Vom kriegerischen Herzen Europas: eine faszinierende Analyse Welchen Einfluss hatte der Militarismus auf die deutsche Geschichte der Neuzeit? Peter H. Wilson fächert in beeindruckender Weise die gesamte Militärgeschichte des deutschsprachigen Raumes der letzten fünf Jahrhunderte auf. Dabei berücksichtigt er nicht nur alle militärischen Aspekte von der Waffenentwicklung bis hin zur Kriegsstrategie, sondern auch Politik, Wirtschaft, Technologie, gesellschaftliche Entwicklungen und die Folgen der Kriege. - Nuanciert und komplex: ein neuer Blick auf die Geschichte Zentraleuropas - Vom römischen-deutschen Reich zum Nationalstaat: 500 Jahre Militärgeschichte - Die Entwicklung der Kriegsführung an Land, zur See und in der Luft - Kriege, Feldzüge, Generäle und der Militarismus: eine scharfe Analyse für Geschichtsinteressierte - Vom Historiker und Autor des gefeierten Sachbuchs »Der Dreißigjährige Krieg«Wie das Militärische die deutsche Geschichte bestimmt Bismarcks berühmte »Eisen und Blut«-Rede zeigt, wie sehr der militärische Komplex ein integraler Bestandteil der deutschen Geschichte ist. Das Militär prägte ganz entscheiden die Art und Weise, wie Politik gemacht wurden – und das nicht erst seit der Entstehung des deutschen Nationalstaates. Deshalb greift die in vielen Büchern zu Militär und deutscher Geschichte gepflegte Verengung des Blicks auf Aufstieg und Fall Preußens und die Zeit von 1914 bis 1945 zu kurz. Peter H. Wilson zeigt in seinem monumentalen Werk, wie wichtig es ist, die deutsche Militärgeschichte in einen großen Zusammenhang zu stellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Vom Söldnerheer zur taktischen Feuerwehr
Der britische Historiker Peter Wilson marschiert durch die Militärgeschichte der deutschsprachigen Länder von der Reformation bis in die Gegenwart. Dabei will er die These widerlegen, der preußische Militarismus habe die Deutschen auf einen historischen Sonderweg geführt. Das gelingt nur zum Teil.
Von Andreas Kilb
Von Andreas Kilb
Als der Befehlshaber der neu aufgestellten Bundesmarine mit seinen Schiffen im Sommer 1958 zum ersten Mal eine Flottenübung im Atlantik veranstaltete, gab er ihr den Namen "Wallenstein". Damit bewies Admiral Rolf Johannesson Sinn für historische Ironie, denn der Kriegsunternehmer Albrecht von Wallenstein, der genau 330 Jahre zuvor vom römisch-deutschen Kaiser Ferdinand II. zum "General des baltischen und ozeanischen Meeres" ernannt worden war, hatte in seiner Rolle als Seekriegsstratege eklatant versagt. Wallensteins Flotte, die von polnischen Schiffen unterstützt und mit spanischem Geld finanziert wurde, scheiterte schon an der Eroberung Stralsunds, das ihr als Basis dienen sollte, und als die Polen ihr Kontingent zurückzogen, ließ der Meeresgeneral die übrigen Fahrzeuge im Hafen von Wismar einmotten, wo sie drei Jahre später von den Schweden erbeutet wurden. Auch der bundesdeutschen Marine brachte der Name des schillerschen Dramenhelden wenig Glück: Nachdem die Führungsstäbe der NATO erkannt hatten, dass sie von der sowjetischen Ostseeflotte im Kriegsfall binnen achtundvierzig Stunden vernichtet werden würde, wurde ihr Ausbau in den Sechzigerjahren gestoppt. Bis heute dient sie hauptsächlich dem Küstenschutz.
Die "Wallenstein"-Übung bildet nicht nur eine von vielen lehrreichen Anekdoten, die man in Peter Wilsons opulenter Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500 nachlesen kann, sie bestätigt auch eine Grundthese von Wilsons Buch - dass nämlich jene Länder, die auf dem Territorium des sich allmählich auflösenden Heiligen Römischen Reiches entstanden, über die längste Zeit ihrer Existenz in militärischer Hinsicht nicht allein gegen eine Welt von Feinden standen, sondern in vielerlei äußere Bündnisse einbezogen waren. Wallensteins Flotte diente wie sein Heer im Verbund der katholischen Mächte Europas im Dreißigjährigen Krieg, der neben Habsburg und Polen auch Bayern und den Papststaat einschloss, während die Streitkräfte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung im Rahmen der Nordatlantischen Allianz agieren.
