Nackt und bleich und blutüberströmt durchstreift eine junge Frau barfüßig die vom Mond nur schwach beleuchtete süditalienische Landschaft Apuliens. Längs ihrer Beine sind Striemen zu erkennen, Blutergüsse an den Hüften, das Gesicht geschwollen. Als sie endlich die Straße erreicht, sind die Scheinwerfer eines Lastwagens das letzte, was sie sieht. Ein vom Vater selbst, dem aus dem Nichts zu Reichtum gelangten Bauunternehmer Vittorio Salvemini, als Selbstmord verschleierter Mord an seiner eigenen Tochter wird zum Kulminationspunkt einer aus Gier, Gewalt, Korruption und Erpressung aufgebauten Karriere. Es ist am Ende der Bruder, der seine Schwester rächen und den Vater vernichten wird. Nicola Lagioia seziert in EISKALTER SÜDEN mit wuchtiger und immer wieder auch behutsamer Sprache die dunkelsten Seiten der menschlichen Natur, die bei der unaufhaltsamen Jagd nach Macht, Ansehen, Geltung und Reichtum vor keinen Auswüchsen und Perversionen zurückschreckt. Indem er in diesem Meisterwerk Familienroman – mit all den verqueren gegenseitigen Abhängigkeiten der Figuren – und spannungsgeladenen Thriller miteinander verschränkt, liefert er ein erschreckend aktuelles und gleichzeitig fast mythisches Bild der italienischen Gegenwartsgesellschaft. Lagioias Roman ist auch Teil eines literarischen Aufschreis einer jungen Generation italienischer Autoren, gegen eine Generation, die das Land und seine Bewohner mit Spekulation und Korruption unterwandert und damit das Gemeinwesen zerstört hat. Trotz aller Gewalt, Niederträchtigkeit und Ignoranz schimmert in seinem Roman immer auch ein literarischer Humanismus als verlorene Gegenwelt durch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2016In den Klauen der Blutsverwandtschaft
Nur der Krimi bietet wahren Realismus: Der Italiener Nicola Lagioia legt mit "Eiskalter Süden" einen preisgekrönten Roman vor, der ins grausame Herz eines apulischen Clans führt. Eine Gegenwartsanalyse.
Die Kanalrattenszene: Eine Hauskatze hat den gepflegten Garten der Villa verlassen. Auf ihrem Streifzug verirrt sie sich in den Vororten von Bari und trifft auf einen riesigen Nager: "Die Kanalratte starrte sie aus ihren kleinen Augen an. Ihre Schneidezähne waren so lang, dass sie gezwungen war, die Schnauze stets halb geöffnet zu halten. Sie warf sich auf sie. Bevor sie ihre Zähne in sie schlagen konnte, machte die Katze einen Sprung in die Luft, streifte den Leib der Ratte, und als sie aufs Gras zurückfiel, hatte sie die Krallen ausgefahren." Es folgt ein tödlicher Kampf, im Laufe dessen der "verborgene Teil" des Haustiers wieder von ihm Besitz ergreift: Es wird zur "Raubkatze", in ihrer Kehle" gurgelte etwas Dichtes und Tiefes. Sie hatte die Vene gefunden. Sie war erregt, elektrisiert. Sie spürte das letzte Zucken des Gegners unter den hellen Strahlen des Mondes."
Ein Streicheltier wird am Ende von Nicola Lagioias Roman "Eiskalter Süden" zum Miniaturtiger. Der treffendere Originaltitel "La ferocia" (Die Grausamkeit, Wildheit) spielt auf diese Verwandlung an, und die packend erzählte Szene wird dadurch brillant, dass sie - so könnte man meinen - den Fluchtpunkt des ganzen Romans bildet. Denn Michele, der Katze Herrchen, bewundert nicht nur "La visita della sera", ein Gemälde von Renato Guttuso, das einen Tiger in der Stadt zeigt, sondern fährt wenig später selbst scharfe Krallen aus. Als Michele rekonstruiert, wie es geschehen konnte, dass seine Halbschwester Clara misshandelt bei einem Unfall starb, den ihr Vater seit Monaten als Selbstmord ausgibt, schreitet er zwar zur Tat, um die Familie büßen zu lassen. Aber Micheles Rache ist anders geartet als der blutrünstige Kill seiner Katze: "Wir verhalten uns absurd. Wir sind unvorhersehbar", teilt er seinem verdutzten Gegenüber mit, das nur die Hände senken und den Kopf schütteln kann.
