Ein Städtchen am Rande des Eismeers im Norden Kanadas. Eine Kindheit, geprägt von der übermächtigen Natur und einem sich auflösenden Zusammenhalt. Ein mutiges Mädchen, das die alten Mythen entdeckt und erwachsen wird. Tanya Tagaq erzählt poetisch, sinnlich, mit großer Kraft. Der Winter ist vorbei und damit die Zeit, die die Kinder im Haus verbringen müssen, weil es draußen bitterkalt ist, hoch im Norden Kanadas, am Rande des Eismeers. Im Frühling haben die Kinder das Städtchen in der Hand, streunen auf der Suche nach Abenteuern durch die Straßen und durch die Tundra. Nach so wilden Abenteuern, dass sie dabei sogar das Leben riskieren. Die Erwachsenen sind mit eigenen Problemen beschäftigt und können keinen Halt bieten. Im Gegenteil. Tanya Tagaq erzählt in diesem atemberaubenden Debüt von der Kindheit und Jugend eines Mädchens in der Arktis: von einer übermächtigen Natur, von den allgegenwärtigen Füchsen, den majestätischen Polarbären und den Mythen der Inuit. Unter den furchterregenden und verzaubernden Polarlichtern verschwimmen für das Mädchen die Grenzen zwischen Mensch und Natur, Zeit und Raum, und sie begibt sich auf eine verstörend sinnliche Selbstsuche, um die Wunden zu heilen, an denen in einer sich auflösenden Gemeinschaft alle tragen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2020Im langen Haar der Meeresgöttin
Überleben am Polarmeer: Die kanadische Musikerin Tanya Tagaq schildert in ihrem ersten Roman "Eisfuchs" eine von Gewalt und alten Mythen gezeichnete Jugend in einer majestätisch schönen Natur.
Dass "die Liebe ein Fluch sein kann", habe sie schon als kleines Mädchen gewusst, berichtet die Ich-Erzählerin in Tanya Tagaqs Roman "Eisfuchs". Damals, im Jahr 1975 etwa, als die Erwachsenen im Haus betrunken randalierten und sich das Mädchen dann immer im Kleiderschrank versteckte, öffnete sich manchmal dessen Tür, "die alte Frau" kam herein "und umarmte uns mit ihrer erdrückenden Liebe, einer Liebe, die wie eine schwere Bürde auf ihr lastete. Ihr giftiger Alkoholatem erfüllte das Zimmer. Schluchzend griff sie nach uns, küsste uns, küsste das Einzige, dem sie vertrauen konnte."
Der Beginn dieses Romans ist nicht nur äußerst beklemmend und lässt Schlimmeres ahnen, er schlägt auch schon früh einen Ton an, der bis zum Ende nicht mehr verhallt und sonst in Werken, die vom Heranwachsen handeln und ganz aus der Perspektive der Heranwachsenden erzählt wird, nicht allzu häufig ist: Die Kinder, speziell das jüngere Ich der Erzählerin, entwickeln ein Gespür für ein umfassendes Elend, das im Leben der Erwachsenen bereits manifest ist und es sogar prägt. Zugleich wissen sie um die Bedeutung dieses Elends für sie selbst. Sie werden, wenn sie sich nicht mit aller Kraft dagegen wehren, Teil jener Unglücksgesellschaft. Und eines Tages werden wiederum sie betrunken vor ihren im Schrank versteckten Kindern oder Enkeln stehen, wenn die Ablösung nicht gelingt.
"Eisfuchs" ist der erste Roman von Tanya Tagaq, Jahrgang 1975, die in der Siedlung Cambridge Bay auf der kanadischen Polarmeer-Insel Victoria aufwuchs. Fünfzehnjährig verließ sie ihre Heimat, um in Yellowknife, der Hauptstadt des riesigen kanadischen Landesteils Northwest Territories zur Schule zu gehen. Als renommierte Musikerin, die sich eine traditionelle Kehlgesangtechnik der Inuit aneignete, arbeitete sie mit so unterschiedlichen Künstlern wie Björk, dem Kronos Quartet oder der Folksängerin Buffy Sainte-Marie zusammen, mit der sie vor kurzem das wütende Lied "You Got To Run" aufnahm.
