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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2003Sehen, Hören, Schweigen
Ein Buch, ein Palast: Baltasar Graciáns "Criticon", neu übersetzt
Die spanische Inquisition wird mit einer Atmosphäre von Geistfeindlichkeit, Denunziation und Bespitzelung verbunden, die auf das geistige Leben des Landes einen ähnlichen Einfluß ausübte wie die modernen Polizeiapparate in den totalitären Diktaturen des letzten Jahrhunderts. Wenn man populäre Schilderungen der spanischen Inquisition liest, glaubt man, es müsse eine geisterhafte Öde unter ihrem Regiment geherrscht haben. Daß es nicht nur verborgen blühende Veilchen waren, die unter der angeblich so lückenlos mißtrauischen Aufsicht gediehen, sondern eine wahre Pléiade von Genies, erscheint bei solchen Vorzeichen geradezu unwahrscheinlich.
Und doch war es so. Das spanische "Siglo de oro", das Goldene Zeitalter der spanischen Kunst und Literatur zwischen Philipp II. und Philipp IV., brachte eine Literatur hervor, deren warmer Sonnenglanz bis heute weit über die Landesgrenzen reicht und selbst den Hyperboräern noch leuchtet. Cervantes, Calderón, Gongora, Lope de Vega, Juan de la Cruz sind die großen Gestalten, die ihr Lebenswerk unter dem Flügelschatten der Inquisition schufen - weil es ihnen gelang, die Zensur der Inquisition zu unterlaufen? Oder weil sie todesmutig den Kampf mit der Zensur aufnahmen? Oder gar, weil sie am Ende mit den Prinzipien der Inquisition übereinstimmten?
Die letzte Frage auch nur zu stellen heißt, an eine moderne Denkunmöglichkeit zu rühren. Die Inquisition sollte die Entstehung literarischer Meisterwerke nicht nur nicht verhindert, sondern womöglich sogar noch gefördert haben? Die Antwort müssen uns neue, unbefangene literarhistorische Untersuchungen bringen. Baltasar Gracián gehört zum "Siglo de oro" als Nachzügler unbedingt dazu, obwohl es in seiner Lebenszeit (1601 bis 1658) - politisch jedenfalls - mit Spaniens Glück zu Ende ging.
Er stammte, worauf sein Nachname, die Übersetzung des hebräischen "hen" - "Gnade" - hindeutet, vielleicht aus einer Familie konvertierter Juden und wurde, wie alle seine Geschwister, Geistlicher. Als Mitglied des Jesuitenordens stand er unter einer gewissen Kontrolle, was seine Veröffentlichungen anging, ohne sich an diese an sich selbstverständliche Ordensdisziplin allerdings zu halten; seine Konflikte mit der Kirche berührten weniger den Inhalt seiner Werke als seine Gewohnheit, die Bücher immer ohne das "Nihil obstat" des Superiors drucken zu lassen. Und so bleibt es denn verblüffend, was ein Priester in Spaniens katholischem Jahrhundert schreiben konnte.
In Deutschland ist ein schmales Werk seiner Feder berühmt geworden: das "Handorakel" in der Übersetzung von Arthur Schopenhauer. Den jungen Schopenhauer lockte die bis zur Bitterkeit und zum Zynismus pessimistische Weltsicht des mondänen Priesters, der die Tugenden des bei Hof verkehrenden Edelmanns in kurzen, aphoristisch gedrechselten Kapiteln als eine Mischung aus Machiavelli und dem heiligen François de Sales beschrieb. Die täuschungsfreie Einsicht in die Verkommenheit der Menschennatur sollte den Höfling verschlossen bis zur Verschlagenheit, beherrscht bis zur Versteinerung und vorsichtig bis zur Abgestorbenheit werden lassen.
Nein, herzerwärmend ist der Charakter des Höflings, den Gracián im "Handorakel" beschwört, nicht, und die Verhaltensmaßregeln des kleinen, aber gewichtigen Werkes können seinen Erfolg nicht erklären. Es ist die glänzende Form, in die diese ernüchternde Weltsicht gehüllt ist, die den Leser immer noch fasziniert. Das siebzehnte Jahrhundert verstand die Kunst, hart und grausam über die Menschennatur zu sprechen, ohne dabei grau und trostlos zu werden. Die Desillusionierung geht hier immer mit großer Geste, gravitätischer Eleganz und prunkender Würde einher. Das Menschenelend wird mit Posaunen verkündet, bei deren Klang sich der Hörer strafft und sich sofort schon viel weniger elend fühlt. Angesichts der Schwäche und Gemeinheit der Welt forderte Gracián seine Leser auf, Könige ohne Land und Heilige zu werden, die sich in ihrer stoischen Vollkommenheit vom christlichen Heiligenideal allerdings deutlich unterschieden. Graciáns Heilige haben etwas mit den Dandys Baudelaires und Oscar Wildes gemeinsam; das gibt ihnen trotz höfischer Herkunft einen modernen Zug.