Der Showdown krönt einen Roman, der 2015 den Premio Strega, den wichtigsten italienischen Literaturpreis, erhalten hat. Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, heute in Rom lebend und gerade zum Direktor der Turiner Buchmesse ernannt, versteht es, seine Heimatstadt in einer Sittenfreske einzufangen. Das Zentrum Baris und des Romans ist Vittorio Salvemini, Claras Vater, Kopf eines Bauunternehmens, der seine Kinder durch ein Geflecht von notariellen und emotionalen Erpressungen an sich fesselt. Der Fünfundsiebzigjährige hält die Zügel fest in der Hand: Im Moment von Claras Tod droht die Justiz sein wichtigstes Projekt, eine Villensiedlung auf der Gargano-Halbinsel, auf Eis zu legen und das fragile System von Zahlungsströmen auszutrocknen. Zynisch zückt der Patriarch die neue Karte: Drei Liebhaber seiner Tochter sind durch ihr Ableben erpressbar geworden.
Der Rest der Familie sieht zu: die gebildete, aber passive Gattin Annamaria, der Älteste Ruggero, stellvertretender Direktor der Onkologie, ein Arbeitstier und Sozialkrüppel, Gioia, die Jüngste, die so hirnlos wie manipulativ ist; am Rande steht Ehemann Alberto, ein willensschwacher, beruflich von Vittorio abhängiger Ingenieur. Brisant wird die Konstellation, als Michele zurückkommt: Der junge Mann, der mit dreißig Jahren neben einer stolzen psychiatrischen nur eine kleine journalistische Karriere vorweisen kann, hatte sich nach Rom verabschiedet, um fern der Familie eine stabile Existenz aufzubauen; das scheint höchstens ansatzweise gelungen zu sein. Nun kommt er samt Katze heim und verwandelt sich in das geheime Kraftzentrum der Handlung.
Lagioia beschränkt sich nicht darauf, die Familiengeschichte von ihrem katastrophalen Ende aus nachzuerzählen, er macht sie zum Teil einer Kriminalhandlung, die weit in die Gesellschaft ausgreift. Clara war eine notorische Fremdgängerin und hat es mit den ehrbarsten Bürger der Stadt getrieben: Renato Costantini, Universitätspräsident, Valentino Buffante, ehemaliger Staatssekretär und Vorsitzender einer Stiftung, sowie Mimmo Russo, Vorsitzender Richter am Berufungsgericht in Bari - alternde Männer, die ihre Libido durch das Quälen jungen Fleisches anstacheln. Die drei haben sich hervorgetan, aber Clara hat halb Bari ihren perfekten Körper angeboten, vom Betreiber eines Fitnesszentrums bis zum Journalisten: Lagioia bedient sich der Figur, um den Mikrokosmos einer Stadt und die korrupte Realität des Mezzogiorno einzufangen.
Vincenzo Latronicos "Die Verschwörung der Tauben" und nun Lagioias "Eiskalter Süden": der Secession Verlag präsentiert gleich zwei junge italienische Autoren, die in der Nachfolge von Leonardo Sciascia daran glauben, dass nur der Krimi wahren Realismus bietet. Man mag sie als typisch italienisch abtun, Tatsache ist, dass diese abgeklärte Sicht überzeugende Gegenwartsanalysen erlaubt. Gemein haben beide Romane auch, dass die Aktivitäten in der korruptionsfreudigen Baubranche angesiedelt sind. Lagioia sorgt allerdings für Ausgleich: Es mangelt nicht an koksschniefenden Amtsärzten, geilen Chirurgen, DMT rauchenden Flyerverteilern im Froschkostüm und bestechlichen Würdenträgern jeder Couleur.
Der Kern freilich bleibt die Familiengeschichte, vor allem die fast inzestuöse Bindung zwischen Clara und Michele; nicht umsonst begeistert Letzterer sich für die Lyrik Georg Trakls. Die Anziehung der Halbgeschwister verweist auf einen Riss im Familienfundament: Michele ist der Sohn Micaelas, einer Geliebten Vittorios, die bei der Geburt verstarb. Annamaria adoptiert das Kind, das fast ihre Ehe gesprengt hätte, und Michele wächst als Außenseiter in der Familie auf. Er fasziniert Clara, die beiden entwickeln ein stillschweigendes Einverständnis, und Clara übernimmt Micheles kritische Sicht.
Das Leben trennt sie, Michele muss zum Militär, kommt nach einer heftigen Krise in die Psychiatrie, sucht schließlich sein Heil in der Flucht. Clara hält es nicht aus: Stilsicher stürzt die blendend schöne Frau sich erst in eine Ehe mit dem Langweiler Alberto und dann in Sex- und Drogenexzesse, die sie zerstören: "Bleich. Auf skandalöse Weise mager, als würde unter der gespannten Haut ihrer sechsunddreißig Jahre ein Skelett voller Hohn zum Vorschein kommen. Eine bösartige Erscheinung, die alles auf den Kopf stellen wollte. Besessen von einem Plan, von dem Alberto ausgeschlossen war."
