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Weltpolitik wird auch in Pullach gemacht: Oliver Bottinis Spionagethriller "Einmal noch sterben"
Beinahe fünf Jahre sind vergangen, seit Ende 2017 Oliver Bottinis letzter Krimi "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" erschienen ist (F.A.Z. vom 8. Januar 2019). Nun legt er mit einem Roman nach, der den elegischen Titel "Einmal noch sterben" trägt und von den Verwicklungen des Bundesnachrichtendienstes (BND) in den Irakkrieg 2003 erzählt.
War es beim Vorgänger um Landraub im Rumänien der Gegenwart gegangen, bemächtigt sich der 1965 geborene, in Frankfurt am Main lebende Autor nun eines zeitgeschichtlichen Themas, siedelt es zwischen Fakten und Fiktion an. Zuletzt hatte sich Merle Kröger mit "Die Experten" einer historischen Folie - ehemalige Nazis im Dienst der ägyptischen Rüstung - erfolgreich bedient (F.A.Z. vom 1. März 2021). Jüngere Zeitgeschichte scheint angesagt zu sein.
Februar 2003, Bagdad, Amman, Berlin, Pullach, Schäftlarn und weitere Tatorte. Mehr als vierzig Figuren, hauptsächlich aus der Welt der Geheimdienste, Frontkämpfer wie Schreibtischtäter. Erstere haben schon zu viele Kriege erlebt, Letztere haben karrieremäßig noch etwas vor, aber das Terrain ist riskant. Spy versus spy: Pullacher gegen Berliner, BND gegen BKA, Kanzleramt und Geheimdienstkoordinator gegen beide, Amerikaner gegen Saddam, Iraqi Intelligence Service gegen den Rest der Welt und immer so weiter in Graustufen, zumeist überwiegt Dunkelgrau.
Im Zentrum der Handlung dieser "einfachen Geschichte", wie Bottini sie nennt, steht der BND-Präzisionsschütze Frank Jaromin, vormals Gebirgsjäger, seit zehn Jahren beim Auslandsgeheimdienst. Traumatisiert durch den frühen Verlust der Mutter und einen tyrannischen Vater, ist er unfähig, ein Zivilleben als Familienvater in Schäftlarn bei München zu führen. Was er tut, wenn er zur Arbeit geht, weiß die Familie nicht, darf es nicht wissen. So wird er über die Jahre zur Leerstelle. Die Frau hat einen Geliebten, sein Sohn lehnt ihn ab, nur die Tochter hängt wie ein Kätzchen am Vater.
In der Kirche St. Georg, markant auf einem Endmoränenhügel gelegen, trifft sich Jaromin mit seinem Gruppenleiter Bengt Koeppen zu Einsatzbesprechungen. Dort steht die Figur des Drachentöters, mit der er Zwiesprache hielt, als er mit dem Vater die Mutter betrauerte. Und der heilige Georg gab ihm Leitsätze mit wie: "Man muss seine Schuld tragen. Man muss das Schlechte in sich bekämpfen. Sich für das Gute opfern." Mit diesen Sätzen marschiert Jaromin bis weit über seine Schmerzgrenze hinaus.
Der Rahmen ist gesetzt. Die USA und das Vereinigte Königreich wollen Saddam Hussein beseitigen. Der deutsche Kanzler Schröder lehnt diesen Angriffskrieg ab. Die Datengrundlage ist wackelig: Ein Asylbewerber liefert dem BND Material über chemische Massenvernichtungswaffen (das sich später als erfunden herausstellen wird). Der BND warnt die USA, den Angaben Curveballs, so nennt ihn die CIA, zu trauen. Aber sie genügen Präsident Bush, eine "Koalition der Willigen" zu formen und den Krieg vom Zaun zu brechen. Der BND glaubt eine Dissidentin aufgetan zu haben, die Curveball als Lügner enttarnen könnte.
Ausgerechnet diese Frau erschießt Jaromin bei der Übergabe der Dokumente in Bagdad. Er tut es, weil ihn ein live zugeschalteter amerikanischer Satelliten-Überwacher vor einem Hinterhalt warnt - die Frau sei die Selbstmordattentäterin einer irakischen Eliteeinheit.
Der tödliche Schuss bringt nicht nur Jaromin in Lebensgefahr, weil er fortan als Verräter in den eigenen Reihen gilt. Der Mitschnitt, der seine Tat dokumentiert, ist manipuliert, aber das kann Jaromin erst beweisen, als es keine Rettung mehr gibt. Er weiß, dass er verraten wurde, aber nicht, von wem. Und er hat keine Vorstellung von der Dimension des Verrats. Die geheime Gruppe Schmidt operiert als Staat im Staat, ein im Thriller nicht erst seit Stieg Larssons "Millennium"-Trilogie beliebtes Motiv, um die innere Gefährdung westlicher Demokratien zu bebildern. Gesteuert wird die Gruppe vom ehemaligen BND-Chef Hans Breuninger. Dessen Privatleben liegt in Trümmern, seine Frau hat ihn nebst Kindern verlassen, sein Sohn kam beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben. Seither will er Krieg gegen die islamische Welt mit allen Mitteln. Mit Rot-Grün, mit Schröder, ist da nichts zu holen, also hilft er nach.
Die Zutaten des Romans könnten auch aus einer angelsächsischen Thriller-Fabrik stammen, doch Bottini hat sich für seine Figuren mehr einfallen lassen, auch wenn es nicht ohne Holzschnitt abgeht. Alle sind deformierte Seelen, leben nach Mustern, die aus zerstörten Kindheiten und frühkindlichen Traumata herrühren. Doch niemand ist bereit, sich wie der heilige Georg seines Glaubens wegen hinrichten zu lassen, die Hosenanzugträgerinnen schon gar nicht, von der unbeirrbaren BKA-Ermittlerin Hanne Lay abgesehen, die mehr als ihre Laufbahn riskiert, um Breuninger zu erlegen.
Bottini hat in der deutschen Oberliga einen Ruf zu verteidigen. Er tut dies mithilfe eines ausgefeilten Schlachtplans und schreiberischer Erfahrung aus nunmehr zehn Romanen. Das Lektorat hätte die Verwendung des Adjektivs "zahllos" korrigieren sollen - bei Überwachungskameras und Büchern liegt Zählbarkeit vor. Das Finale gehorcht den Blutbad-Regeln des Genres, lässt aber die Tür offen für eine Fortsetzung. HANNES HINTERMEIER
Oliver Bottini: "Einmal noch sterben". Roman.
Dumont Buchverlag, Köln 2022. 432 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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