Was im "Handorakel" abstrakt und sentenzhaft zusammengedrängt war, hat Gracián in seinem monumentalen Roman "Criticón" breit entfaltet. Das Buch gehört unter den literarischen Berühmtheiten zu den nur durch ihren Titel und das Hörensagen bekannten Werken. In Deutschland lag immerhin schon im achtzehnten Jahrhundert eine Übersetzung vor; Schopenhauer übertrug eine Passage und Hanns Studniczka veröffentlichte 1957 eine Auswahl, die etwa ein Drittel der Textmasse ausmachte.
Hartmut Köhler hat nun, nach respektvoller Würdigung der Studniczkaschen Arbeit, eine eigene Gesamtübertragung des "Criticón" vorgelegt und damit diese Legende den Deutschen zu Besichtigung und Überprüfung freigegeben. Seine Übersetzung bemüht sich um Knappheit und Prägnanz, um einen Text voll ornamentaler Windungen und Schleifen nicht noch durch sprachliche Archaismen und Umständlichkeiten zu belasten. Für die den Roman durchziehenden, geradezu sein Konstruktionsprinzip bildenden Spiele mit den verschiedenen Bedeutungen eines Wortes oder ähnlich klingender Wörter hat er eine mutige Entscheidung getroffen, die sich in Zukunft hoffentlich viele Übersetzer zu eigen machen werden: Er versucht die Nachahmung des Wortspiels nur in den seltenen Fällen, in denen sie sich im Deutschen zwanglos ergibt, und läßt in allen übrigen Fällen das Spanische stehen, selbstverständlich in einer Fußnote erläutert. So fällt kein Wortspiel unter den Tisch, der Text wird nicht durch Verquältes und Halbgeglücktes verunziert, und der Leser lernt ein bißchen Spanisch und atmet ahnungsweise die Luft der fremden Sprache.
Man kann Köhler für diese Entscheidung, die eigentlich so naheliegend ist, nicht genügend danken. "Roman" wird das "Criticón" genannt, aber mit einem Roman in unserem Verständnis hat das Werk wenig zu tun. Natürlich gehört es in die lange und glorreiche Reihe der Schilderungen einer hochbedeutsamen Reise, die mit Odysseus und Sindbad dem Seefahrer beginnt, Dantes Himmel-und-Höllen-Fahrt einschließt und bei Candide und Alice im Wunderland keineswegs endet. Von den genannten Werken unterscheidet sich das "Criticón" durch die konsequente, niemals unterbrochene Allegorisierung. Man erinnere sich der Sturzbäche von Sprichwörtern, die Sancho Pansa, gleichfalls Held eines Reisebuches, ungebeten von sich zu geben pflegt: Bei Gracián ist es, als seien die Sprichwörter unversehens alle lebendig und Eigenwesen geworden. Die Allegorie des achtzehnten Jahrhunderts war ein hilfloser Versuch, blassen Begriffen ein wenig Sinnlichkeit mitzugeben. Graciáns Allegorien hingegen sind noch vom Geist der Renaissance erfüllt. Man sieht bei der Lektüre des "Criticón" die großen allegorischen Kompositionen Mantegnas vor sich.
Graciáns Allegorien sind, mit den Augen eines Aristoteles gesehen, wirkliche Verkörperungen, ja Seinsformen der Begriffe. Wenn Dante die Seelen der Menschen im Jenseits besucht, begegnet Gracián in seiner Kunstwelt gleichsam den Seelen der Begriffe, die je nach ihrer Natur einen mißtönenden oder berauschenden ewigen Gesang von sich geben. Die Stimmung von Monteverdi-Opern ist nahe; überhaupt ist das "Criticón" ein in Sprache übersetztes Gesamtkunstwerk aus Musik und Malerei. Der Leser bewegt sich durch das Buch wie durch einen unabsehbar großen Palast, in dem ihm ein geheimnisvoller Kastellan die Fresken und Wandteppiche erklärt.