Familiäre Bande bestimmen unser Denken und Handeln: "Die Blutsverwandten werden nie müde, uns ins Verhör zu nehmen. Sie legen ihre Stimme in unserem Innern ab. Sie ist es, die in ihrer Abwesenheit zu uns spricht." Sie sorgen sogar dafür, dass Carla über einen Twitter-Account zum Leben erwacht. Darauf läuft Lagioias minutiöse Analyse hinaus: Es existiert eine Kopie des anderen in unserem Kopf. Clara treibt sie in einen Selbstmord auf Raten, Michele in die Zerstörung jener Familie, in deren Spalten ihre Bindung gewachsen ist wie eine Asphaltblume. "Eiskalter Süden" will mentale Mechanismen und Zustände in Bilder fassen, selbst wenn sie halb- oder unbewusst sind. Lagioias Stil ist daher innerlich und dicht, mitunter dunkel, passagenweise verstiegen.
Wer hat's getan? Das ist nicht entscheidend. So rätselhaft die Dinge sind, die sich in Bari zutragen, in letzter Konsequenz scheint nicht einmal das Motiv ausschlaggebend. "Wie schön die Schöpfung doch war und wie dumm", sinniert Richter Russo am Ende des Romans. Der Lüstling hat recht: Wie ist überhaupt ein Leben möglich in diesem Kosmos krepierender Nachtfalter, riesiger Kanalratten und dysfunktionaler Familien - jene "verkrustete Verschmelzung von Irren"? Nach der Lektüre von "Eiskalter Süden" wird man die Frage so schnell nicht los.
NIKLAS BENDER
Nicola Lagioia: "Eiskalter Süden". Roman.
Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Secession Verlag für Literatur, Berlin 2016. 528 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur der Krimi bietet wahren Realismus: Der Italiener Nicola Lagioia legt mit "Eiskalter Süden" einen preisgekrönten Roman vor, der ins grausame Herz eines apulischen Clans führt. Eine Gegenwartsanalyse.
Die Kanalrattenszene: Eine Hauskatze hat den gepflegten Garten der Villa verlassen. Auf ihrem Streifzug verirrt sie sich in den Vororten von Bari und trifft auf einen riesigen Nager: "Die Kanalratte starrte sie aus ihren kleinen Augen an. Ihre Schneidezähne waren so lang, dass sie gezwungen war, die Schnauze stets halb geöffnet zu halten. Sie warf sich auf sie. Bevor sie ihre Zähne in sie schlagen konnte, machte die Katze einen Sprung in die Luft, streifte den Leib der Ratte, und als sie aufs Gras zurückfiel, hatte sie die Krallen ausgefahren." Es folgt ein tödlicher Kampf, im Laufe dessen der "verborgene Teil" des Haustiers wieder von ihm Besitz ergreift: Es wird zur "Raubkatze", in ihrer Kehle" gurgelte etwas Dichtes und Tiefes. Sie hatte die Vene gefunden. Sie war erregt, elektrisiert. Sie spürte das letzte Zucken des Gegners unter den hellen Strahlen des Mondes."
Ein Streicheltier wird am Ende von Nicola Lagioias Roman "Eiskalter Süden" zum Miniaturtiger. Der treffendere Originaltitel "La ferocia" (Die Grausamkeit, Wildheit) spielt auf diese Verwandlung an, und die packend erzählte Szene wird dadurch brillant, dass sie - so könnte man meinen - den Fluchtpunkt des ganzen Romans bildet. Denn Michele, der Katze Herrchen, bewundert nicht nur "La visita della sera", ein Gemälde von Renato Guttuso, das einen Tiger in der Stadt zeigt, sondern fährt wenig später selbst scharfe Krallen aus. Als Michele rekonstruiert, wie es geschehen konnte, dass seine Halbschwester Clara misshandelt bei einem Unfall starb, den ihr Vater seit Monaten als Selbstmord ausgibt, schreitet er zwar zur Tat, um die Familie büßen zu lassen. Aber Micheles Rache ist anders geartet als der blutrünstige Kill seiner Katze: "Wir verhalten uns absurd. Wir sind unvorhersehbar", teilt er seinem verdutzten Gegenüber mit, das nur die Hände senken und den Kopf schütteln kann.
Der Showdown krönt einen Roman, der 2015 den Premio Strega, den wichtigsten italienischen Literaturpreis, erhalten hat. Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, heute in Rom lebend und gerade zum Direktor der Turiner Buchmesse ernannt, versteht es, seine Heimatstadt in einer Sittenfreske einzufangen. Das Zentrum Baris und des Romans ist Vittorio Salvemini, Claras Vater, Kopf eines Bauunternehmens, der seine Kinder durch ein Geflecht von notariellen und emotionalen Erpressungen an sich fesselt. Der Fünfundsiebzigjährige hält die Zügel fest in der Hand: Im Moment von Claras Tod droht die Justiz sein wichtigstes Projekt, eine Villensiedlung auf der Gargano-Halbinsel, auf Eis zu legen und das fragile System von Zahlungsströmen auszutrocknen. Zynisch zückt der Patriarch die neue Karte: Drei Liebhaber seiner Tochter sind durch ihr Ableben erpressbar geworden.
