ist Leffmann Behrens. Das Buch widmet ihm große Aufmerksamkeit - zu Recht, handelt es sich doch um das Hannoversche Gegenstück zu dem weitaus berühmteren, dämonischeren und unglücklicheren Josef Süß Oppenheimer, der drei Jahrzehnte später in Württemberg aufsteigt und das Bild vom Hofjuden geprägt hat. Auch Leffmann Behrens schafft in kürzester Zeit den Aufstieg zum Hoffaktor am Hannoverschen Hof, zum womöglich engsten Vertrauten des Herzogs Ernst August, agiert als Bankier im größten Stil und im europäischen Format, kennt hohe Gewinne, aber auch hohe Risiken. Seine Geschichte gewährt einen guten Einblick in die heikle Existenz eines Hofjuden und die Klischees, die sich zwangsläufig formieren. Dagmar Nick korrigiert: von "Wucherzinsen" kann normalerweise nicht die Rede sein, und die Münzfälschungen, die man den jüdischen Finanziers in die Schuhe schiebt ("Kipper und Wipper"), gehen durchweg auf Anstiftung ihrer Fürsten zurück. Für die Ausrüstung des Heeres und sämtliche, auch die bizarrsten Luxusartikel des Hofes hat der Hoffaktor zu sorgen und selbstverständlich die Kosten vorzustrecken. Das Finanzwesen des Landes liegt mehr oder weniger in seinen Händen. So stellt Leffmann Behrens Millionen von Talern für das große politische Spiel zur Verfügung, für die Kurfürstenwürde des Hannoverschen Herzogs, für die Königskrone des Preußen Friedrich III. sowie, als Beistand des sächsischen Hofbankiers Behrend Lehmann, für die polnische Krone, die August der Starke erwirbt.
Solchermaßen an der hohen Politik beteiligt, kommt Leffmann Behrens gleichwohl allen Pflichten seines Glaubens und seiner Familie getreulich nach. Erfolgreich interveniert er bei seinem Herzog gegen antijüdische Hetzschriften. Eine herausragende Rolle spielt er als Mitorganisator eines großen und durchaus einzigartigen Religionsdisputs, den Dagmar Nick ausführlich zu Wort kommen lässt. Er findet 1704 zwischen dem Rabbiner Joseph Samson und einem nicht näher bekannten getauften Juden statt, dauert dreieinhalb Stunden und schlägt den anwesenden Hof und ein großes Publikum in seinen Bann. Dagmar Nick verbucht deutliche Punktgewinne für den Rabbiner, dessen Aufzeichnungen das Ereignis detailliert überliefern, einen Prestigezuwachs für Leffmann Behrens und die fortschrittliche Toleranz des Hannoverschen Hofes.
Familiensinn und Glaubenstreue, Wohlstand und Aufstieg ziehen am Leser vorüber - trotz einer repressiven Umwelt, gegen die nur ein beträchtliches Vermögen einigen Schutz bieten kann, geht es der Familie gut. Die Familienkurve zeigt nach oben. So glaubt man jedenfalls, bis nur wenige Jahre nach dem Tod Leffmann Behrens' (1714) eine jähe Katastrophe das mühsam erworbene Renommee vernichtet: die Firma Behrens macht Bankrott. Die beiden Geschäftsinhaber, Isaak und Gumbert, Enkel des Leffmann Behrens, werden bei einem Fluchtversuch schon nach wenigen Kilometern gefangen gesetzt und ins Hannoversche Gefängnis "Clever Tor" verbracht; die Anklage lautet auf betrügerischen Bankrott; der Prozess endet, nach fünf Jahren, mit Freispruch, aber auch Landesverweisung. Die Sachlage ist nicht ganz klar. Man glaubt, dass die beiden mehrere Tonnen Goldes und eine Million Reichstaler in Sicherheit gebracht haben. Da sie kein Geständnis ablegen, wendet man "die scharfe Frage" an, also, in mehreren Stufen, die Folter. Was wir dazu dank der günstigen Quellenlage erfahren, verschlägt einem den Atem. Denn Isaak Behrens hat darüber einen ausführlichen Bericht hinterlassen, dessen Konkretion von erschütternder Kraft ist. Dagmar Nick zitiert große Passagen daraus
Wer weiß schon, was es heißt, krumm oder kreuzweise "geschlossen" zu werden, wie Daumenschrauben, "Sperrhölzer" um den Hals und "spanische Stiefel" funktionieren oder wie man "Feuertropfen" auf einen Rücken träufelt? Hier erfährt man das in allen Einzelheiten, ebenso sachlich wie genau. Zunächst ist es der "Gewaltiger", dann ein von auswärts bestellter Henker, die mit ihren Gehilfen ihr Werk verrichten, im Keller, und es kann zweieinhalb Stunden dauern. Das Objekt der Tortur bleibt lakonisch: "Man kann sich vorstellen, wie ich geschrieen habe."
