Wir befinden uns an einem Ort am Rande der Zivilisation. Endzeitstimmung macht sich breit in dem ehemaligen Kohlegebiet. Erzählt wird von einem "unwirtlichen Bezirk", wo die jungen Geschwister Margarete und Fritzi ihre Sommertage totschlagen.
Während die eine in dem Zimmer über der Polizeidienststelle ihre Zeit mit dem lethargischen Wälzen von Enzyklopädien und Büchern über Inseln im Atlantik verbringt, durchmisst die andere täglich erneut das kahle Land. Man wandelt zwischen Schlafen und Warten. Und gäbe es da nicht noch die zumeist rauchenden Polizisten Schroeder, Dünckel und Hell, die höhnisch das Treiben der letzten beiden Jugendlichen beargwöhnen, wäre man im Nichts begraben. Luft und Handlung stehen still. Mit
einem Niemandsland haben wir’s zu tun, in dem man "jeden Zusammenhang verloren" hat. Doch gab es jemals ein Davor? Und gibt es überhaupt noch Hoffnung für diesen merkwürdigen Ort am Ende der Welt?
Dorothee Elmigers jungmeisterlich komponierter Debütroman "Einladung an die Waghalsigen", für den sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb prompt mit dem zweiten Platz, dem Kelag-Preis, ausgezeichnet wurde, formuliert wichtige Fragen in einem Raum, der eigentlich kaum Sprache zulässt. Worte dudeln hier nur immer aus dem Radio. Es sind Verkehrsmeldungen aus der Ferne.
Lebensmüde ziehen die Geschwister Stein, denen nur noch der Vater, Leiter dieser sinnlosen Polizeidienststelle im Nirgendwo, geblieben ist, durch eine "savannegelbe" Mondlandschaft. Mit Rucksack, Sporttasche und viel Kaffee folgen sie der vagen Spur nach "Immergrün". Sie suchen nach Antworten, fragen nach dem Woher und dem Warum, begehen die einsamen Wege, die ihnen die Fördergerüste weisen. "Und die Tage und Stunden zogen an mir vorüber, in einem unerhörten Gleichmaß", notiert Margarete, bis sie das verheißungsvolle Ziel auf einer historischen Landkarte entdeckt. Ein Keim von Utopie schimmert in der Tristesse.
Sein Name: Buenaventura - magisches Irgendwo, der Fluss ins heilige Land. Dass seine Existenz umstritten ist, scheint Margarete egal zu sein. Auf fast surrealen Pfaden lässt die 1985 in Appenzell geborene Dorothee Elmiger in erfrischender Bildlichkeit ihre beiden Mädchen skurrile Gestalten antreffen. Da sind der verschlafene Tankwart Ernst Thal aus Hasseldorf oder die vereinsamte Elisabeth Korn, deren dunkle Vorhänge die Außenwelt verbannen. Denn auch hier ist man müde. Die Hinweise, welche die Geschwister erhaschen, bleiben stets vage.
Dabei geht es für Dorothee Elmigers Figuren um viel: So steht am Ende nicht allein der Traum von einer neuen Welt, die jenseits einer in faden Brauntönen eingehüllten Wintersteppe liegen könnte. Vielmehr entpuppt sich der hochartifizielle Text als ein Sammelsurium feinster, existenzieller Untergrundtöne: Wer die mutige Reise nach Buenaventura unternimmt, fragt vor allem nach der eigenen Herkunft. Bemerkenswert, dass "Die Schwester Buenaventura Duruttis denselben Namen wie die Mutter trug". Aber "wo sind die Mütter?" - Sie sind fort, das Gestern scheint verschollen. Jedoch um eine Zukunft zu finden, muss die Vergangenheit erst ausgegraben werden, unter all dem von Menschen verursachten Kohleschutt. Karten müssen neu studiert, die Trümmer übergangen und die Langeweile endlich beendet werden.
Und während die Protagonistinnen hellhörig in den Versatzstücken von Gesprächen wühlen, streut Dorothee Elmiger Zitate von Robert Walser, Ferdinand Bruckner bis zurück zu Goethe als geheimnisvolle Spuren in den Erzählstrang. Kunst wird so zum Zitat. Die Vollkommenheit, die gänzliche Neuschöpfung von Sprachwelten ist jenseits gesetzter Wiederholungen in dieser entfremdeten Szenerie kaum möglich: So drehen sich auch die beiden "Deserteure" lange im Kreis. Immer wieder stellen sie die Frage nach dem mythischen Sehnsuchtsfluss, der Mutter und dem Quell, der Erlösung verspricht. Redundant wird "Einladung an die Waghalsigen" Roman aber dadurch keineswegs. Vielmehr ist die Handlung spiralenförmig. Vom erstickenden Null-Punkt windet sie sich empor zur Erfüllung, sobald Margarete und Fritzi die "Demarkationslinie" überschreiten. Beide werden unruhig, da niemand weiß, was dahinter sein wird.
Was noch pessimistisch beginnt, wird zuletzt zum verwirklichten Traum. Denn das Rinnsal Buenaventuras, das verlorene Paradies, ist gefunden. Die Revolution der Jugend, im Roman sinnbildlich mit Rosa Luxemburg und Friedrich Engels verbunden, siegt mit dem "Lied von den Hämmern" und dem Pflanzen von Orchideen. Indem Margarete und Fritzi die ihnen vorgefundene Restwelt neu gestalten, säen sie den Samen einer Zukunft, in der "mehrere junge Waghalsige" sogar auf einem Fluss nach China fahren könnten.
Bezaubernd, sensibel und lakonisch erhebt Dorothee Elmiger, ohne je in Dogmatik zu verfallen, den brisanten Anspruch der jungen Generation auf ein angemessenes Erbe der Welt und die Zuversicht, diese mit poetischer Waghalsigkeit neu entwerfen zu können. Nur selten klingt der inzwischen platte Ruf nach Generationengerechtigkeit so wahrhaftig, wie in Dorothee Elmigers parabelhafter Prosa. Obwohl die inzwischen in Berlin lebende Schweizer Schriftstellerin durchaus provokativ die Frage stellt, welche Verantwortung die Eltern für die Welt ihrer Kinder und Kindeskinder wahrnehmen müssen, lässt sie ihre Schwestern an keiner Stelle nörgeln oder gar herumzicken. Statt überholter Parolen entwickeln sie "Pläne, um Abhilfe zu verschaffen a.) unserm kümmerlichen Dasein und b.) diesem verkümmerten Abschnitt Land". Mit Buenaventura kommt auch der Sommer zurück und mit ihm im Gefolge eine ungekannte Brise von Sprache und Erwachen. Und die Lebensmüdigkeit? - Die ist dahin, versickert im Schluckloch, wo so lange der Friedhof der Wörter war. Die Sprache wird zurückerobert. Margarete und Fritzi sind so bewundernswert waghalsig, dass sie der Sprache neues Leben geben.
Dorothee Elmigers Roman ist ein schillernd-visionäres Befreiungsbuch, das verdichtet und verklärt, verwandelt und verzaubert.
Einladung an die Waghalsigen.
Von Björn Hayer