Der Rest der Familie sieht zu: die gebildete, aber passive Gattin Annamaria, der Älteste Ruggero, stellvertretender Direktor der Onkologie, ein Arbeitstier und Sozialkrüppel, Gioia, die Jüngste, die so hirnlos wie manipulativ ist; am Rande steht Ehemann Alberto, ein willensschwacher, beruflich von Vittorio abhängiger Ingenieur. Brisant wird die Konstellation, als Michele zurückkommt: Der junge Mann, der mit dreißig Jahren neben einer stolzen psychiatrischen nur eine kleine journalistische Karriere vorweisen kann, hatte sich nach Rom verabschiedet, um fern der Familie eine stabile Existenz aufzubauen; das scheint höchstens ansatzweise gelungen zu sein. Nun kommt er samt Katze heim und verwandelt sich in das geheime Kraftzentrum der Handlung.
Lagioia beschränkt sich nicht darauf, die Familiengeschichte von ihrem katastrophalen Ende aus nachzuerzählen, er macht sie zum Teil einer Kriminalhandlung, die weit in die Gesellschaft ausgreift. Clara war eine notorische Fremdgängerin und hat es mit den ehrbarsten Bürger der Stadt getrieben: Renato Costantini, Universitätspräsident, Valentino Buffante, ehemaliger Staatssekretär und Vorsitzender einer Stiftung, sowie Mimmo Russo, Vorsitzender Richter am Berufungsgericht in Bari - alternde Männer, die ihre Libido durch das Quälen jungen Fleisches anstacheln. Die drei haben sich hervorgetan, aber Clara hat halb Bari ihren perfekten Körper angeboten, vom Betreiber eines Fitnesszentrums bis zum Journalisten: Lagioia bedient sich der Figur, um den Mikrokosmos einer Stadt und die korrupte Realität des Mezzogiorno einzufangen.
Vincenzo Latronicos "Die Verschwörung der Tauben" und nun Lagioias "Eiskalter Süden": der Secession Verlag präsentiert gleich zwei junge italienische Autoren, die in der Nachfolge von Leonardo Sciascia daran glauben, dass nur der Krimi wahren Realismus bietet. Man mag sie als typisch italienisch abtun, Tatsache ist, dass diese abgeklärte Sicht überzeugende Gegenwartsanalysen erlaubt. Gemein haben beide Romane auch, dass die Aktivitäten in der korruptionsfreudigen Baubranche angesiedelt sind. Lagioia sorgt allerdings für Ausgleich: Es mangelt nicht an koksschniefenden Amtsärzten, geilen Chirurgen, DMT rauchenden Flyerverteilern im Froschkostüm und bestechlichen Würdenträgern jeder Couleur.
Der Kern freilich bleibt die Familiengeschichte, vor allem die fast inzestuöse Bindung zwischen Clara und Michele; nicht umsonst begeistert Letzterer sich für die Lyrik Georg Trakls. Die Anziehung der Halbgeschwister verweist auf einen Riss im Familienfundament: Michele ist der Sohn Micaelas, einer Geliebten Vittorios, die bei der Geburt verstarb. Annamaria adoptiert das Kind, das fast ihre Ehe gesprengt hätte, und Michele wächst als Außenseiter in der Familie auf. Er fasziniert Clara, die beiden entwickeln ein stillschweigendes Einverständnis, und Clara übernimmt Micheles kritische Sicht.
Das Leben trennt sie, Michele muss zum Militär, kommt nach einer heftigen Krise in die Psychiatrie, sucht schließlich sein Heil in der Flucht. Clara hält es nicht aus: Stilsicher stürzt die blendend schöne Frau sich erst in eine Ehe mit dem Langweiler Alberto und dann in Sex- und Drogenexzesse, die sie zerstören: "Bleich. Auf skandalöse Weise mager, als würde unter der gespannten Haut ihrer sechsunddreißig Jahre ein Skelett voller Hohn zum Vorschein kommen. Eine bösartige Erscheinung, die alles auf den Kopf stellen wollte. Besessen von einem Plan, von dem Alberto ausgeschlossen war."
Familiäre Bande bestimmen unser Denken und Handeln: "Die Blutsverwandten werden nie müde, uns ins Verhör zu nehmen. Sie legen ihre Stimme in unserem Innern ab. Sie ist es, die in ihrer Abwesenheit zu uns spricht." Sie sorgen sogar dafür, dass Carla über einen Twitter-Account zum Leben erwacht. Darauf läuft Lagioias minutiöse Analyse hinaus: Es existiert eine Kopie des anderen in unserem Kopf. Clara treibt sie in einen Selbstmord auf Raten, Michele in die Zerstörung jener Familie, in deren Spalten ihre Bindung gewachsen ist wie eine Asphaltblume. "Eiskalter Süden" will mentale Mechanismen und Zustände in Bilder fassen, selbst wenn sie halb- oder unbewusst sind. Lagioias Stil ist daher innerlich und dicht, mitunter dunkel, passagenweise verstiegen.