Auch ihr Roman ist akustisch strukturiert, in der Form - eine Art lyrischer Prosa, die mit intensiven Kapiteln in freien Versen wechselt, in denen man die Erzählerin förmlich zu hören glaubt - wie auch im Inhalt. Geräusche wie die der Betrunkenen, gedämpft durch eine Wand oder eben eine Tür, kehren in "Eisfuchs" häufig wieder. Mit entsetzlichen Folgen: Einmal hört die Erzählerin, die zusammen mit einem etwas älteren Mädchen in einem Zimmer übernachtet, wie ein Betrunkener aus dem Partylärm von nebenan ins Zimmer kommt und die Schlafende vergewaltigt.
Es sind fürchterliche Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, und noch mehr Entsetzliches wird angedeutet. Angesiedelt ist der Roman im kanadischen Polargebiet, das Züge der Heimatregion der Autorin trägt. Geschildert wird eine Gemeinschaft, in der die Kinder einerseits einen erstaunlichen Freiraum haben, andererseits der Willkür der Erwachsenen ausgesetzt sind und in der es völlig alltäglich zu sein scheint, dass ein Lehrer eine Schülerin im Vorbeilaufen unsittlich berührt. Gewidmet ist das Buch den "verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas" sowie den "Überlebenden der Residential Schools".
Auch das Zusammensein der Heranwachsenden ist nicht ungefährlich, sei es durch das brutale Regiment einiger älterer Jugendlicher über die anderen, sei es durch die Natur selbst, der immer wieder Kinder zum Opfer fallen und etwa im Eiswasser ertrinken. Zugleich aber sucht die Erzählerin genau hier eine Rettung vor all dem Elend. Sie nimmt die Landschaft, das Meer, die Polarlichter, die Tierwelt mit großer Bereitschaft zu deren Überhöhung wahr, und so kritisch sie dem Schulunterricht gegenüber steht, in dem geflissentlich die Sprache der Inuit unterrichtet werden soll, so sehr begeistert sie sich für die überlieferten Mythen der Vorfahren, für Sedna, die Meeresgöttin etwa, die allein mit ihrem Vater lebt, alle menschlichen Freier ablehnt, schließlich mit einem gestaltwandlerischen Schlittenhund ein Kind bekommt und nun auf dem Meeresgrund ihr langes Haar fließen lässt, in dem sich die Fische und Seehunde vor den Menschen verstecken: "Besänftigen ließ sie sich nur durch einen Schamanen, der auf den Grund des Meeres geschickt wurde, um ihr Schlaflieder zu singen und das Haar zu kämmen, in der Hoffnung, sie würde den Menschen ein paar Tiere zum Verzehr überlassen und so die Hungersnot lindern." Eine ähnliche Geschichte überliefert ein knappes Jahrhundert vor Tagaq schon der Grönland-Reisende Knud Rasmussen.
Selbst die Schwangerschaft der noch kindlichen Erzählerin, die sich in der zweiten Hälfte des Romans einstellt, wird von ihr mit einem ekstatischen Naturerlebnis verbunden, in der die Polarlichter als Erzeuger ihrer Zwillinge fungieren. Wenn sich dahinter eine andere Geschichte verbirgt, dann eine, der sich die Erzählerin nicht stellen will und die in der von ihr so kräftig und poetisch beschworenen Verbindung mit der arktischen Natur keinen Platz hat.
Es ist ein Kampf gegen die trostlose Wirklichkeit der Siedlung, in der Lichtblicke rar sind. "Ich vergebe und vergesse nicht", heißt es im vorletzten Gedicht des Romans. Und im letzten: "Fang wieder von vorne an."
TILMAN SPRECKELSEN.
Tanya Tagaq: "Eisfuchs". Roman.
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Mit Bildern von Jaime Hernandez. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. 196 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überleben am Polarmeer: Die kanadische Musikerin Tanya Tagaq schildert in ihrem ersten Roman "Eisfuchs" eine von Gewalt und alten Mythen gezeichnete Jugend in einer majestätisch schönen Natur.