Hinter dem Bilder- und Sprachprunk des "Criticón" steht jedoch kein mystisches, märchenhaftes Weltbild sondern die Doktrin eines skeptischen Rationalismus. Die Vernunft ist die Königin des "Criticón". Bei allen allegorischen und emblematischen Szenen während der Lebensreise von Critilo und Andrenio durch das Labyrinth der Ränke und Chimären geht es um den Kampf zwischen engaño und desengaño, Illusion und Enttäuschung. Wenn man das Jahrhundert der Aufklärung, das achtzehnte, "Jahrhundert der Vernunft" genannt hat, hätte man mit noch viel größerem Recht das siebzehnte ein "Jahrhundert der Vernunft" nennen müssen. Der entscheidende Unterschied zwischen der Vernunft-Verehrung eines Gracián und der eines aufgeklärten Enzyklopädisten liegt, das wird beim Lesen des "Criticón" deutlich, nicht im Bereich des Vernünftigen selbst, sondern in der Hoffnung, die in die Vernunft gesetzt wird. "Die Welt ist aus den Fugen / weh mir, daß ich berufen bin, sie einzurenken!" ruft Hamlet und offenbart sich damit für Gracián als Geisteskranker oder für Molière - man denke an den "Misanthropen" - als lächerlich. "Die Welt steht auf dem Kopf, man muß sie verkehrt herum betrachten, um sich richtig zu sehen", erfährt Critilo, aber zugleich: "Nur die Toren werden versuchen, sie zurechtzurücken." Für den Rationalisten des siebzehnten Jahrhunderts ist die Welt unreformierbar: "Immer war sie schon, wie sie ist." Die spätere Hoffnung, die Vernunft werde die Welt zum Licht führen, hätte Gracián als Gipfel des engaño, als verblendete Illusion, begriffen. "Sehen, hören, schweigen" wird zur Devise des Critilo. Carl Schmitt hat sich in seiner Liebe zum spanischen siebzehnten Jahrhundert "Don Capisco" genannt. Auch Gracián ist ein solcher "Don Capisco" gewesen.
MARTIN MOSEBACH
Baltasar Gracián: "Das Kritikon". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Hartmut Köhler. Nachwort von Hans Rüdiger Schwab. Ammann Verlag, Zürich 2001. 1013 S., geb., 65,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch, ein Palast: Baltasar Graciáns "Criticon", neu übersetzt
Die spanische Inquisition wird mit einer Atmosphäre von Geistfeindlichkeit, Denunziation und Bespitzelung verbunden, die auf das geistige Leben des Landes einen ähnlichen Einfluß ausübte wie die modernen Polizeiapparate in den totalitären Diktaturen des letzten Jahrhunderts. Wenn man populäre Schilderungen der spanischen Inquisition liest, glaubt man, es müsse eine geisterhafte Öde unter ihrem Regiment geherrscht haben. Daß es nicht nur verborgen blühende Veilchen waren, die unter der angeblich so lückenlos mißtrauischen Aufsicht gediehen, sondern eine wahre Pléiade von Genies, erscheint bei solchen Vorzeichen geradezu unwahrscheinlich.
Und doch war es so. Das spanische "Siglo de oro", das Goldene Zeitalter der spanischen Kunst und Literatur zwischen Philipp II. und Philipp IV., brachte eine Literatur hervor, deren warmer Sonnenglanz bis heute weit über die Landesgrenzen reicht und selbst den Hyperboräern noch leuchtet. Cervantes, Calderón, Gongora, Lope de Vega, Juan de la Cruz sind die großen Gestalten, die ihr Lebenswerk unter dem Flügelschatten der Inquisition schufen - weil es ihnen gelang, die Zensur der Inquisition zu unterlaufen? Oder weil sie todesmutig den Kampf mit der Zensur aufnahmen? Oder gar, weil sie am Ende mit den Prinzipien der Inquisition übereinstimmten?
Die letzte Frage auch nur zu stellen heißt, an eine moderne Denkunmöglichkeit zu rühren. Die Inquisition sollte die Entstehung literarischer Meisterwerke nicht nur nicht verhindert, sondern womöglich sogar noch gefördert haben? Die Antwort müssen uns neue, unbefangene literarhistorische Untersuchungen bringen. Baltasar Gracián gehört zum "Siglo de oro" als Nachzügler unbedingt dazu, obwohl es in seiner Lebenszeit (1601 bis 1658) - politisch jedenfalls - mit Spaniens Glück zu Ende ging.