Wer hat's getan? Das ist nicht entscheidend. So rätselhaft die Dinge sind, die sich in Bari zutragen, in letzter Konsequenz scheint nicht einmal das Motiv ausschlaggebend. "Wie schön die Schöpfung doch war und wie dumm", sinniert Richter Russo am Ende des Romans. Der Lüstling hat recht: Wie ist überhaupt ein Leben möglich in diesem Kosmos krepierender Nachtfalter, riesiger Kanalratten und dysfunktionaler Familien - jene "verkrustete Verschmelzung von Irren"? Nach der Lektüre von "Eiskalter Süden" wird man die Frage so schnell nicht los.
NIKLAS BENDER
Nicola Lagioia: "Eiskalter Süden". Roman.
Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Secession Verlag für Literatur, Berlin 2016. 528 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Niklas Bender findet Nicola Lagioias Thriller in guter italienischer Tradition packend erzählt. Das Sittengemälde zu Lagioias Heimatstadt Bari, das der Autor hier vorlegt, bietet Bender Einblicke in das korrupte Unternehmertum des Mezzogiorno, inzestuöse Familienkonstellationen und "mentale Mechanismen". Vor allem die illegalen Geschäfte der Baubranche kann der Autor dem Rezensenten überzeugend realistisch vermitteln, in einem dichten, laut Rezensent mitunter dunklen Stil. Die Frage, wer es war, scheint Bender hier nicht im Vordergrund zu stehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2016Die Tweets der toten Tochter
Hier wird dem Italien der Väter der Kampf angesagt: Nicola Lagioias preisgekrönter Roman „Eiskalter Süden“
Eine Schnellstraße zerschneidet die Landschaft. Brachen, Lagerhallen, ein paar Olivenbäume und Weinstöcke, vereinzelte Villen, eine Tankstelle mit einer gespenstischen Plastikpuppe auf dem Dach. In der Ferne ahnt man die Hochöfen von Tarent. Mit kühler Distanz tastet das Auge des Erzählers die Umgebung ab – um zwei Uhr früh, im Mondlicht, breitet sich ein Gefühl von Unwirklichkeit aus, so als habe sich alles Leben verflüchtigt. Und doch, es regt sich etwas: ein paar Eulen und dann Nachtfalter, die von den Schweinwerfern der Gärten in Schwärmen angezogen werden. Plötzlich taucht eine junge Frau auf. Ohne Kleider, barfuß, von blutigen Striemen bedeckt, geht sie mitten auf der Straße entlang. Eine Kanalratte huscht aus einer Sickergrube, als ein Lastwagen auf die schmale Gestalt zurast.
Mit diesen beklemmenden Bildern beginnt Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, Schriftsteller und Journalist, Moderator einer renommierten Kultursendung und designierter Direktor der Turiner Buchmesse, seinen vierten Roman „Eiskalter Süden“. Im vergangenen Jahr erhielt er dafür den wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. Das Elektrisierende des Anfangs hält über fünfhundert Seiten lang an. Der Tod der malträtierten Frau, die wenig später zerschmettert vor einem Parkhaus aufgefunden wird, bildet den Fluchtpunkt der Geschehnisse und wirkt wie eine Zündschnur. Hat Clara Salvemini, Tochter eines einflussreichen Bauunternehmers, sich umgebracht?
Ihr Tod ist ein Platzhalter in einem Gefüge, das nur ihr Halbbruder Michele dechiffrieren kann. Aber zuerst setzt sich ein Figurenkarussell in Bewegung, bei dem abwechselnd die Geschwister, der Lkw-Fahrer, die Eltern, Claras Witwer, der obduzierende Chirurg, Jugendfreunde, Geliebte, der Geometer des Vaters, ein investigativer Journalist, der Universitätspräsident und schließlich Michele selbst, als Literaturkritiker längst in Rom beheimatet, in den Vordergrund treten. Den Hintergrund der zersplitterten Handlung bildet die grell ausgeleuchtete Landschaft des Südens. Sie ist von Schwerindustrie und Bauspekulation gezeichnet und dennoch widerständig. Dazu passt die Allgegenwart der Tiere: Nachtfalter, Ameisen, Spinnen, Grillen, Wespen, Marienkäfer und Ratten bevölkern den Roman und entwickeln eine metaphorische Qualität. Ganz am Ende entdeckt Micheles Katze ihre Urinstinkte.
Auf den ersten Blick erzählt Nicola Lagioia eine Aufsteigergeschichte, gespickt mit Thrillerelementen, unterfüttert von einem Familienpsychogramm, Geschwisterliebe inklusive. Aber „Eiskalter Süden“ macht eine noch viel brisantere Rechnung auf. Es geht darum, wie sich die Elterngeneration Italien unter den Nagel riss und eine Art Neo-Neofeudalismus etablierte. Der Gegenspieler Micheles, als uneheliches Kind der Underdog des Clans, ist sein Vater Vittorio Salvemini, Prototyp eines Emporkömmlings.