Dass "die Liebe ein Fluch sein kann", habe sie schon als kleines Mädchen gewusst, berichtet die Ich-Erzählerin in Tanya Tagaqs Roman "Eisfuchs". Damals, im Jahr 1975 etwa, als die Erwachsenen im Haus betrunken randalierten und sich das Mädchen dann immer im Kleiderschrank versteckte, öffnete sich manchmal dessen Tür, "die alte Frau" kam herein "und umarmte uns mit ihrer erdrückenden Liebe, einer Liebe, die wie eine schwere Bürde auf ihr lastete. Ihr giftiger Alkoholatem erfüllte das Zimmer. Schluchzend griff sie nach uns, küsste uns, küsste das Einzige, dem sie vertrauen konnte."
Der Beginn dieses Romans ist nicht nur äußerst beklemmend und lässt Schlimmeres ahnen, er schlägt auch schon früh einen Ton an, der bis zum Ende nicht mehr verhallt und sonst in Werken, die vom Heranwachsen handeln und ganz aus der Perspektive der Heranwachsenden erzählt wird, nicht allzu häufig ist: Die Kinder, speziell das jüngere Ich der Erzählerin, entwickeln ein Gespür für ein umfassendes Elend, das im Leben der Erwachsenen bereits manifest ist und es sogar prägt. Zugleich wissen sie um die Bedeutung dieses Elends für sie selbst. Sie werden, wenn sie sich nicht mit aller Kraft dagegen wehren, Teil jener Unglücksgesellschaft. Und eines Tages werden wiederum sie betrunken vor ihren im Schrank versteckten Kindern oder Enkeln stehen, wenn die Ablösung nicht gelingt.
"Eisfuchs" ist der erste Roman von Tanya Tagaq, Jahrgang 1975, die in der Siedlung Cambridge Bay auf der kanadischen Polarmeer-Insel Victoria aufwuchs. Fünfzehnjährig verließ sie ihre Heimat, um in Yellowknife, der Hauptstadt des riesigen kanadischen Landesteils Northwest Territories zur Schule zu gehen. Als renommierte Musikerin, die sich eine traditionelle Kehlgesangtechnik der Inuit aneignete, arbeitete sie mit so unterschiedlichen Künstlern wie Björk, dem Kronos Quartet oder der Folksängerin Buffy Sainte-Marie zusammen, mit der sie vor kurzem das wütende Lied "You Got To Run" aufnahm.
Auch ihr Roman ist akustisch strukturiert, in der Form - eine Art lyrischer Prosa, die mit intensiven Kapiteln in freien Versen wechselt, in denen man die Erzählerin förmlich zu hören glaubt - wie auch im Inhalt. Geräusche wie die der Betrunkenen, gedämpft durch eine Wand oder eben eine Tür, kehren in "Eisfuchs" häufig wieder. Mit entsetzlichen Folgen: Einmal hört die Erzählerin, die zusammen mit einem etwas älteren Mädchen in einem Zimmer übernachtet, wie ein Betrunkener aus dem Partylärm von nebenan ins Zimmer kommt und die Schlafende vergewaltigt.
Es sind fürchterliche Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, und noch mehr Entsetzliches wird angedeutet. Angesiedelt ist der Roman im kanadischen Polargebiet, das Züge der Heimatregion der Autorin trägt. Geschildert wird eine Gemeinschaft, in der die Kinder einerseits einen erstaunlichen Freiraum haben, andererseits der Willkür der Erwachsenen ausgesetzt sind und in der es völlig alltäglich zu sein scheint, dass ein Lehrer eine Schülerin im Vorbeilaufen unsittlich berührt. Gewidmet ist das Buch den "verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas" sowie den "Überlebenden der Residential Schools".
