Wie begegnet man seiner fremd gewordenen Herkunft? - Thilo Krauses eindringlicher Roman über unser Land und unsere Zeit Ein junges Paar kehrt nach Jahren zurück ins Felsland der Sächsischen Schweiz. Der Wunsch, sich an den Kindheitsorten ein neues Leben aufzubauen, mündet in die Konfrontation mit der Herkunft, aber auch mit einer neuen Fremdheit. Der Erzähler erinnert sich: an den Schulfreund, der damals beim gemeinsamen Klettern sein Bein verlor. An den öffentlichen Tadel in der Schule beim sozialistischen Fahnenappell. Thilo Krauses erster Roman erzählt vom Versuch der Heimkehr in ein fremdgewordenes Land. Es gibt nicht nur Apfelbäume und Elbwiesen, es gibt auch das Sommercamp der Neonazis, und am Misstrauen des Dorfes droht auch das Paar zu scheitern. Ein intensiver Roman über unser Land und unsere Zeit.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein bisschen Tschick entdeckt Rezensent Nils Kahlefendt in Thilo Krauses autobiografisch grundiertem Debütroman, wenn der Autor seine beiden jungen Helden aus dem Elbsandsteingebirge auf dem Moped aus der miefigen Dorfgemeinschaft ausbrechen lässt. Der Rest ist Erinnerung des inzwischen gealterten, verheirateten Ich-Erzählers, der zurück in die Heimat zieht, auf der Suche nach Kindheit, einer nie überwundenen Schuld und vielleicht einer Lösung von der nicht mehr funktionierenden Paarbeziehung. Vor großem "Naturtheater" inszeniert der Autor diesen Trip in die Vergangenheit nicht ohne Bitterkeit, meint der Rezensent. Wie Krause verdichtet, im Text Leerstellen zulässt und die deutsch-deutsche Geschichte nur am Rand miterzählt, findet Kahlefendt insgesamt lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2020Diese Schweiz ist nicht idyllisch
Albtraum Elbsandstein: Thilo Krause schickt einen Familienvater nach Sachsen
"Tatenarm und gedankenvoll", so wusste schon Hölderlin, sind sie, die Deutschen. Oder wie Jan, der tschechische Busfahrer in Thilo Krauses reifem Roman-Debüt, lakonisch meint: "Alles Theoretiker." Jans Freund, der namenlose Ich-Erzähler in "Elbwärts", ist ein besonders ausgeprägtes Exemplar dieser Spezies: Mit Mitte dreißig zieht es ihn dorthin zurück, wo er in den späten Jahren der DDR aufgewachsen ist - ins Elbsandsteingebirge um Pirna und die Festung Königstein. Mit seiner Frau Christina, einer Physiotherapeutin, und ihrer gemeinsamen Tochter, "der Kleinen", bezieht er ein baufälliges Haus nahe dem Dorf seiner Kindheit. Kann das nahtlose Eintauchen in die alte Heimat, die Welt von vorgestern, gelingen? Jan, der lebenskluge Geschichtenerzähler, ist skeptisch, denn in der Vergangenheit gibt es nichts zu tun: "Die Vergangenheit ist ein ewiges Ferienlager."
Doch nicht nur Heimweh oder eine sentimentale Wallung sind es, die den Ich-Erzähler treiben. Auf ihm lastet ein Trauma: Auf einer der waghalsigen Klettertouren, die er als Kind mit seinem besten Freund in die bizarren Sandsteinfelsen unternahm, stürzte dieser Vito ab und verlor ein Bein. Obwohl die Jungen nach dem Unfall isoliert werden, ist ihre Freundschaft stärker als die Schuldzuschreibungen von Lehrern und Mitschülern, stärker als das mitleidlose Dorfgeschwätz. Mit tatkräftiger Hilfe des tschechischen Hausmeisters Jirí planen die beiden sogar ihre Flucht ins Gebirge; ein großer Tschick-Moment und Glutkern des Romans, bei dem Jirís schrottreifes Moped zur Raumkapsel wird: "Wir wollten die Kommandozentrale zurücklassen, wir wollten aus dem Orbit des Dorfes hinaus, wollten nichts mehr empfangen, nichts mehr hören, nichts mehr müssen...Gagarin hatte die Erde nur umrundet, die Amerikaner waren bis zum Mond gekommen, aber wir hatten es mit unserem Antrieb aus Trotz ins nächste Sonnensystem geschafft." Die Flucht der beiden Dreizehnjährigen endet im Desaster, schließlich verlassen die Eltern des Ich-Erzählers, einen Neuanfang suchend, das Dorf. Die Freunde verlieren sich aus den Augen.
