Wieso Eisblumen? Die Erklärung findet sich in einer Erinnerung an ihre Kindheit: Beim Verfolgen des Tanzes der Schattenbäume denkt Thea daran, wie sehr sie es früher genoss, wenn Mutter im Winter frühmorgens den Ofen im Kinderzimmer anheizte, während Thea noch im Bett lag. Wenn das Feuer prasselte und das trockene Holz knisterte und manchmal auch bedrohlich knackte, schaltete die Mutter das Licht wieder aus und hantierte in der Küche mit dem Frühstücksgeschirr. Das Feuer ließ dann durch die halboffen stehende Ofentür ein lebendiges Licht springen, warf ruhelose Silhouetten an die Wand gegenüber und gestaltete einen bezaubernden Reigen schemenhafter Figuren. Es roch nach kalter Asche, nach türkisch gebrühtem Kaffee und nach Gas, weil Mutter für ein paar Minuten alle Flammen des Gasherdes entzündet hatte, damit es in der Küche ein wenig „verschlagen“ wäre, wie sie es nannte. Wenn Thea fröstelnd in die Küche kam, um dort die Morgenwäsche zu verrichten, waren die Eisblumen am Fenster, die der Frost manchmal in sehr kalten Nächten dort gesät hatte, schon angetaut. Thea bedauerte das. Sie dachte darüber nach, wie man wohl das Bild der Eisblumen festhalten könnte. Vielleicht, indem man es aufschrieb? Malen konnte sie sie nicht. „Mutter, wie schreibt man Eisblumen auf?“ Und die Mutter buchstabierte das Wort Eisblumen, und Thea antwortete: „Das meine ich nicht.“ Auch viel später, während des Fernstudiums am Leipziger Literaturinstitut, lernte sie nicht, wie man dieses Bild wohl aufschreiben könnte. Wenigstens aber war Thea in Leipzig schon auf Menschen gestoßen, die nicht davon ausgingen, dass sie das Wort buchstabiert wissen wollte. Die Autorin, die mit Thea augenscheinlich mehr als nur den Jahrgang 1957 gemeinsam hat, berichtet über deren schlaflose Nächte, in denen sie über ihr Leben vor und nach der Wende nachdenkt, über ihre gescheiterte Ehe, über die Mutterschaft und über die Schwierigkeiten mit ihren beiden Kindern, über ihr Studium und über ihren Arbeitsplatz, über den Zwang gemeinsam Weihnachten zu feiern, über Glück und Unglück im Allgemeinen und im Besonderen, über ihre Liebe zu ihrer späten Lebensgefährtin Reida sowie natürlich über das Schreiben, ihren persönlichen Schutz vor Depressionen. Und noch etwas: Aber beiläufig denkt sie, dass ihr das Aufschreiben der Eisblumen noch immer nicht geglückt ist. Sie wird nicht ablassen davon. Auch davon nicht. Schon gar nicht jetzt, da sie eine immer deutlichere Vorstellung davon hat, wie es gehen könnte.