Auch das Zusammensein der Heranwachsenden ist nicht ungefährlich, sei es durch das brutale Regiment einiger älterer Jugendlicher über die anderen, sei es durch die Natur selbst, der immer wieder Kinder zum Opfer fallen und etwa im Eiswasser ertrinken. Zugleich aber sucht die Erzählerin genau hier eine Rettung vor all dem Elend. Sie nimmt die Landschaft, das Meer, die Polarlichter, die Tierwelt mit großer Bereitschaft zu deren Überhöhung wahr, und so kritisch sie dem Schulunterricht gegenüber steht, in dem geflissentlich die Sprache der Inuit unterrichtet werden soll, so sehr begeistert sie sich für die überlieferten Mythen der Vorfahren, für Sedna, die Meeresgöttin etwa, die allein mit ihrem Vater lebt, alle menschlichen Freier ablehnt, schließlich mit einem gestaltwandlerischen Schlittenhund ein Kind bekommt und nun auf dem Meeresgrund ihr langes Haar fließen lässt, in dem sich die Fische und Seehunde vor den Menschen verstecken: "Besänftigen ließ sie sich nur durch einen Schamanen, der auf den Grund des Meeres geschickt wurde, um ihr Schlaflieder zu singen und das Haar zu kämmen, in der Hoffnung, sie würde den Menschen ein paar Tiere zum Verzehr überlassen und so die Hungersnot lindern." Eine ähnliche Geschichte überliefert ein knappes Jahrhundert vor Tagaq schon der Grönland-Reisende Knud Rasmussen.
Selbst die Schwangerschaft der noch kindlichen Erzählerin, die sich in der zweiten Hälfte des Romans einstellt, wird von ihr mit einem ekstatischen Naturerlebnis verbunden, in der die Polarlichter als Erzeuger ihrer Zwillinge fungieren. Wenn sich dahinter eine andere Geschichte verbirgt, dann eine, der sich die Erzählerin nicht stellen will und die in der von ihr so kräftig und poetisch beschworenen Verbindung mit der arktischen Natur keinen Platz hat.
Es ist ein Kampf gegen die trostlose Wirklichkeit der Siedlung, in der Lichtblicke rar sind. "Ich vergebe und vergesse nicht", heißt es im vorletzten Gedicht des Romans. Und im letzten: "Fang wieder von vorne an."
TILMAN SPRECKELSEN.
Tanya Tagaq: "Eisfuchs". Roman.
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Mit Bildern von Jaime Hernandez. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. 196 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Martin Zähringer führt Tanya Tagaq als eine der begabtesten und originellsten Gesangskünstlerinnen der Arktis ein, die ihre schamanistisch angehauchten Sprechgesänge immer auch als eine Form kultureller Selbstheilung versteht. Inhaltlich verrät Zähringer nicht viel, es geht in dem Buch offenbar um die Erfahrungen eines jungen Mädchens in einer von Kanadas berüchtigten Residentital Schools, in denen dem Rezensenten zufolge die Indoktrination mit körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch einherging. Beeindruckt ist der Rezensent jedoch vor allem von Tagaqs Poetologie, die verschiedene Textsorten kombiniere, unterschiedliche Erkenntniszustände evoziere und eine Magie anklingen lasse, von der man nie sagen könne, ob sie schamanistischen Ritualen oder den Fluchtfantasiens eines Teenagers entspringt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2020In ihren eigenen Worten
Tanya Tagaq erzählt von der Welt der Inuit,
ohne sie westlichen Literaturtraditionen unterzuordnen
VON LEA SCHNEIDER
In „Eisfuchs“, dem Debütroman der kanadischen Autorin Tanya Tagaq, kommen unter anderem vor: Oralsex mit einem Fuchs, Gedichte auf Inuinnaqtun (einer der indigenen Sprachen Nordkanadas), Polarlichter, die in den Körper eindringen und ein junges Mädchen schwängern. Auf knapp 200 Seiten mischt das Buch die Genres, sprachlichen Register und Stilformen mit einer programmatischen Unvorhersehbarkeit, die den Kunstmann Verlag, wo das Buch in deutscher Übersetzung erschienen ist, aus guten Gründen davon abgehalten haben dürfte, die Bezeichnung „Roman“ aufs Cover zu setzen.
Tatsächlich gilt Tagaqs Werk in der englischsprachigen Welt als Paradebeispiel eines genreverweigernden Genres, das Daniel Heath Justice, Professor für Indigene Studien an der University of British Columbia, als „wonderwork“ bezeichnet. Dahinter steckt der Gedanke, dass im heute geläufigen literarischen Gattungsbegriff des Romans zahlreiche Konzepte der westlichen Moderne impliziert sind – etwa die Vorstellung einer linear ablaufenden Zeit oder eines von der Gemeinschaft klar abzugrenzenden Individuums – die mit indigenen Literaturtraditionen und Wissenssystemen unvereinbar sind.