Er stammte, worauf sein Nachname, die Übersetzung des hebräischen "hen" - "Gnade" - hindeutet, vielleicht aus einer Familie konvertierter Juden und wurde, wie alle seine Geschwister, Geistlicher. Als Mitglied des Jesuitenordens stand er unter einer gewissen Kontrolle, was seine Veröffentlichungen anging, ohne sich an diese an sich selbstverständliche Ordensdisziplin allerdings zu halten; seine Konflikte mit der Kirche berührten weniger den Inhalt seiner Werke als seine Gewohnheit, die Bücher immer ohne das "Nihil obstat" des Superiors drucken zu lassen. Und so bleibt es denn verblüffend, was ein Priester in Spaniens katholischem Jahrhundert schreiben konnte.
In Deutschland ist ein schmales Werk seiner Feder berühmt geworden: das "Handorakel" in der Übersetzung von Arthur Schopenhauer. Den jungen Schopenhauer lockte die bis zur Bitterkeit und zum Zynismus pessimistische Weltsicht des mondänen Priesters, der die Tugenden des bei Hof verkehrenden Edelmanns in kurzen, aphoristisch gedrechselten Kapiteln als eine Mischung aus Machiavelli und dem heiligen François de Sales beschrieb. Die täuschungsfreie Einsicht in die Verkommenheit der Menschennatur sollte den Höfling verschlossen bis zur Verschlagenheit, beherrscht bis zur Versteinerung und vorsichtig bis zur Abgestorbenheit werden lassen.
Nein, herzerwärmend ist der Charakter des Höflings, den Gracián im "Handorakel" beschwört, nicht, und die Verhaltensmaßregeln des kleinen, aber gewichtigen Werkes können seinen Erfolg nicht erklären. Es ist die glänzende Form, in die diese ernüchternde Weltsicht gehüllt ist, die den Leser immer noch fasziniert. Das siebzehnte Jahrhundert verstand die Kunst, hart und grausam über die Menschennatur zu sprechen, ohne dabei grau und trostlos zu werden. Die Desillusionierung geht hier immer mit großer Geste, gravitätischer Eleganz und prunkender Würde einher. Das Menschenelend wird mit Posaunen verkündet, bei deren Klang sich der Hörer strafft und sich sofort schon viel weniger elend fühlt. Angesichts der Schwäche und Gemeinheit der Welt forderte Gracián seine Leser auf, Könige ohne Land und Heilige zu werden, die sich in ihrer stoischen Vollkommenheit vom christlichen Heiligenideal allerdings deutlich unterschieden. Graciáns Heilige haben etwas mit den Dandys Baudelaires und Oscar Wildes gemeinsam; das gibt ihnen trotz höfischer Herkunft einen modernen Zug.
Was im "Handorakel" abstrakt und sentenzhaft zusammengedrängt war, hat Gracián in seinem monumentalen Roman "Criticón" breit entfaltet. Das Buch gehört unter den literarischen Berühmtheiten zu den nur durch ihren Titel und das Hörensagen bekannten Werken. In Deutschland lag immerhin schon im achtzehnten Jahrhundert eine Übersetzung vor; Schopenhauer übertrug eine Passage und Hanns Studniczka veröffentlichte 1957 eine Auswahl, die etwa ein Drittel der Textmasse ausmachte.
Hartmut Köhler hat nun, nach respektvoller Würdigung der Studniczkaschen Arbeit, eine eigene Gesamtübertragung des "Criticón" vorgelegt und damit diese Legende den Deutschen zu Besichtigung und Überprüfung freigegeben. Seine Übersetzung bemüht sich um Knappheit und Prägnanz, um einen Text voll ornamentaler Windungen und Schleifen nicht noch durch sprachliche Archaismen und Umständlichkeiten zu belasten. Für die den Roman durchziehenden, geradezu sein Konstruktionsprinzip bildenden Spiele mit den verschiedenen Bedeutungen eines Wortes oder ähnlich klingender Wörter hat er eine mutige Entscheidung getroffen, die sich in Zukunft hoffentlich viele Übersetzer zu eigen machen werden: Er versucht die Nachahmung des Wortspiels nur in den seltenen Fällen, in denen sie sich im Deutschen zwanglos ergibt, und läßt in allen übrigen Fällen das Spanische stehen, selbstverständlich in einer Fußnote erläutert. So fällt kein Wortspiel unter den Tisch, der Text wird nicht durch Verquältes und Halbgeglücktes verunziert, und der Leser lernt ein bißchen Spanisch und atmet ahnungsweise die Luft der fremden Sprache.