Der Patriarch kam in den Siebzigerjahren vom Land nach Bari, erstritt sich mit Zähigkeit, Fleiß und günstigen Preisen einen Platz unter den alteingesessenen Firmeninhabern, heiratete die richtige Frau, expandierte bis nach Spanien und China und plant jetzt eine Großbaustelle an der apulischen Küste. Dass dafür eigentlich Bodenproben und Schadstoffanalysen notwendig wären, weiß er zu vermeiden. Der Unternehmer braucht die neue Villenanlage, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Es gibt eine untergründige Kraft, die Vittorio antreibt. Im Verismus, der italienischen Spielart des Naturalismus um 1880, hätte man von „la roba“ gesprochen. Das Zeug, die Sachen, die Habseligkeiten, also das, was man besitzt. Der Sizilianer Giovanni Verga hat ganze Romane darüber verfasst; nichts ist seinen Bauern und Grundbesitzern wichtiger als „la roba“. Dieser krude Materialismus kennzeichnet einen Teil Süditaliens bis in die Gegenwart hinein und befördert den Raubbau an der Natur, der das Land buchstäblich vergiftet.
Selbst die familiären Beziehungen werden nach ihrem Nutzen bemessen: Claras vermeintlicher Selbstmord wird zu einem Posten in Vittorios Kalkulation. Wie mit einem Röntgengerät durchleuchtet Lagioia das Geflecht aus Interessen, Abhängigkeiten und Gier und legt dabei Genealogien frei. Vittorios parasitäre Haltung setzt sich in seinem ältesten Sohn Ruggero fort, einem erfolgreichen Onkologen, der nur mit Prostituierten sein Gleichgewicht findet und auf das Erbe des Vaters spekuliert. Die jüngste Schwester Gioia, ein Produkt der Berlusconi-Ära, berechnend und verwöhnt, schlägt aus dem Tod der charismatischen Clara emotionalen Profit. Sie setzt munter Tweets im Namen der Älteren ab und erobert mit bestürzendem Machiavellismus ihren Platz in der Familie.
Nicola Lagioia vertritt einen grellen Realismus, der in romanischen Literaturen seit einigen Jahren mit einer eigenen, auch ästhetischen Radikalität formuliert wird. Im Hintergrund wirkt immer noch die Tradition der Moralistik. Es gibt nicht nur ein starkes Bewusstsein für die Krise, sondern auch für deren Sprengkraft und den drohenden gesellschaftlichen Zerfall. Ähnlich wie der Turiner Davide Longo in seiner Parabel „Der aufrechte Mann“ (2012) oder der Mailänder Vincenzo Latronico in seinem Generationenporträt „Die Verschwörung der Tauben“ (2016) wagt Lagioia eine gleißende Bestandsaufnahme.
Darüber vergisst er keineswegs seinen Plot. „Eiskalter Süden“ könnte packender kaum sein. Geschürt wird die Spannung auch durch die Form. Die Facettenaugen der Nachtfalter, die gleich zu Beginn auftauchen, nehmen das erzählerische Grundprinzip schon vorweg: Die Kette der Ereignisse wird in eine Fülle von Episoden zerteilt. Kurze, durch Absätze gegliederte Sequenzen prasseln auf den Leser ein, mit Perspektivverschiebungen und Wiederholungen von Schlüsselmomenten. Der Augenblick, in dem Clara die Straße betritt, die Nacht, in welcher der heranwachsende Michele die Familienvilla in Brand setzte, ein Weihnachtsfest, die Obduktion des Frauenkörpers – wieder und wieder werden diese Szenen aufgerollt, und jedes Mal verschiebt sich der Blickwinkel.
Die Sprache des formal versierten Autors passt zu seinem Sujet: Mal ist sie wuchernd expressionistisch, mal kristallin und abstrakt, die Dialoge sind knapp und zupackend. Manchmal freilich wirkt Lagioias Vorliebe für bildhafte Vergleiche etwas geschraubt: „Sakko und Hosen fielen wie ein Faksimile von Eleganz aus.“ Monika Lustig müht sich redlich, die stilistische Bandbreite des Originals zu erhalten, verstärkt das Preziöse eher und übersetzt häufig zu wörtlich. Gelegentlich mangelt es ein wenig an Sorgfalt. Vittorio wird „begleitet von Männern in spartanischer Anzahl“, die „squadra di uomini ridotta all’essenziale“ meint aber ganz einfach einen kleinen Trupp von Männern. Da ist von „Galerien“ die Rede, die in Wohngebiete führen, aber „gallerie“ sind Tunnel. Zigaretten haben ganz bestimmt keine „Ränder“, ein italienischer „bastardo“ ist kein „Bastard“, eher ein „Arschloch“, und Babytintenfische „vergehen“ nicht auf der Zunge, sondern „zergehen“.