Nun, zwanzig Jahre später, ist das schon von den frühromantischen Malern Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrich gefeierte Naturtheater mit Elbblick für den Ich-Erzähler die einzige Brücke in die Vergangenheit. Er klettert in die Wand, um zu spüren, wie sich das Abstürzen anfühlt - doch es passiert nichts. Hoch oben auf dem Riff sitzend, schaut er ins Land: "Es riecht, wie es nur hier riechen kann, als würden sich diese Dinge durchdringen: die Kiefern oben auf dem Riff, das Korn, die Betonpisten über Land, die verkrauteten Feldraine und der staubige, alte Himmel." Allein: Die Heimat wird ihm zusehends bitter. In der "Stadt-die-keine-ist" trinken "Glatzen an Plastiktischen ihre Biere", Felsen im Wald sind mit Hakenkreuzen beschmiert. Wo sich einst Fuchs und Hase gute Nacht sagten, lagert Prepper-Abfall.
Dazu passt, dass der versuchte Prozess der Wiederannäherung mit angezogener Handbremse betrieben wird. Das neu bezogene idyllische Haus mit den Obstbäumen? Steht im Nachbardorf, während das verlassene Haus der Familie nun von Obdachlosen bewohnt wird. Das Verhältnis zu Christina, die wie die wenigen anderen Frauengestalten im Buch blass bleibt, erkaltet; eine Trennung scheint unausweichlich. Und als sich endlich ein Gespräch mit Vito ergibt, scheint es die alten Freunde immense Anstrengung zu kosten, sich mit Worten ja nicht zu nahe zu kommen. Einzig in den Waldgängen mit der Tochter, barfuß und ziellos, scheint das Land der Kindheit partiell noch auffindbar: "Die Kleine greift nach meiner Hand, und wir kichern, weil wir aus der Welt gefallen sind."
Mit seinem Ich-Erzähler teilt der Autor Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren und seit 2002 in der Schweiz lebend, Herkunft und ungefähres Alter. Für seine bislang zwei Lyrikbände erhielt der promovierte Wirtschaftsingenieur einige renommierter Preise. Auch auf der bereits vor Erscheinen mit dem Robert-Walser-Preis 2020 dekorierten Prosa-Langstrecke lässt sich Krause vom Ton tragen, lebt der Text, wie gute Lyrik, von Leerstellen und Verdichtungen. Wenn der Autor andeuten will, dass das Tischtuch zwischen den alten Freunden vielleicht doch nicht endgültig zerschnitten ist, arrangiert er sie so auf einer sommerlichen Landstraße, dass ihre Schatten zu einem verschmelzen: "Ich, mit deinem Bein. Darauf trinken wir einen."
Die Transformationsprozesse zwischen DDR- und Nachwendegesellschaft, die Verbindungen zwischen abgehängten Landschaften, Neonazi-Kameradschaften und Fremdenhass werden nur sparsam angedeutet. Manchmal riecht es einfach nur unschön, "nach Ei, nach Vergangenheit und DDR". Der Bruch zwischen zwei Systemen, sensibel beobachtet und aufgehoben in Sprache: "Seltsam, wie still die Mittage immer noch sind, wie früher, als der Asphalt löchrig war und die Pausen zwischen den Autos länger, als man für ein Eis brauchte."
Eine große Elbeflut ist es schließlich, die den tiefsitzenden Hass der Dorfbewohner auf die Nachbarn jenseits der Grenze freispült. Haben nicht die Tschechen die Staudämme geöffnet und so die Katastrophe verursacht? Ein wütender Mob versammelt sich vorm Haus mit den Obstbäumen. Ein Glück, dass das weder der Vater des Erzählers noch Jirí, der hilfreiche Hausmeister von ehedem, miterleben muss; der eine ist an den Spätfolgen seiner Arbeit für die Wismut krepiert, der andere hat sich, wie es lapidar heißt, totgesoffen. Das Zurück ins ewige Ferienlager der Kindheit, Busfahrer Jan hat es geahnt, wird es nicht geben. Wer ankommen will, muss aufbrechen, auf der Suche bleiben. Immer wieder. Und so werden sie sich wohl aufmachen müssen: Ein Tscheche, ein Zugezogener, ein Einbeiniger. Ein Trupp, den Caspar David Friedrich nie gemalt hat.