Man kann Köhler für diese Entscheidung, die eigentlich so naheliegend ist, nicht genügend danken. "Roman" wird das "Criticón" genannt, aber mit einem Roman in unserem Verständnis hat das Werk wenig zu tun. Natürlich gehört es in die lange und glorreiche Reihe der Schilderungen einer hochbedeutsamen Reise, die mit Odysseus und Sindbad dem Seefahrer beginnt, Dantes Himmel-und-Höllen-Fahrt einschließt und bei Candide und Alice im Wunderland keineswegs endet. Von den genannten Werken unterscheidet sich das "Criticón" durch die konsequente, niemals unterbrochene Allegorisierung. Man erinnere sich der Sturzbäche von Sprichwörtern, die Sancho Pansa, gleichfalls Held eines Reisebuches, ungebeten von sich zu geben pflegt: Bei Gracián ist es, als seien die Sprichwörter unversehens alle lebendig und Eigenwesen geworden. Die Allegorie des achtzehnten Jahrhunderts war ein hilfloser Versuch, blassen Begriffen ein wenig Sinnlichkeit mitzugeben. Graciáns Allegorien hingegen sind noch vom Geist der Renaissance erfüllt. Man sieht bei der Lektüre des "Criticón" die großen allegorischen Kompositionen Mantegnas vor sich.
Graciáns Allegorien sind, mit den Augen eines Aristoteles gesehen, wirkliche Verkörperungen, ja Seinsformen der Begriffe. Wenn Dante die Seelen der Menschen im Jenseits besucht, begegnet Gracián in seiner Kunstwelt gleichsam den Seelen der Begriffe, die je nach ihrer Natur einen mißtönenden oder berauschenden ewigen Gesang von sich geben. Die Stimmung von Monteverdi-Opern ist nahe; überhaupt ist das "Criticón" ein in Sprache übersetztes Gesamtkunstwerk aus Musik und Malerei. Der Leser bewegt sich durch das Buch wie durch einen unabsehbar großen Palast, in dem ihm ein geheimnisvoller Kastellan die Fresken und Wandteppiche erklärt.
Hinter dem Bilder- und Sprachprunk des "Criticón" steht jedoch kein mystisches, märchenhaftes Weltbild sondern die Doktrin eines skeptischen Rationalismus. Die Vernunft ist die Königin des "Criticón". Bei allen allegorischen und emblematischen Szenen während der Lebensreise von Critilo und Andrenio durch das Labyrinth der Ränke und Chimären geht es um den Kampf zwischen engaño und desengaño, Illusion und Enttäuschung. Wenn man das Jahrhundert der Aufklärung, das achtzehnte, "Jahrhundert der Vernunft" genannt hat, hätte man mit noch viel größerem Recht das siebzehnte ein "Jahrhundert der Vernunft" nennen müssen. Der entscheidende Unterschied zwischen der Vernunft-Verehrung eines Gracián und der eines aufgeklärten Enzyklopädisten liegt, das wird beim Lesen des "Criticón" deutlich, nicht im Bereich des Vernünftigen selbst, sondern in der Hoffnung, die in die Vernunft gesetzt wird. "Die Welt ist aus den Fugen / weh mir, daß ich berufen bin, sie einzurenken!" ruft Hamlet und offenbart sich damit für Gracián als Geisteskranker oder für Molière - man denke an den "Misanthropen" - als lächerlich. "Die Welt steht auf dem Kopf, man muß sie verkehrt herum betrachten, um sich richtig zu sehen", erfährt Critilo, aber zugleich: "Nur die Toren werden versuchen, sie zurechtzurücken." Für den Rationalisten des siebzehnten Jahrhunderts ist die Welt unreformierbar: "Immer war sie schon, wie sie ist." Die spätere Hoffnung, die Vernunft werde die Welt zum Licht führen, hätte Gracián als Gipfel des engaño, als verblendete Illusion, begriffen. "Sehen, hören, schweigen" wird zur Devise des Critilo. Carl Schmitt hat sich in seiner Liebe zum spanischen siebzehnten Jahrhundert "Don Capisco" genannt. Auch Gracián ist ein solcher "Don Capisco" gewesen.
MARTIN MOSEBACH
Baltasar Gracián: "Das Kritikon". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Hartmut Köhler. Nachwort von Hans Rüdiger Schwab. Ammann Verlag, Zürich 2001. 1013 S., geb., 65,90 [Euro].
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