Solche Kleinigkeiten aber ändern am Genuss der Lektüre wenig. Mit der Präzision eines Insektenforschers nimmt sich Nicola Lagioia in diesem so düsteren wie erhellenden Roman sein Land vor. Solange jemand vom eiskalten Süden so lebendig erzählt, bietet die Literatur einen Fluchtraum.
MAIKE ALBATH
Mit der Präzision eines
Insektenforschers nimmt sich
Lagioia sein Land vor
Nicola Lagioia: Eiskalter
Süden. Roman. Aus dem
Italienischen von Monika
Lustig. Secession Verlag,
Zürich 2016. 528 Seiten,
28 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hier wird dem Italien der Väter der Kampf angesagt: Nicola Lagioias preisgekrönter Roman „Eiskalter Süden“
Eine Schnellstraße zerschneidet die Landschaft. Brachen, Lagerhallen, ein paar Olivenbäume und Weinstöcke, vereinzelte Villen, eine Tankstelle mit einer gespenstischen Plastikpuppe auf dem Dach. In der Ferne ahnt man die Hochöfen von Tarent. Mit kühler Distanz tastet das Auge des Erzählers die Umgebung ab – um zwei Uhr früh, im Mondlicht, breitet sich ein Gefühl von Unwirklichkeit aus, so als habe sich alles Leben verflüchtigt. Und doch, es regt sich etwas: ein paar Eulen und dann Nachtfalter, die von den Schweinwerfern der Gärten in Schwärmen angezogen werden. Plötzlich taucht eine junge Frau auf. Ohne Kleider, barfuß, von blutigen Striemen bedeckt, geht sie mitten auf der Straße entlang. Eine Kanalratte huscht aus einer Sickergrube, als ein Lastwagen auf die schmale Gestalt zurast.
Mit diesen beklemmenden Bildern beginnt Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, Schriftsteller und Journalist, Moderator einer renommierten Kultursendung und designierter Direktor der Turiner Buchmesse, seinen vierten Roman „Eiskalter Süden“. Im vergangenen Jahr erhielt er dafür den wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. Das Elektrisierende des Anfangs hält über fünfhundert Seiten lang an. Der Tod der malträtierten Frau, die wenig später zerschmettert vor einem Parkhaus aufgefunden wird, bildet den Fluchtpunkt der Geschehnisse und wirkt wie eine Zündschnur. Hat Clara Salvemini, Tochter eines einflussreichen Bauunternehmers, sich umgebracht?
Ihr Tod ist ein Platzhalter in einem Gefüge, das nur ihr Halbbruder Michele dechiffrieren kann. Aber zuerst setzt sich ein Figurenkarussell in Bewegung, bei dem abwechselnd die Geschwister, der Lkw-Fahrer, die Eltern, Claras Witwer, der obduzierende Chirurg, Jugendfreunde, Geliebte, der Geometer des Vaters, ein investigativer Journalist, der Universitätspräsident und schließlich Michele selbst, als Literaturkritiker längst in Rom beheimatet, in den Vordergrund treten. Den Hintergrund der zersplitterten Handlung bildet die grell ausgeleuchtete Landschaft des Südens. Sie ist von Schwerindustrie und Bauspekulation gezeichnet und dennoch widerständig. Dazu passt die Allgegenwart der Tiere: Nachtfalter, Ameisen, Spinnen, Grillen, Wespen, Marienkäfer und Ratten bevölkern den Roman und entwickeln eine metaphorische Qualität. Ganz am Ende entdeckt Micheles Katze ihre Urinstinkte.
Auf den ersten Blick erzählt Nicola Lagioia eine Aufsteigergeschichte, gespickt mit Thrillerelementen, unterfüttert von einem Familienpsychogramm, Geschwisterliebe inklusive. Aber „Eiskalter Süden“ macht eine noch viel brisantere Rechnung auf. Es geht darum, wie sich die Elterngeneration Italien unter den Nagel riss und eine Art Neo-Neofeudalismus etablierte. Der Gegenspieler Micheles, als uneheliches Kind der Underdog des Clans, ist sein Vater Vittorio Salvemini, Prototyp eines Emporkömmlings.
Der Patriarch kam in den Siebzigerjahren vom Land nach Bari, erstritt sich mit Zähigkeit, Fleiß und günstigen Preisen einen Platz unter den alteingesessenen Firmeninhabern, heiratete die richtige Frau, expandierte bis nach Spanien und China und plant jetzt eine Großbaustelle an der apulischen Küste. Dass dafür eigentlich Bodenproben und Schadstoffanalysen notwendig wären, weiß er zu vermeiden. Der Unternehmer braucht die neue Villenanlage, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Es gibt eine untergründige Kraft, die Vittorio antreibt. Im Verismus, der italienischen Spielart des Naturalismus um 1880, hätte man von „la roba“ gesprochen. Das Zeug, die Sachen, die Habseligkeiten, also das, was man besitzt. Der Sizilianer Giovanni Verga hat ganze Romane darüber verfasst; nichts ist seinen Bauern und Grundbesitzern wichtiger als „la roba“. Dieser krude Materialismus kennzeichnet einen Teil Süditaliens bis in die Gegenwart hinein und befördert den Raubbau an der Natur, der das Land buchstäblich vergiftet.