Aber noch ist die Ära des Hofjudentums, trotz des verheerenden Prozesses die Glanzzeit der Familie, nicht zu Ende. Dagmar Nicks Darstellung begibt sich nach Potsdam, Berlin und Breslau, in die Welt der preußischen Schikanen, denen nur langsam die Freiheiten folgen. So lernen wir die Porzellan-Zwangsabgabe kennen, die Juden zur Abnahme des wenig konkurrenzfähigen preußischen Porzellans zwingt und viele an den Rand des Ruins bringt.
Auch die bürgerlichen Zeiten vermögen die Begabung der Familie nicht zu nivellieren. Sie findet immer neue Wege, etwa in die Welt des Theaters (Adolph L'Arronge), zur sozialen Fürsorge (Lina Morgenstern, auch "Suppenlina" genannt, die ein gutes Dutzend sozialer Vereine und Institutionen gründet) oder in die Wissenschaft (Fritz Stern). Nur auf den allerletzten Seiten ihres Buches lässt Dagmar Nick die Ängste der NS-Zeit wach werden. Dazu reichen schon die Worte, die sich der Sechsjährigen eingeprägt haben: "Abgeholtwerden", "Affidavit", "Hausdurchsuchung". Sie sind in dieser Familiengeschichte nicht so neu, wie sie klingen.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Dagmar Nick:
"Eingefangene Schatten". Mein jüdisches Familienbuch.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 268 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glückel von Hameln und ihre Erben: Dagmar Nick verfolgt die wechselhaften Geschicke ihrer jüdischen Familie
Die Familie, mit der es Dagmar Nick zu tun hat, umfasst gut siebenhundert Personen in viereinhalb Jahrhunderten. Auch auf verwickelten, weitläufigen und miteinander verhakten Stammtafeln kaum zu bändigen, beginnt ihre Geschichte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts mit sephardischen Einwanderern nach Deutschland; ihre Höhepunkte findet sie im achtzehnten Jahrhundert, insbesondere in den Dezennien um 1700, die Zeit der sogenannten Hofjuden; das furchtbare zwanzigste Jahrhundert bildet lediglich eine Art Epilog. Es ist das Netz ihrer jüdischen Familie, das die bekannte Lyrikerin in Liebe und Stolz rekonstruiert.
Bei aller verhalten historiographischen Aufmachung ein sehr persönliches Buch also, eine Schattenbeschwörung in eigener Sache, ein Familienbuch von Heimatlosen, die doch nicht wurzellos sind. Es ist anrührend, wie Dagmar Nick im Laufe ihrer Erkundungen und Entdeckungen erst ein wenig zaghaft, dann aber bestimmt von "unserer" und "meiner" Familie spricht und damit Teil dieser Geschichte wird. Mit leisem Nachdruck leitet diese Partizipation ihre Darstellung.