Zwischen diesen Eckdaten liegen Jahrhunderte wechselnder Bündniskonstellationen, in denen mal Habsburg und Preußen gemeinsam mit England und den Niederlanden gegen Frankreich, mal Preußen und Frankreich gegen Habsburg, mal Habsburg, Frankreich und Russland gegen England und Preußen und dann wieder alle Mächte zusammen gegen Napoleons Imperium Krieg führten. Die Gemengelage der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die Staaten des deutschsprachigen Raums (mit Ausnahme der Schweiz) gegen eine Übermacht verbündeter Feindstaaten kämpften, ist aus dieser Sicht die historische Ausnahme.
Eine Ausnahme, wenigstens hierzulande, ist auch Wilsons Buch. Denn anders, als der Untertitel verspricht, erzählt es keine "Geschichte" Mitteleuropas seit der Reformation, sondern explizit dessen Militärgeschichte. Eine solche Fokussierung, verbunden mit der Ausweitung des Beobachtungszeitraums bis an den Beginn der Neuzeit, war in der deutschen Historiographie bislang undenkbar. Zu mächtig wirkt noch immer der Einfluss der These vom deutschen Sonderweg in den Wilhelminismus und die Diktatur, die von Fritz Fischer, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler geprägt und zuletzt von Eckart Conze aktualisiert worden ist.
Ebendiese These will Wilson widerlegen. Es sei an der Zeit, die "eingefrorene" deutsche Kriegsgeschichte "aufzutauen" und sie aus dem "Prokrustesbett einer politischen Geographie" herauszuholen, welche sich erst nach 1866 herausgebildet habe, schreibt er programmatisch in seinem Vorwort. In einer zeitlich breiter angelegten Perspektive nämlich zeige sich, dass der deutschsprachige Raum deutlich länger von dezentralen Strukturen in Militär und Politik geprägt gewesen sei als die meisten anderen Länder Europas.
Der Clou dieses Verfahrens liegt darin, dass es Preußen, den Hauptschurken in der Sonderwegs-Erzählung, aus dem Zentrum rückt und auf weiten Strecken durch Habsburg beziehungsweise das Heilige Römische Reich ersetzt. Dessen Geschichte ist das Spezialgebiet des Oxforder Historikers Wilson; 2017 erschien seine umfassende Darstellung der "europäischen Tragödie" des Dreißigjährigen Krieges. "Eisen und Blut" setzt nun mit der Vorgeschichte dieses Konflikts im sechzehnten Jahrhundert ein, einer Zeit, in der die Groß- und Kleinstaaten des Kontinents noch nicht über genügend Finanzmittel verfügten, um sich stehende Heere leisten zu können, und deshalb auf angeworbene Söldner unter teils wechselnden, teils fest installierten Hauptleuten zurückgreifen mussten.
Von hier aus schreitet das Buch durch die Epochen bis in die Gegenwart fort. Dabei trennt Wilson die Ereignisgeschichte, etwa in Gestalt der Kabinettskriege des achtzehnten Jahrhunderts, von den sozial- und strukturgeschichtlichen Analysen. Auf den ersten Blick erscheint dieses Vorgehen bestechend, denn auf diese Weise begreift man etwa, was den Söldnerhauptmann Sebastian Schertlin, der für Karl V. zahlreiche Schlachten schlug, mit den Anführern der Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg verbindet - und was ihn von ihnen unterscheidet. Andererseits gerät der Zusammenhang zwischen dem Kriegsgeschehen und dessen gesellschaftlichen Voraussetzungen oft aus dem Blick. So wird beispielsweise nicht deutlich, weshalb das Kantonalsystem, mit dem der preußische Staat für seinen Nachschub an Rekruten sorgte, bei zunehmenden Gebietsverlusten im Siebenjährigen Krieg automatisch zu einer Auszehrung des preußischen Heeres führte, die wiederum direkt auf die weitgehend defensive Strategie Friedrichs II. in der Schlussphase durchschlug. Oder warum der preußische Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 eben doch auf einer überlegenen Logistik bei Aufmarsch, Ausrüstung und Nachschub beruhte und nicht bloß auf Fehlern des Gegners.