NILS KAHLEFENDT
Thilo Krause: "Elbwärts". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Albtraum Elbsandstein: Thilo Krause schickt einen Familienvater nach Sachsen
"Tatenarm und gedankenvoll", so wusste schon Hölderlin, sind sie, die Deutschen. Oder wie Jan, der tschechische Busfahrer in Thilo Krauses reifem Roman-Debüt, lakonisch meint: "Alles Theoretiker." Jans Freund, der namenlose Ich-Erzähler in "Elbwärts", ist ein besonders ausgeprägtes Exemplar dieser Spezies: Mit Mitte dreißig zieht es ihn dorthin zurück, wo er in den späten Jahren der DDR aufgewachsen ist - ins Elbsandsteingebirge um Pirna und die Festung Königstein. Mit seiner Frau Christina, einer Physiotherapeutin, und ihrer gemeinsamen Tochter, "der Kleinen", bezieht er ein baufälliges Haus nahe dem Dorf seiner Kindheit. Kann das nahtlose Eintauchen in die alte Heimat, die Welt von vorgestern, gelingen? Jan, der lebenskluge Geschichtenerzähler, ist skeptisch, denn in der Vergangenheit gibt es nichts zu tun: "Die Vergangenheit ist ein ewiges Ferienlager."
Doch nicht nur Heimweh oder eine sentimentale Wallung sind es, die den Ich-Erzähler treiben. Auf ihm lastet ein Trauma: Auf einer der waghalsigen Klettertouren, die er als Kind mit seinem besten Freund in die bizarren Sandsteinfelsen unternahm, stürzte dieser Vito ab und verlor ein Bein. Obwohl die Jungen nach dem Unfall isoliert werden, ist ihre Freundschaft stärker als die Schuldzuschreibungen von Lehrern und Mitschülern, stärker als das mitleidlose Dorfgeschwätz. Mit tatkräftiger Hilfe des tschechischen Hausmeisters Jirí planen die beiden sogar ihre Flucht ins Gebirge; ein großer Tschick-Moment und Glutkern des Romans, bei dem Jirís schrottreifes Moped zur Raumkapsel wird: "Wir wollten die Kommandozentrale zurücklassen, wir wollten aus dem Orbit des Dorfes hinaus, wollten nichts mehr empfangen, nichts mehr hören, nichts mehr müssen...Gagarin hatte die Erde nur umrundet, die Amerikaner waren bis zum Mond gekommen, aber wir hatten es mit unserem Antrieb aus Trotz ins nächste Sonnensystem geschafft." Die Flucht der beiden Dreizehnjährigen endet im Desaster, schließlich verlassen die Eltern des Ich-Erzählers, einen Neuanfang suchend, das Dorf. Die Freunde verlieren sich aus den Augen.
Nun, zwanzig Jahre später, ist das schon von den frühromantischen Malern Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrich gefeierte Naturtheater mit Elbblick für den Ich-Erzähler die einzige Brücke in die Vergangenheit. Er klettert in die Wand, um zu spüren, wie sich das Abstürzen anfühlt - doch es passiert nichts. Hoch oben auf dem Riff sitzend, schaut er ins Land: "Es riecht, wie es nur hier riechen kann, als würden sich diese Dinge durchdringen: die Kiefern oben auf dem Riff, das Korn, die Betonpisten über Land, die verkrauteten Feldraine und der staubige, alte Himmel." Allein: Die Heimat wird ihm zusehends bitter. In der "Stadt-die-keine-ist" trinken "Glatzen an Plastiktischen ihre Biere", Felsen im Wald sind mit Hakenkreuzen beschmiert. Wo sich einst Fuchs und Hase gute Nacht sagten, lagert Prepper-Abfall.
Dazu passt, dass der versuchte Prozess der Wiederannäherung mit angezogener Handbremse betrieben wird. Das neu bezogene idyllische Haus mit den Obstbäumen? Steht im Nachbardorf, während das verlassene Haus der Familie nun von Obdachlosen bewohnt wird. Das Verhältnis zu Christina, die wie die wenigen anderen Frauengestalten im Buch blass bleibt, erkaltet; eine Trennung scheint unausweichlich. Und als sich endlich ein Gespräch mit Vito ergibt, scheint es die alten Freunde immense Anstrengung zu kosten, sich mit Worten ja nicht zu nahe zu kommen. Einzig in den Waldgängen mit der Tochter, barfuß und ziellos, scheint das Land der Kindheit partiell noch auffindbar: "Die Kleine greift nach meiner Hand, und wir kichern, weil wir aus der Welt gefallen sind."
