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Eine Geschichte des Jahrzehnts nach der Wiedervereinigung Deutschlands - mit Luft nach oben
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den 1990er-Jahren hat seit einiger Zeit in der Geschichtswissenschaft Konjunktur. Nach gut drei Jahrzehnten sucht man in der Historie des Dezenniums vor der Jahrtausendwende vor allem nach Erklärungen auf die drängenden Fragen der Gegenwart, etwa nach den Ursachen für die wachsende gesellschaftliche Spaltung und für den andauernden Erfolg der Rechtspopulisten im Osten Deutschlands. Nachdem sich die historische Forschung lange auf die friedliche Revolution in der DDR und auf ihre Vorgeschichte fokussiert hatte, widmete sie sich danach mehr und mehr der sogenannten Transformation im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung, insbesondere den sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen.
Mit dem Titel "Einheit und Transformation" fasst der Titel des von Detlev Brunner verfassten Bandes folgerichtig die beiden wichtigsten Schlagworte der 1990er-Jahre zusammen. Der Historiker Brunner, westdeutsch sozialisiert und seit 1998 in Rostock, Berlin und Leipzig tätig, legt den Schwerpunkt seiner Darstellung auf die wirtschaftliche Transformation im Osten und auf ihre Folgen, die sich auch in einer Ko-Transformation im Westen bemerkbar gemacht haben. Am ausführlichsten widmet er sich dabei der Rolle der Treuhandanstalt, dem umfangreichsten Kapitel seiner Darstellung, deren Arbeit und Wirken er eine "zwiespältige Bilanz" attestiert. Brunner erinnert mit treffenden zeitgenössischen Zitaten daran, dass nicht etwa nur Helmut Kohl "blühende Landschaften" im Osten erwartete, sondern sich Politikerinnen und Politiker von SPD und FDP seinerzeit ähnlich optimistisch äußerten.
Bei der Lektüre des Bandes kristallisiert sich jenseits der bekannten Zäsuren 1989 und 1990 gerade das Jahr 1993 als Schlüsseljahr für Entwicklungen heraus, die uns noch heute beschäftigen: die Modifizierung von Grundgesetzartikel 16 im sogenannten Asylkompromiss, ein weiteres Ansteigen rechtsextremistischer Gewalt mit dem Brandanschlag von Solingen im Mai mit fünf Todesopfern als traurigem Tiefpunkt, neue Höchststände bei der Arbeitslosigkeit nicht nur im Osten, die bis dahin schwerste Rezession der Nachkriegszeit mit einem Konjunktureinbruch im Westen Deutschlands nach einem nur kurzzeitigen "Vereinigungsboom" in den Vorjahren, die Teilnahme der Bundeswehr an der bewaffneten UN-Mission im Bürgerkriegsland Somalia und an den AWACS-Aufklärungsflügen im Bosnienkrieg zur Durchsetzung einer von den UN beschlossenen und von der NATO durchgesetzten Flugverbotszone.
Vor dem Hintergrund der laufenden Debatten um die Rolle Deutschlands im Ukrainekrieg sind gerade diese Passagen interessant zu lesen, die sich mit dem Ringen des wiedervereinten Deutschlands um seine außen- und sicherheitspolitische Verantwortung in der Welt befassen. Schon wenige Monate nach der Wiedervereinigung stand der NATO-Partner Deutschland vor der Herausforderung, sich zum Krieg seines transatlantischen Verbündeten USA gegen den Irak zu positionieren. Brunner zitiert aus Helmut Kohls Erinnerungen das bis lange Zeit geltende Außenpolitikprinzip des Langzeitkanzlers, "dass wir uns mit einer horrenden Summe an Geld und Kriegsgerät ,freikauften'".
Neben den politischen und wirtschaftlichen Schwerpunkten spielen kulturelle Entwicklungen in Brunners Darstellung leider nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden im letzten Kapitel eher kurz abgehandelt. Dabei wäre es interessant gewesen, der Frage nachzugehen, was die Bestseller der 1990er-Jahre, etwa Schlinks "Vorleser", Brussigs "Helden wie wir", Reich-Ranickis "Mein Leben" oder auch Elke Heidenreichs "Nero Corleone" wohl über die damalige Verfasstheit der deutschen Gesellschaft aussagen können. Ein anderer Bestseller, Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker", hätte wenigstens an anderer Stelle, genauer in dem dreiseitigen mit der Frage "Eine ,normale' Nation?" überschriebenen Abschnitt zu den Debatten um den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1990ern, genannt werden müssen.
Zu oft und zu unkritisch zieht der Autor zudem Ergebnisse von Umfragen heran, um Entwicklungen aller Art zu belegen, sodass die Lektüre vor lauter nach Ost und West aufgeschlüsselten Prozentzahlen manchmal recht ermüdend ist. Dabei ist längst bekannt, dass Umfragen die Phänomene erst erzeugen können, nach denen sie vermeintlich objektiv fragen, und dass die Demoskopie eben nicht gänzlich unabhängig etwas ermittelt, sondern sowohl politischen wie wirtschaftlichen Interessen folgt. Interessanter wäre es also gewesen, der wachsenden Bedeutung von Umfragen für die politischen Entscheidungsträger in den 1990er-Jahren selbst in einem Abschnitt nachzugehen.
Es ist etwas unglücklich, die geplante siebenbändige Reihe "Geteilte Geschichte. Deutschland 1945-2000", von der derzeit drei weitere Bände angekündigt sind, ausgerechnet mit dem vorliegenden Abschlussband zu beginnen, der nach eigener Aussage "die einzelnen Teilergebnisse" der anderen Bände "zu einer Bilanz des ersten Jahrzehnts nach der Wiedervereinigung" zusammenführen möchte. Der Verlag verspricht zum für einen broschierten Band von gut 200 Seiten mit nur einer Handvoll Schwarz-Weiß-Fotos doch stolzen Preis von 30 Euro einen "gleichermaßen detailreichen wie pointierten Überblick". Eingelöst wird aber in der durchweg soliden, den Forschungsstand gut zusammenfassenden Darstellung jedoch nur das erste Versprechen. RENÉ SCHLOTT
Detlev Brunner: Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022. 213 S., 30,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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