Selbst die familiären Beziehungen werden nach ihrem Nutzen bemessen: Claras vermeintlicher Selbstmord wird zu einem Posten in Vittorios Kalkulation. Wie mit einem Röntgengerät durchleuchtet Lagioia das Geflecht aus Interessen, Abhängigkeiten und Gier und legt dabei Genealogien frei. Vittorios parasitäre Haltung setzt sich in seinem ältesten Sohn Ruggero fort, einem erfolgreichen Onkologen, der nur mit Prostituierten sein Gleichgewicht findet und auf das Erbe des Vaters spekuliert. Die jüngste Schwester Gioia, ein Produkt der Berlusconi-Ära, berechnend und verwöhnt, schlägt aus dem Tod der charismatischen Clara emotionalen Profit. Sie setzt munter Tweets im Namen der Älteren ab und erobert mit bestürzendem Machiavellismus ihren Platz in der Familie.
Nicola Lagioia vertritt einen grellen Realismus, der in romanischen Literaturen seit einigen Jahren mit einer eigenen, auch ästhetischen Radikalität formuliert wird. Im Hintergrund wirkt immer noch die Tradition der Moralistik. Es gibt nicht nur ein starkes Bewusstsein für die Krise, sondern auch für deren Sprengkraft und den drohenden gesellschaftlichen Zerfall. Ähnlich wie der Turiner Davide Longo in seiner Parabel „Der aufrechte Mann“ (2012) oder der Mailänder Vincenzo Latronico in seinem Generationenporträt „Die Verschwörung der Tauben“ (2016) wagt Lagioia eine gleißende Bestandsaufnahme.
Darüber vergisst er keineswegs seinen Plot. „Eiskalter Süden“ könnte packender kaum sein. Geschürt wird die Spannung auch durch die Form. Die Facettenaugen der Nachtfalter, die gleich zu Beginn auftauchen, nehmen das erzählerische Grundprinzip schon vorweg: Die Kette der Ereignisse wird in eine Fülle von Episoden zerteilt. Kurze, durch Absätze gegliederte Sequenzen prasseln auf den Leser ein, mit Perspektivverschiebungen und Wiederholungen von Schlüsselmomenten. Der Augenblick, in dem Clara die Straße betritt, die Nacht, in welcher der heranwachsende Michele die Familienvilla in Brand setzte, ein Weihnachtsfest, die Obduktion des Frauenkörpers – wieder und wieder werden diese Szenen aufgerollt, und jedes Mal verschiebt sich der Blickwinkel.
Die Sprache des formal versierten Autors passt zu seinem Sujet: Mal ist sie wuchernd expressionistisch, mal kristallin und abstrakt, die Dialoge sind knapp und zupackend. Manchmal freilich wirkt Lagioias Vorliebe für bildhafte Vergleiche etwas geschraubt: „Sakko und Hosen fielen wie ein Faksimile von Eleganz aus.“ Monika Lustig müht sich redlich, die stilistische Bandbreite des Originals zu erhalten, verstärkt das Preziöse eher und übersetzt häufig zu wörtlich. Gelegentlich mangelt es ein wenig an Sorgfalt. Vittorio wird „begleitet von Männern in spartanischer Anzahl“, die „squadra di uomini ridotta all’essenziale“ meint aber ganz einfach einen kleinen Trupp von Männern. Da ist von „Galerien“ die Rede, die in Wohngebiete führen, aber „gallerie“ sind Tunnel. Zigaretten haben ganz bestimmt keine „Ränder“, ein italienischer „bastardo“ ist kein „Bastard“, eher ein „Arschloch“, und Babytintenfische „vergehen“ nicht auf der Zunge, sondern „zergehen“.
Solche Kleinigkeiten aber ändern am Genuss der Lektüre wenig. Mit der Präzision eines Insektenforschers nimmt sich Nicola Lagioia in diesem so düsteren wie erhellenden Roman sein Land vor. Solange jemand vom eiskalten Süden so lebendig erzählt, bietet die Literatur einen Fluchtraum.
MAIKE ALBATH
Mit der Präzision eines
Insektenforschers nimmt sich
Lagioia sein Land vor
Nicola Lagioia: Eiskalter
Süden. Roman. Aus dem
Italienischen von Monika
Lustig. Secession Verlag,
Zürich 2016. 528 Seiten,
28 Euro. E-Book 21,99 Euro.
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