Mit seinem Ich-Erzähler teilt der Autor Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren und seit 2002 in der Schweiz lebend, Herkunft und ungefähres Alter. Für seine bislang zwei Lyrikbände erhielt der promovierte Wirtschaftsingenieur einige renommierter Preise. Auch auf der bereits vor Erscheinen mit dem Robert-Walser-Preis 2020 dekorierten Prosa-Langstrecke lässt sich Krause vom Ton tragen, lebt der Text, wie gute Lyrik, von Leerstellen und Verdichtungen. Wenn der Autor andeuten will, dass das Tischtuch zwischen den alten Freunden vielleicht doch nicht endgültig zerschnitten ist, arrangiert er sie so auf einer sommerlichen Landstraße, dass ihre Schatten zu einem verschmelzen: "Ich, mit deinem Bein. Darauf trinken wir einen."
Die Transformationsprozesse zwischen DDR- und Nachwendegesellschaft, die Verbindungen zwischen abgehängten Landschaften, Neonazi-Kameradschaften und Fremdenhass werden nur sparsam angedeutet. Manchmal riecht es einfach nur unschön, "nach Ei, nach Vergangenheit und DDR". Der Bruch zwischen zwei Systemen, sensibel beobachtet und aufgehoben in Sprache: "Seltsam, wie still die Mittage immer noch sind, wie früher, als der Asphalt löchrig war und die Pausen zwischen den Autos länger, als man für ein Eis brauchte."
Eine große Elbeflut ist es schließlich, die den tiefsitzenden Hass der Dorfbewohner auf die Nachbarn jenseits der Grenze freispült. Haben nicht die Tschechen die Staudämme geöffnet und so die Katastrophe verursacht? Ein wütender Mob versammelt sich vorm Haus mit den Obstbäumen. Ein Glück, dass das weder der Vater des Erzählers noch Jirí, der hilfreiche Hausmeister von ehedem, miterleben muss; der eine ist an den Spätfolgen seiner Arbeit für die Wismut krepiert, der andere hat sich, wie es lapidar heißt, totgesoffen. Das Zurück ins ewige Ferienlager der Kindheit, Busfahrer Jan hat es geahnt, wird es nicht geben. Wer ankommen will, muss aufbrechen, auf der Suche bleiben. Immer wieder. Und so werden sie sich wohl aufmachen müssen: Ein Tscheche, ein Zugezogener, ein Einbeiniger. Ein Trupp, den Caspar David Friedrich nie gemalt hat.
NILS KAHLEFENDT
Thilo Krause: "Elbwärts". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Roman, dessen poetische Sprache Felsblöcke, Wolkenungetüme, Wasserfluten, aber auch komplizierte Gefühlslagen behutsam und zugleich präzise einfängt. Der Dichter Thilo Krause hat ein wunderbares Sprachkunstwerk geschaffen und eine differenzierte Erkundung des Begriffs 'Heimat'." Elisabeth Edl, Süddeutsche Zeitung, 29.12.20
"Eine leise und dennoch kraftvoll bildhafte Sprache. ... Eine dichte und psychologisch tiefgründige Geschichte über außergewöhnliche Freundschaft und narzisstischen Schmerz. ... Thilo Krause hat eine melodiöse Sprache gefunden, die zu begeistern vermag." Mirko Schanitz, BR2 Kulturwelt 09.11.20
"Es ist ein Roman, in dem ein über Jahre schwelendes Trauma bearbeitet wird. Mit 'Elbwärts' ist Thilo Krause gleichzeitig ein träumerisches Porträt des Elbsandsteingebirges gelungen." Pia Uffelmann, MDR Kultur, 14.09.20
"'Elbwärts' ist unprätentiös, aber ungemein dicht erzählt. ... Makellose Prosa. Ein Wurf!" Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.20
"Ungewöhnlich und riskant ist in diesem bemerkenswerten Roman, wie politische und subjektiv-emotionale Stränge miteinander verknüpft werden. Es ist eine ästhetische Gratwanderung, ohne die üblichen Absicherungen." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 20.08.20
"Es sind wunderbare Nachrichten für die Literatur deutscher Sprache. Aus der Stummheit ist doch noch ein Triumph der Erzählkunst hervorgegangen, und ein Autor, fernab an der freundlichen Limmat, hat sich als Meister des Innehaltens, Beobachtens und Formulierens erwiesen." Eberhard Geisler, Frankfurter Rundschau, 17.08.20