Überhaupt - und kaum überraschend - ist im Verlauf dieses 900-Seiten-Marschs durch die Militärgeschichte eben doch immer öfter von Preußen die Rede, was Wilsons Ansatz, den Mythos des preußischen Militarismus zu widerlegen, in ein leicht schiefes Licht stellt. Die Strategien in Paris und Wien kopierten eifrig die "General-Principia" des großen Friedrich, und nach den deutschen Einigungskriegen wurde das preußische Militärhandbuch zur Richtschnur von Armeen auf der ganzen Welt. Gleichwohl ist Wilsons Insistieren auf der Bedeutung Habsburgs, das viel früher über ein ständiges Heer verfügte als sein norddeutscher Konkurrent und im Befreiungskampf gegen Napoleon noch ohne Widerrede die Führung übernahm, nicht ohne Berechtigung. Nur kann er eben nicht erklären, warum der k. u. k. Vielvölkerstaat nach 1866 militärisch immer stärker hinter seinen deutschen Verbündeten zurückfiel. Denn dazu müsste er zusätzlich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte betreiben, und das lässt der bei aller Opulenz eng gesteckte Rahmen des Buches nicht zu.
Die große Schwäche von Wilsons Studie ist ihre begriffliche Unschärfe. So konstatiert der Autor wiederholt die taktische Fixierung und den Mangel an strategischen Konzepten in der Militärführung des Kaiserreichs und bei ihren Erben im Nationalsozialismus, ohne klarzustellen, worin eine Grand Strategy 1914 oder 1939 überhaupt hätte bestehen können. Der Schlieffen-Plan war durchaus eine solche, und es gibt bis heute Historiker, die ihm bei veränderter deutscher Aufstellung Erfolgsaussichten bescheinigen. Das Scheitern des Plans und die massenhafte Verfügbarkeit von Panzern wiederum brachten Manstein dazu, seine Sichelschnitt-Variante zu entwickeln, die 1940 gegen Frankreich Erfolg hatte, ohne Deutschlands Siegeschancen im mindesten zu verbessern. Denn Hitler verfolgte keine militärische, sondern eine Ausrottungsstrategie, was Wilson resigniert einräumt, ohne daraus die Konsequenz für seine Analyse des Kriegsverlaufs zu ziehen. Das absehbare Scheitern des Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion machte das deutsche Militär zur taktischen Feuerwehr, die die Niederlage nur noch verzögern konnte. Die Front schützte die Todesfabriken im Hinterland. Der Genius Preußens wurde zum Helfershelfer des Massenmords.
Am Ende hat Wilson mit gewaltigem erzählerischem Aufwand seine Anfangsthese bewiesen, dass der deutsche Militarismus "weder ein abschließender Endpunkt war noch das Ergebnis einer einzigen historischen Entwicklungslinie". Für ein so groß angelegtes Vorhaben ist das ein dünnes Resultat. Das Buch ist dennoch für viele interessante Anregungen gut. Aber ein Klassiker seiner Zunft wird es wohl nicht werden.
Peter H. Wilson: "Eisen und Blut". Die Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500.
Aus dem Englischen von T. Bertram, T. Gabel und J. Pinnow.
wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2023. 992 S., Abb., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der britische Historiker Peter Wilson marschiert durch die Militärgeschichte der deutschsprachigen Länder von der Reformation bis in die Gegenwart. Dabei will er die These widerlegen, der preußische Militarismus habe die Deutschen auf einen historischen Sonderweg geführt. Das gelingt nur zum Teil.
Von Andreas Kilb
Von Andreas Kilb
Als der Befehlshaber der neu aufgestellten Bundesmarine mit seinen Schiffen im Sommer 1958 zum ersten Mal eine Flottenübung im Atlantik veranstaltete, gab er ihr den Namen "Wallenstein". Damit bewies Admiral Rolf Johannesson Sinn für historische Ironie, denn der Kriegsunternehmer Albrecht von Wallenstein, der genau 330 Jahre zuvor vom römisch-deutschen Kaiser Ferdinand II. zum "General des baltischen und ozeanischen Meeres" ernannt worden war, hatte in seiner Rolle als Seekriegsstratege eklatant versagt. Wallensteins Flotte, die von polnischen Schiffen unterstützt und mit spanischem Geld finanziert wurde, scheiterte schon an der Eroberung Stralsunds, das ihr als Basis dienen sollte, und als die Polen ihr Kontingent zurückzogen, ließ der Meeresgeneral die übrigen Fahrzeuge im Hafen von Wismar einmotten, wo sie drei Jahre später von den Schweden erbeutet wurden. Auch der bundesdeutschen Marine brachte der Name des schillerschen Dramenhelden wenig Glück: Nachdem die Führungsstäbe der NATO erkannt hatten, dass sie von der sowjetischen Ostseeflotte im Kriegsfall binnen achtundvierzig Stunden vernichtet werden würde, wurde ihr Ausbau in den Sechzigerjahren gestoppt. Bis heute dient sie hauptsächlich dem Küstenschutz.