Es trifft sich gut, dass in dieser Familie Glückel von Hameln auftaucht, auch sie eine Familien-Schriftstellerin, die erste und gleich auch sehr berühmte jüdisch-deutsche Autobiographin. Sie lebt von 1645 bis 1726, fünf Jahrzehnte in Hamburg, zuletzt in Metz und schreibt seit 1691 die Geschichte ihrer Familie auf, ein einzigartiges literarisches und kulturgeschichtliches Dokument. Die wohlhabende Hamburger Jüdin und Kauffrau Glückel von Hameln (der Name stammt vom Herkunftsort ihres Ehemanns), erfolgreich im Handel mit Juwelen und Gold tätig, schenkt zwölf Kindern das Leben - damit ist der Kreis ihrer aus Sorgen geborenen, nächtlichen Schriftstellerei beinahe schon abgesteckt.
Das einzige Interesse, das sie beseelt, gilt der Existenzsicherung der Familie in einer feindseligen Umgebung und der Versorgung der Kinder durch möglichst "prinzipale Partien". Die immer regelmäßig angesteuerten Höhepunkte ihrer Darstellung bilden deshalb Hochzeiten, die selbstverständlich meist Jahre im voraus von den Eltern angebahnt und strategisch geplant werden. "Meine Mutter hatte nun alle ihre Kinder in Reichtum und Ehre und in aller Vergnüglichkeit verheiratet." Besser kann die Summe eines Lebens gar nicht ausfallen. Die Familie habe sich "in beruhigender Weise" erweitert, so sagt es Dagmar Nick.
Auch sie berichtet gern von den großen Festen ihrer Familie, soweit das die Quellen zulassen. Alle sind ständig in Bewegung, aber das Leben "auf vollen Touren" ist nicht Leerlauf, sondern Zeichen des Aufstiegs. Der glänzendste "Goldfisch" auf dem Heiratsmarkt und die bedeutendste Figur, die die Familie dank ihrer Heiratspolitik an sich bindet, ist Leffmann Behrens. Das Buch widmet ihm große Aufmerksamkeit - zu Recht, handelt es sich doch um das Hannoversche Gegenstück zu dem weitaus berühmteren, dämonischeren und unglücklicheren Josef Süß Oppenheimer, der drei Jahrzehnte später in Württemberg aufsteigt und das Bild vom Hofjuden geprägt hat. Auch Leffmann Behrens schafft in kürzester Zeit den Aufstieg zum Hoffaktor am Hannoverschen Hof, zum womöglich engsten Vertrauten des Herzogs Ernst August, agiert als Bankier im größten Stil und im europäischen Format, kennt hohe Gewinne, aber auch hohe Risiken. Seine Geschichte gewährt einen guten Einblick in die heikle Existenz eines Hofjuden und die Klischees, die sich zwangsläufig formieren. Dagmar Nick korrigiert: von "Wucherzinsen" kann normalerweise nicht die Rede sein, und die Münzfälschungen, die man den jüdischen Finanziers in die Schuhe schiebt ("Kipper und Wipper"), gehen durchweg auf Anstiftung ihrer Fürsten zurück. Für die Ausrüstung des Heeres und sämtliche, auch die bizarrsten Luxusartikel des Hofes hat der Hoffaktor zu sorgen und selbstverständlich die Kosten vorzustrecken. Das Finanzwesen des Landes liegt mehr oder weniger in seinen Händen. So stellt Leffmann Behrens Millionen von Talern für das große politische Spiel zur Verfügung, für die Kurfürstenwürde des Hannoverschen Herzogs, für die Königskrone des Preußen Friedrich III. sowie, als Beistand des sächsischen Hofbankiers Behrend Lehmann, für die polnische Krone, die August der Starke erwirbt.
Solchermaßen an der hohen Politik beteiligt, kommt Leffmann Behrens gleichwohl allen Pflichten seines Glaubens und seiner Familie getreulich nach. Erfolgreich interveniert er bei seinem Herzog gegen antijüdische Hetzschriften. Eine herausragende Rolle spielt er als Mitorganisator eines großen und durchaus einzigartigen Religionsdisputs, den Dagmar Nick ausführlich zu Wort kommen lässt. Er findet 1704 zwischen dem Rabbiner Joseph Samson und einem nicht näher bekannten getauften Juden statt, dauert dreieinhalb Stunden und schlägt den anwesenden Hof und ein großes Publikum in seinen Bann. Dagmar Nick verbucht deutliche Punktgewinne für den Rabbiner, dessen Aufzeichnungen das Ereignis detailliert überliefern, einen Prestigezuwachs für Leffmann Behrens und die fortschrittliche Toleranz des Hannoverschen Hofes.