„Wonderworks“ sprengen diese Gattungsbegriffe, indem sie, wie Tagaqs Buch, ein lineares Fortschreiten der Erzählung oder psychologische Erklärungen für die Handlungen ihrer Figuren an vielen Stellen verweigern und stattdessen hin und her springen: Zwischen autofiktionalen Sequenzen, Gedichten, Traumtagebüchern, romanartigen Erzählsträngen und der Verschriftlichung oral tradierter Mythen wie der Qaujimajatuqangit, traditioneller Inuit-Erzählungen zur Wissensweitergabe.
Vor ihrem literarischen Debüt ist Tanya Tagaq als Folkmusikerin einer Form des Inuit-Kehlkopfgesangs bekannt geworden. 2004 kollaborierte sie mit der isländischen Sängerin Björk für deren Album „Medúlla“, seitdem sind fünf zum Teil mehrfach ausgezeichnete Solo-Alben erschienen. Eines der durchgängigen Themen in diesen Songs ist der Animismus, also die Vorstellung, dass alle Bestandteile der Natur ebenso beseelt sind wie der Mensch; ein anderes die kaum erträgliche strukturelle und direkte Gewalt, denen die Inuit wie andere kolonialisierte Nationen bis heute ausgesetzt sind.
Im Residential-School-System, das in Kanada bis in die 1980er Jahre Bestand hatte, wurden die Kinder indigener Gruppen gewaltsam von ihren Eltern getrennt und in Internaten untergebracht, in denen ihre Sprachen und religiösen Praktiken verboten waren. Viele Schüler starben aufgrund mangelnder Hygiene an Krankheiten oder Mangelernährung, ebenso viele wurden sexuell missbraucht. Das intergenerationelle Trauma dieses kulturellen Genozids besingt Tagaq in ihren extrem körperlichen Performances ebenso wie die Zerstörung der Lebensgrundlagen einer nomadischen Kultur durch die Klimakatastrophe und ihre Folgen: Drogenabhängigkeit, Depression, Armut, eine bedrückend hohe Vergewaltigungsrate unter indigenen Frauen.
All diese Themen beschreibt auch die namenlose Erzählerin, deren Erwachsenwerden in „Eisfuchs“ geschildert wird. Die stumpfe Gewalt des kolonialen Systems tritt dabei in ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis mit den persönlichen Gewaltfantasien der Erzählerin, die zugleich Ausdruck von Lebenslust und Emanzipation, in jedem Fall aber sehr lustvoll zu sein scheinen: „Er ist klein. Er ist ein Opfer. Ich finde ihn zum Kotzen“, heißt es da etwa über einen Lehrer, der die Residential School in seiner Kindheit überlebt hat, oder: „Hätte ich je Gelegenheit, einen Feind zu foltern, dann würde ich ihn in der Mückensaison nackt in die Tundra schicken, die Hände auf dem Rücken gefesselt.“ Durchs ganze Buch zieht sich so eine erstaunliche Ausdifferenzierung verschiedener Qualitäten von Gewalt, und damit auch die Postulierung einer unmittelbaren Nachbarschaft von Gewalt und Gnade, Schönheit und Tod.
Mindestens ebenso ungewohnt und blickerweiternd ist die drastische und zugleich ekstatische Körperlichkeit, die in „Eisfuchs“ beschrieben wird, etwa, wenn die Erzählerin sich jeden Tag einen Molch unter die Zunge legt, der dort einschläft; wenn sie sich daran hindern muss, das Fuchssperma zu schlucken, weil es so gut schmeckt, oder von den Polarlichtern penetriert wird: „Ich werde aufgeschlitzt bis zum Bauch, meine Leber leuchtet, die Blase wird freigelegt. Eine unvorstellbare Säule grünen Lichts bohrt sich in meine Vagina und meinen Anus zugleich. Meine Klitoris explodiert.“
Schade, dass die körperliche Unmittelbarkeit von Tagaqs Sprache es nur sehr ungleichmäßig ins Deutsche geschafft hat. So wechseln sich in Anke Caroline Burgers Übersetzung Kapitel, in denen sie ganz deutlich zu spüren ist, mit Textstellen ab, denen eine merkwürdig altmodische Betulichkeit anhaftet. Formulierungen wie „steige hektisch in die Hosen“, „sie packt mich am Schlafittchen“ oder „ein Schwips wäre das Risiko wert“ wollen weder zur Teenagersprache der Erzählerin noch zum Überzeitlichen der Inuit-Mythen passen.