Die "Wallenstein"-Übung bildet nicht nur eine von vielen lehrreichen Anekdoten, die man in Peter Wilsons opulenter Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500 nachlesen kann, sie bestätigt auch eine Grundthese von Wilsons Buch - dass nämlich jene Länder, die auf dem Territorium des sich allmählich auflösenden Heiligen Römischen Reiches entstanden, über die längste Zeit ihrer Existenz in militärischer Hinsicht nicht allein gegen eine Welt von Feinden standen, sondern in vielerlei äußere Bündnisse einbezogen waren. Wallensteins Flotte diente wie sein Heer im Verbund der katholischen Mächte Europas im Dreißigjährigen Krieg, der neben Habsburg und Polen auch Bayern und den Papststaat einschloss, während die Streitkräfte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung im Rahmen der Nordatlantischen Allianz agieren.
Zwischen diesen Eckdaten liegen Jahrhunderte wechselnder Bündniskonstellationen, in denen mal Habsburg und Preußen gemeinsam mit England und den Niederlanden gegen Frankreich, mal Preußen und Frankreich gegen Habsburg, mal Habsburg, Frankreich und Russland gegen England und Preußen und dann wieder alle Mächte zusammen gegen Napoleons Imperium Krieg führten. Die Gemengelage der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in der die Staaten des deutschsprachigen Raums (mit Ausnahme der Schweiz) gegen eine Übermacht verbündeter Feindstaaten kämpften, ist aus dieser Sicht die historische Ausnahme.
Eine Ausnahme, wenigstens hierzulande, ist auch Wilsons Buch. Denn anders, als der Untertitel verspricht, erzählt es keine "Geschichte" Mitteleuropas seit der Reformation, sondern explizit dessen Militärgeschichte. Eine solche Fokussierung, verbunden mit der Ausweitung des Beobachtungszeitraums bis an den Beginn der Neuzeit, war in der deutschen Historiographie bislang undenkbar. Zu mächtig wirkt noch immer der Einfluss der These vom deutschen Sonderweg in den Wilhelminismus und die Diktatur, die von Fritz Fischer, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler geprägt und zuletzt von Eckart Conze aktualisiert worden ist.
Ebendiese These will Wilson widerlegen. Es sei an der Zeit, die "eingefrorene" deutsche Kriegsgeschichte "aufzutauen" und sie aus dem "Prokrustesbett einer politischen Geographie" herauszuholen, welche sich erst nach 1866 herausgebildet habe, schreibt er programmatisch in seinem Vorwort. In einer zeitlich breiter angelegten Perspektive nämlich zeige sich, dass der deutschsprachige Raum deutlich länger von dezentralen Strukturen in Militär und Politik geprägt gewesen sei als die meisten anderen Länder Europas.
Der Clou dieses Verfahrens liegt darin, dass es Preußen, den Hauptschurken in der Sonderwegs-Erzählung, aus dem Zentrum rückt und auf weiten Strecken durch Habsburg beziehungsweise das Heilige Römische Reich ersetzt. Dessen Geschichte ist das Spezialgebiet des Oxforder Historikers Wilson; 2017 erschien seine umfassende Darstellung der "europäischen Tragödie" des Dreißigjährigen Krieges. "Eisen und Blut" setzt nun mit der Vorgeschichte dieses Konflikts im sechzehnten Jahrhundert ein, einer Zeit, in der die Groß- und Kleinstaaten des Kontinents noch nicht über genügend Finanzmittel verfügten, um sich stehende Heere leisten zu können, und deshalb auf angeworbene Söldner unter teils wechselnden, teils fest installierten Hauptleuten zurückgreifen mussten.
