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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Antoine Volodine lädt ins Paralleluniversum
Muss Literatur eigentlich verständlich sein? Oder sind es gerade ungelöste Geheimnisse und Widersprüche, die sie lesenswert machen? Wer sich bei der Beantwortung dieser Fragen unsicher ist, hat einen Grund mehr, den französischen Autor Antoine Volodine zu lesen. Volodine, dessen realer Name Jean Desvignes lautet, trat in den Achtzigerjahren zunächst mit Science-Fiction-Romanen hervor und wurde für seine politischen Dystopien, grauenerregenden Apokalypsen und Albtraumwelten preisgekrönt. Weil er sich einer literarischen Einordnung entziehen wollte, postulierte Volodine dann unter verschiedenen Pseudonymen den "post-exotisme", ein Phantasie-Genre ganz nach eigenem Zuschnitt und mit überwältigender programmatischer Unschärfe, abgesehen von einem einzigen klar formulierten Ziel, nämlich der Verunsicherung des Lesepublikums.
Dass es immerhin möglich ist, über 300 Buchseiten einen Spannungsbogen zu konstruieren, ohne eine nachvollziehbare Geschichte zu erzählen, beweist Volodine mit seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden Roman "Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher". Es ist das dritte von weit über 40 veröffentlichten Werken des Autors, das der Übersetzer und bekennende Volodine-Adept Holger Fock übertragen hat. Die Rahmenhandlung dieses literarischen Verwirrspiels scheint zunächst griffig. Eine deutsche Terroristin namens Ingrid Vogel und ein Zielfahnder des BKA, Kurt Wellenkind, treffen sich als Liebespaar in Lissabon, wo der Beamte der Staatsfeindin mit neuer Identität zur Flucht nach Südostasien verhelfen will. Wäre da nur nicht Vogels Romanprojekt, mit dem sie "einprügeln" will auf die "Sklaven in den steifen Anzügen, die von Amerika aufgerüsteten Bosse und die Sozialverräter". Der BKA-Mann, den sie zärtlich auch "meine Dogge" nennt, befürchtet, dass Entschlüsselungsspezialisten Vogels Roman dechiffrieren und die Autorin und ihn selbst als ihren konspirativen Gespielen aus den eigenen Reihen enttarnen könnten.
Die kryptischen Textfragmente der Ex-Terroristin, die sogar in den Augen ihres Geliebten unzurechnungsfähig ist und Wahn und Wirklichkeit vermischt, werden in Volodines Roman ausführlich zitiert und kommentiert. Schon bald erweist sich die Furcht des BKA-Beamten vor der Enttarnung dabei als völlig unbegründet. Denn auch die modernste Hochleistungs-KI dürfte damit überfordert sein, aus verfremdeten Namen und losen Allegorien auf das Terrornetzwerk einen linearen Sinnzusammenhang oder gar belastbare Verweise auf reale Vorgänge zu konstruieren. Einer der Handlungsstränge erzählt etwa von einer ominösen "Renaissance" nach dem "Schwarzen Krieg", als die "Bienenstöcke" die Macht übernommen und das Gedächtnis der Menschen gefälscht haben. Im "2. Jahrhundert" beginnen rebellierende Autorenkollektive dann, in neuen ästhetischen Formen abweichende Versionen der Vergangenheit zu erzählen, wofür sie von den Schergen der Bienenstockdiktatur verfolgt und bestialisch hingerichtet werden.
Das lässt sich als Kritik an der Erinnerungspolitik nach der nazistischen Barbarei, als Verweis auf den Terror der RAF und die Reaktion des Rechtsstaats lesen. Oder ist es die kommentierte Anthologie einer fiktiven literarischen Gattung in einer Phantasiewelt? Vielleicht geht es aber auch um den Kampf gegen die altbekannten Erzählschemata der "Mülleimer-Literatur" der Gedächtnisfälscher. Spekulationen über Aussagen und Inhalte sind angesichts dieser genüsslichen Dekonstruktion fehl am Platz, denn wer sich einmal auf Volodines wundersames Universum eingelassen hat, übergeht die Sinnfrage und ergibt sich stattdessen seinem atmosphärischen Sog. "Mal sehen, wie meine Dogge diesen Intelligenztest besteht", kokettiert die schreibende Terroristin einmal selbstironisch gegenüber ihrem Geliebten vom BKA, so als ahne sie selbst, dass ihr Roman rational nicht nachvollziehbar ist.
Volodine generiert keine Antworten, aber viele Fragen. Auch diejenige, wieso man ein Buch lesen sollte, dessen Ziel es ist, zu verwirren, und das deutschen Verlagen deswegen lange als unlesbar und unverkäuflich galt, wie Holger Fock in seinem Nachwort schreibt. Hier fällt die Antwort leicht: Weil es mit enormer poetischer Kraft kreative Assoziationen, logische Kombinatorik, frei schwebende Phantasie und einen kindlichen Spieltrieb herausfordert. Volodine lädt ein zum Spiel mit dem menschlichen Geist, der auch dort Verbindungen, Strukturen und Inhalte zu konstruieren sucht, wo (vielleicht) keine sind. Und liefert dabei einen Beweis für die subversive Kraft literarischer Fiktion. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Antoine Volodine: "Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock. Edition Converso, Karlsruhe 2023. 301 S., geb., 25,- Euro.
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