Besonders irritierend ist das in den Gedichten, bei denen die Übersetzerin sich offenbar an die Zeilenumbrüche des Englischen gehalten hat, die im Deutschen artifiziell wirken, während von Rhythmus, Direktheit und Klanglichkeit des Originals wenig zu spüren ist. So ist „Eisfuchs“ auch auf Deutsch eine im besten Sinne verunsichernde, perspektiverweiternde Lektüre; von der poetischen Sprache, die viele englischsprachige Kritiken Tanya Tagaq bescheinigen, bekommt man hingegen leider nur einen schwachen Eindruck.
Tanya Tagaq: Eisfuchs. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Kunstmann, München 2020. 195 Seiten, 20 Euro.
2004 kooperierte Tagaq
mit der Sängerin Björk auf
deren Album „Medúlla“
„Ich werde aufgeschlitzt
bis zum Bauch,
meine Leber leuchtet“
Vor ihrem literarischen Debüt war sie vor allem als Sängerin bekannt, die in ihren Songs mit einem Inuit-Kehlkopfgesang arbeitete: die kanadische Autorin Tanya Tagaq.
Foto: Dave Brosha
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tanya Tagaq erzählt von der Welt der Inuit,
ohne sie westlichen Literaturtraditionen unterzuordnen
VON LEA SCHNEIDER
In „Eisfuchs“, dem Debütroman der kanadischen Autorin Tanya Tagaq, kommen unter anderem vor: Oralsex mit einem Fuchs, Gedichte auf Inuinnaqtun (einer der indigenen Sprachen Nordkanadas), Polarlichter, die in den Körper eindringen und ein junges Mädchen schwängern. Auf knapp 200 Seiten mischt das Buch die Genres, sprachlichen Register und Stilformen mit einer programmatischen Unvorhersehbarkeit, die den Kunstmann Verlag, wo das Buch in deutscher Übersetzung erschienen ist, aus guten Gründen davon abgehalten haben dürfte, die Bezeichnung „Roman“ aufs Cover zu setzen.
Tatsächlich gilt Tagaqs Werk in der englischsprachigen Welt als Paradebeispiel eines genreverweigernden Genres, das Daniel Heath Justice, Professor für Indigene Studien an der University of British Columbia, als „wonderwork“ bezeichnet. Dahinter steckt der Gedanke, dass im heute geläufigen literarischen Gattungsbegriff des Romans zahlreiche Konzepte der westlichen Moderne impliziert sind – etwa die Vorstellung einer linear ablaufenden Zeit oder eines von der Gemeinschaft klar abzugrenzenden Individuums – die mit indigenen Literaturtraditionen und Wissenssystemen unvereinbar sind.
„Wonderworks“ sprengen diese Gattungsbegriffe, indem sie, wie Tagaqs Buch, ein lineares Fortschreiten der Erzählung oder psychologische Erklärungen für die Handlungen ihrer Figuren an vielen Stellen verweigern und stattdessen hin und her springen: Zwischen autofiktionalen Sequenzen, Gedichten, Traumtagebüchern, romanartigen Erzählsträngen und der Verschriftlichung oral tradierter Mythen wie der Qaujimajatuqangit, traditioneller Inuit-Erzählungen zur Wissensweitergabe.
Vor ihrem literarischen Debüt ist Tanya Tagaq als Folkmusikerin einer Form des Inuit-Kehlkopfgesangs bekannt geworden. 2004 kollaborierte sie mit der isländischen Sängerin Björk für deren Album „Medúlla“, seitdem sind fünf zum Teil mehrfach ausgezeichnete Solo-Alben erschienen. Eines der durchgängigen Themen in diesen Songs ist der Animismus, also die Vorstellung, dass alle Bestandteile der Natur ebenso beseelt sind wie der Mensch; ein anderes die kaum erträgliche strukturelle und direkte Gewalt, denen die Inuit wie andere kolonialisierte Nationen bis heute ausgesetzt sind.