Von hier aus schreitet das Buch durch die Epochen bis in die Gegenwart fort. Dabei trennt Wilson die Ereignisgeschichte, etwa in Gestalt der Kabinettskriege des achtzehnten Jahrhunderts, von den sozial- und strukturgeschichtlichen Analysen. Auf den ersten Blick erscheint dieses Vorgehen bestechend, denn auf diese Weise begreift man etwa, was den Söldnerhauptmann Sebastian Schertlin, der für Karl V. zahlreiche Schlachten schlug, mit den Anführern der Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg verbindet - und was ihn von ihnen unterscheidet. Andererseits gerät der Zusammenhang zwischen dem Kriegsgeschehen und dessen gesellschaftlichen Voraussetzungen oft aus dem Blick. So wird beispielsweise nicht deutlich, weshalb das Kantonalsystem, mit dem der preußische Staat für seinen Nachschub an Rekruten sorgte, bei zunehmenden Gebietsverlusten im Siebenjährigen Krieg automatisch zu einer Auszehrung des preußischen Heeres führte, die wiederum direkt auf die weitgehend defensive Strategie Friedrichs II. in der Schlussphase durchschlug. Oder warum der preußische Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 eben doch auf einer überlegenen Logistik bei Aufmarsch, Ausrüstung und Nachschub beruhte und nicht bloß auf Fehlern des Gegners.
Überhaupt - und kaum überraschend - ist im Verlauf dieses 900-Seiten-Marschs durch die Militärgeschichte eben doch immer öfter von Preußen die Rede, was Wilsons Ansatz, den Mythos des preußischen Militarismus zu widerlegen, in ein leicht schiefes Licht stellt. Die Strategien in Paris und Wien kopierten eifrig die "General-Principia" des großen Friedrich, und nach den deutschen Einigungskriegen wurde das preußische Militärhandbuch zur Richtschnur von Armeen auf der ganzen Welt. Gleichwohl ist Wilsons Insistieren auf der Bedeutung Habsburgs, das viel früher über ein ständiges Heer verfügte als sein norddeutscher Konkurrent und im Befreiungskampf gegen Napoleon noch ohne Widerrede die Führung übernahm, nicht ohne Berechtigung. Nur kann er eben nicht erklären, warum der k. u. k. Vielvölkerstaat nach 1866 militärisch immer stärker hinter seinen deutschen Verbündeten zurückfiel. Denn dazu müsste er zusätzlich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte betreiben, und das lässt der bei aller Opulenz eng gesteckte Rahmen des Buches nicht zu.
Die große Schwäche von Wilsons Studie ist ihre begriffliche Unschärfe. So konstatiert der Autor wiederholt die taktische Fixierung und den Mangel an strategischen Konzepten in der Militärführung des Kaiserreichs und bei ihren Erben im Nationalsozialismus, ohne klarzustellen, worin eine Grand Strategy 1914 oder 1939 überhaupt hätte bestehen können. Der Schlieffen-Plan war durchaus eine solche, und es gibt bis heute Historiker, die ihm bei veränderter deutscher Aufstellung Erfolgsaussichten bescheinigen. Das Scheitern des Plans und die massenhafte Verfügbarkeit von Panzern wiederum brachten Manstein dazu, seine Sichelschnitt-Variante zu entwickeln, die 1940 gegen Frankreich Erfolg hatte, ohne Deutschlands Siegeschancen im mindesten zu verbessern. Denn Hitler verfolgte keine militärische, sondern eine Ausrottungsstrategie, was Wilson resigniert einräumt, ohne daraus die Konsequenz für seine Analyse des Kriegsverlaufs zu ziehen. Das absehbare Scheitern des Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion machte das deutsche Militär zur taktischen Feuerwehr, die die Niederlage nur noch verzögern konnte. Die Front schützte die Todesfabriken im Hinterland. Der Genius Preußens wurde zum Helfershelfer des Massenmords.
Am Ende hat Wilson mit gewaltigem erzählerischem Aufwand seine Anfangsthese bewiesen, dass der deutsche Militarismus "weder ein abschließender Endpunkt war noch das Ergebnis einer einzigen historischen Entwicklungslinie". Für ein so groß angelegtes Vorhaben ist das ein dünnes Resultat. Das Buch ist dennoch für viele interessante Anregungen gut. Aber ein Klassiker seiner Zunft wird es wohl nicht werden.
Peter H. Wilson: "Eisen und Blut". Die Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500.