Familiensinn und Glaubenstreue, Wohlstand und Aufstieg ziehen am Leser vorüber - trotz einer repressiven Umwelt, gegen die nur ein beträchtliches Vermögen einigen Schutz bieten kann, geht es der Familie gut. Die Familienkurve zeigt nach oben. So glaubt man jedenfalls, bis nur wenige Jahre nach dem Tod Leffmann Behrens' (1714) eine jähe Katastrophe das mühsam erworbene Renommee vernichtet: die Firma Behrens macht Bankrott. Die beiden Geschäftsinhaber, Isaak und Gumbert, Enkel des Leffmann Behrens, werden bei einem Fluchtversuch schon nach wenigen Kilometern gefangen gesetzt und ins Hannoversche Gefängnis "Clever Tor" verbracht; die Anklage lautet auf betrügerischen Bankrott; der Prozess endet, nach fünf Jahren, mit Freispruch, aber auch Landesverweisung. Die Sachlage ist nicht ganz klar. Man glaubt, dass die beiden mehrere Tonnen Goldes und eine Million Reichstaler in Sicherheit gebracht haben. Da sie kein Geständnis ablegen, wendet man "die scharfe Frage" an, also, in mehreren Stufen, die Folter. Was wir dazu dank der günstigen Quellenlage erfahren, verschlägt einem den Atem. Denn Isaak Behrens hat darüber einen ausführlichen Bericht hinterlassen, dessen Konkretion von erschütternder Kraft ist. Dagmar Nick zitiert große Passagen daraus
Wer weiß schon, was es heißt, krumm oder kreuzweise "geschlossen" zu werden, wie Daumenschrauben, "Sperrhölzer" um den Hals und "spanische Stiefel" funktionieren oder wie man "Feuertropfen" auf einen Rücken träufelt? Hier erfährt man das in allen Einzelheiten, ebenso sachlich wie genau. Zunächst ist es der "Gewaltiger", dann ein von auswärts bestellter Henker, die mit ihren Gehilfen ihr Werk verrichten, im Keller, und es kann zweieinhalb Stunden dauern. Das Objekt der Tortur bleibt lakonisch: "Man kann sich vorstellen, wie ich geschrieen habe."
Aber noch ist die Ära des Hofjudentums, trotz des verheerenden Prozesses die Glanzzeit der Familie, nicht zu Ende. Dagmar Nicks Darstellung begibt sich nach Potsdam, Berlin und Breslau, in die Welt der preußischen Schikanen, denen nur langsam die Freiheiten folgen. So lernen wir die Porzellan-Zwangsabgabe kennen, die Juden zur Abnahme des wenig konkurrenzfähigen preußischen Porzellans zwingt und viele an den Rand des Ruins bringt.
Auch die bürgerlichen Zeiten vermögen die Begabung der Familie nicht zu nivellieren. Sie findet immer neue Wege, etwa in die Welt des Theaters (Adolph L'Arronge), zur sozialen Fürsorge (Lina Morgenstern, auch "Suppenlina" genannt, die ein gutes Dutzend sozialer Vereine und Institutionen gründet) oder in die Wissenschaft (Fritz Stern). Nur auf den allerletzten Seiten ihres Buches lässt Dagmar Nick die Ängste der NS-Zeit wach werden. Dazu reichen schon die Worte, die sich der Sechsjährigen eingeprägt haben: "Abgeholtwerden", "Affidavit", "Hausdurchsuchung". Sie sind in dieser Familiengeschichte nicht so neu, wie sie klingen.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Dagmar Nick:
"Eingefangene Schatten". Mein jüdisches Familienbuch.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 268 S., geb., 24,95 [Euro].
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