Im Residential-School-System, das in Kanada bis in die 1980er Jahre Bestand hatte, wurden die Kinder indigener Gruppen gewaltsam von ihren Eltern getrennt und in Internaten untergebracht, in denen ihre Sprachen und religiösen Praktiken verboten waren. Viele Schüler starben aufgrund mangelnder Hygiene an Krankheiten oder Mangelernährung, ebenso viele wurden sexuell missbraucht. Das intergenerationelle Trauma dieses kulturellen Genozids besingt Tagaq in ihren extrem körperlichen Performances ebenso wie die Zerstörung der Lebensgrundlagen einer nomadischen Kultur durch die Klimakatastrophe und ihre Folgen: Drogenabhängigkeit, Depression, Armut, eine bedrückend hohe Vergewaltigungsrate unter indigenen Frauen.
All diese Themen beschreibt auch die namenlose Erzählerin, deren Erwachsenwerden in „Eisfuchs“ geschildert wird. Die stumpfe Gewalt des kolonialen Systems tritt dabei in ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis mit den persönlichen Gewaltfantasien der Erzählerin, die zugleich Ausdruck von Lebenslust und Emanzipation, in jedem Fall aber sehr lustvoll zu sein scheinen: „Er ist klein. Er ist ein Opfer. Ich finde ihn zum Kotzen“, heißt es da etwa über einen Lehrer, der die Residential School in seiner Kindheit überlebt hat, oder: „Hätte ich je Gelegenheit, einen Feind zu foltern, dann würde ich ihn in der Mückensaison nackt in die Tundra schicken, die Hände auf dem Rücken gefesselt.“ Durchs ganze Buch zieht sich so eine erstaunliche Ausdifferenzierung verschiedener Qualitäten von Gewalt, und damit auch die Postulierung einer unmittelbaren Nachbarschaft von Gewalt und Gnade, Schönheit und Tod.
Mindestens ebenso ungewohnt und blickerweiternd ist die drastische und zugleich ekstatische Körperlichkeit, die in „Eisfuchs“ beschrieben wird, etwa, wenn die Erzählerin sich jeden Tag einen Molch unter die Zunge legt, der dort einschläft; wenn sie sich daran hindern muss, das Fuchssperma zu schlucken, weil es so gut schmeckt, oder von den Polarlichtern penetriert wird: „Ich werde aufgeschlitzt bis zum Bauch, meine Leber leuchtet, die Blase wird freigelegt. Eine unvorstellbare Säule grünen Lichts bohrt sich in meine Vagina und meinen Anus zugleich. Meine Klitoris explodiert.“
Schade, dass die körperliche Unmittelbarkeit von Tagaqs Sprache es nur sehr ungleichmäßig ins Deutsche geschafft hat. So wechseln sich in Anke Caroline Burgers Übersetzung Kapitel, in denen sie ganz deutlich zu spüren ist, mit Textstellen ab, denen eine merkwürdig altmodische Betulichkeit anhaftet. Formulierungen wie „steige hektisch in die Hosen“, „sie packt mich am Schlafittchen“ oder „ein Schwips wäre das Risiko wert“ wollen weder zur Teenagersprache der Erzählerin noch zum Überzeitlichen der Inuit-Mythen passen.
Besonders irritierend ist das in den Gedichten, bei denen die Übersetzerin sich offenbar an die Zeilenumbrüche des Englischen gehalten hat, die im Deutschen artifiziell wirken, während von Rhythmus, Direktheit und Klanglichkeit des Originals wenig zu spüren ist. So ist „Eisfuchs“ auch auf Deutsch eine im besten Sinne verunsichernde, perspektiverweiternde Lektüre; von der poetischen Sprache, die viele englischsprachige Kritiken Tanya Tagaq bescheinigen, bekommt man hingegen leider nur einen schwachen Eindruck.
Tanya Tagaq: Eisfuchs. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Kunstmann, München 2020. 195 Seiten, 20 Euro.
2004 kooperierte Tagaq
mit der Sängerin Björk auf
deren Album „Medúlla“
„Ich werde aufgeschlitzt
bis zum Bauch,
meine Leber leuchtet“
Vor ihrem literarischen Debüt war sie vor allem als Sängerin bekannt, die in ihren Songs mit einem Inuit-Kehlkopfgesang arbeitete: die kanadische Autorin Tanya Tagaq.
Foto: Dave Brosha
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