Aus dem Englischen von T. Bertram, T. Gabel und J. Pinnow.
wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2023. 992 S., Abb., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als anregend, aber letztlich nicht überzeugend beschreibt Andreas Kilb Peter H. Wilsons Arbeit zur deutschen Militärgeschichte. Deren Grundthese ist, führt Kilb aus, dass eben diese Militärgeschichte nicht auf die in der Forschungsliteratur bisher dominierende These eines deutschen Sonderwegs, der direkt in den zweiten Weltkrieg führt, reduziert werden kann. Vielmehr sei die deutsche Geschichte seit dem 16. Jahrhundert - dem Ausgangspunkt der Untersuchung, die sich bis in die Zeit der Bundesrepublik fortsetzt - durch wechselvolle Bündnisse mit diversen anderen Ländern bestimmt. Auch von der Fixierung auf den Militarismus Preussens hält Wilson nicht viel, heißt es weiter; vielmehr will er andere Mächte wie insbesondere Habsburg ins Zentrum rücken. Durchweg trennt der Autor dabei die Militärgeschichte von einer Analyse der Gesellschaftsstruktur, was laut Kilb dazu führt, dass er vieles nicht sinnvoll erklären kann. Auch wird Preussen entgegen der Ausgangsthese auch in Wilsons Darstellung immer dominanter, meint Kilb. Besonders unglücklich ist der Rezensent darüber, dass der Autor den Charakter des Zweiten Weltkriegs als Camouflage für den Massenmord der Shoah nicht berücksichtigt. Ein interessanter Beitrag zur Militärgeschichte, aber kein kommender Klassiker, so das Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die "Wallenstein"-Übung bildet [...] nur eine von vielen lehrreichen Anekdoten, die man in Peter Wilsons opulenter Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500 nachlesen kann, [...].« FAZ
»Die Gelehrsamkeit dieses Buches ist atemberaubend. Wilson beherrscht das Thema wie kein anderer. Wer sich für die Geschichte Europas und insbesondere der Deutschen interessiert, kommt an diesem großartigen Buch nicht vorbei!« Simon Heffer, Daily Telegraph
»Unendlich faszinierend ...'Eisen und Blut' ist eine hervorragende Gelegenheit, um sich mit der Geschichte Europas vertraut zu machen.« Oliver Moody, The Times
»Äußerst beeindruckend!« Richard J. Evans, Times Literary Supplement
»'Eisen und Blut' befasst sich mit Politik, Wirtschaft, Technologie und sozialen Entwicklungen. Der weite Blick auf die deutsche Militärgeschichte, die meisterhafte Detailgenauigkeit und die scharfe Analyse ermöglichen ein neues Verständnis davon, was früher das 'kriegerische Herz Europas' war.« The Economist
»Ein sehr ehrgeiziges Buch ... Deutschland kann seine Vergangenheit zwar nicht hinter sich lassen, aber es kann aus ihr lernen, wenn es sich traut, hinzuschauen. Eisen und Blut ist ein zeitgemäßes Buch, das überzeugend darlegt, dass 'die deutsche Geschichte nicht rückwärts gelesen werden sollte'.« Katja Hoyer, History Today
»Die Gelehrsamkeit dieses Buches ist atemberaubend. Wilson beherrscht das Thema wie kein anderer. Wer sich für die Geschichte Europas und insbesondere der Deutschen interessiert, kommt an diesem großartigen Buch nicht vorbei!« Simon Heffer, Daily Telegraph
»Unendlich faszinierend ...'Eisen und Blut' ist eine hervorragende Gelegenheit, um sich mit der Geschichte Europas vertraut zu machen.« Oliver Moody, The Times
»Äußerst beeindruckend!« Richard J. Evans, Times Literary Supplement
»'Eisen und Blut' befasst sich mit Politik, Wirtschaft, Technologie und sozialen Entwicklungen. Der weite Blick auf die deutsche Militärgeschichte, die meisterhafte Detailgenauigkeit und die scharfe Analyse ermöglichen ein neues Verständnis davon, was früher das 'kriegerische Herz Europas' war.« The Economist
»Ein sehr ehrgeiziges Buch ... Deutschland kann seine Vergangenheit zwar nicht hinter sich lassen, aber es kann aus ihr lernen, wenn es sich traut, hinzuschauen. Eisen und Blut ist ein zeitgemäßes Buch, das überzeugend darlegt, dass 'die deutsche Geschichte nicht rückwärts gelesen werden sollte'.« Katja Hoyer, History Today