"Thilo Kraus beherrscht die Techniken der Aussparung und Andeutung souverän ... Die einzelnen Momentaufnahmen und Handlungsfetzen sind wie Bilder, die vieldeutig sind, stehenbleiben und das nächste auslösen ... Ein bemerkenswertes Buch." Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Kultur, 14.08.20
"Eine leise und dennoch kraftvoll bildhafte Sprache. ... Eine dichte und psychologisch tiefgründige Geschichte über außergewöhnliche Freundschaft und narzisstischen Schmerz. ... Thilo Krause hat eine melodiöse Sprache gefunden, die zu begeistern vermag." Mirko Schanitz, BR2 Kulturwelt 09.11.20
"Es ist ein Roman, in dem ein über Jahre schwelendes Trauma bearbeitet wird. Mit 'Elbwärts' ist Thilo Krause gleichzeitig ein träumerisches Porträt des Elbsandsteingebirges gelungen." Pia Uffelmann, MDR Kultur, 14.09.20
"'Elbwärts' ist unprätentiös, aber ungemein dicht erzählt. ... Makellose Prosa. Ein Wurf!" Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.20
"Ungewöhnlich und riskant ist in diesem bemerkenswerten Roman, wie politische und subjektiv-emotionale Stränge miteinander verknüpft werden. Es ist eine ästhetische Gratwanderung, ohne die üblichen Absicherungen." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 20.08.20
"Es sind wunderbare Nachrichten für die Literatur deutscher Sprache. Aus der Stummheit ist doch noch ein Triumph der Erzählkunst hervorgegangen, und ein Autor, fernab an der freundlichen Limmat, hat sich als Meister des Innehaltens, Beobachtens und Formulierens erwiesen." Eberhard Geisler, Frankfurter Rundschau, 17.08.20
"Thilo Kraus beherrscht die Techniken der Aussparung und Andeutung souverän ... Die einzelnen Momentaufnahmen und Handlungsfetzen sind wie Bilder, die vieldeutig sind, stehenbleiben und das nächste auslösen ... Ein bemerkenswertes Buch." Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Kultur, 14.08.20
»Thilo Krause holt die Dinge aus ihrer Alltäglichkeit - und bringt sie zum Leuchten.« Raoul Schrott
Diese Schweiz ist nicht idyllisch
Albtraum Elbsandstein: Thilo Krause schickt einen Familienvater nach Sachsen
"Tatenarm und gedankenvoll", so wusste schon Hölderlin, sind sie, die Deutschen. Oder wie Jan, der tschechische Busfahrer in Thilo Krauses reifem Roman-Debüt, lakonisch meint: "Alles Theoretiker." Jans Freund, der namenlose Ich-Erzähler in "Elbwärts", ist ein besonders ausgeprägtes Exemplar dieser Spezies: Mit Mitte dreißig zieht es ihn dorthin zurück, wo er in den späten Jahren der DDR aufgewachsen ist - ins Elbsandsteingebirge um Pirna und die Festung Königstein. Mit seiner Frau Christina, einer Physiotherapeutin, und ihrer gemeinsamen Tochter, "der Kleinen", bezieht er ein baufälliges Haus nahe dem Dorf seiner Kindheit. Kann das nahtlose Eintauchen in die alte Heimat, die Welt von vorgestern, gelingen? Jan, der lebenskluge Geschichtenerzähler, ist skeptisch, denn in der Vergangenheit gibt es nichts zu tun: "Die Vergangenheit ist ein ewiges Ferienlager."
Doch nicht nur Heimweh oder eine sentimentale Wallung sind es, die den Ich-Erzähler treiben. Auf ihm lastet ein Trauma: Auf einer der waghalsigen Klettertouren, die er als Kind mit seinem besten Freund in die bizarren Sandsteinfelsen unternahm, stürzte dieser Vito ab und verlor ein Bein. Obwohl die Jungen nach dem Unfall isoliert werden, ist ihre Freundschaft stärker als die Schuldzuschreibungen von Lehrern und Mitschülern, stärker als das mitleidlose Dorfgeschwätz. Mit tatkräftiger Hilfe des tschechischen Hausmeisters Jirí planen die beiden sogar ihre Flucht ins Gebirge; ein großer Tschick-Moment und Glutkern des Romans, bei dem Jirís schrottreifes Moped zur Raumkapsel wird: "Wir wollten die Kommandozentrale zurücklassen, wir wollten aus dem Orbit des Dorfes hinaus, wollten nichts mehr empfangen, nichts mehr hören, nichts mehr müssen...Gagarin hatte die Erde nur umrundet, die Amerikaner waren bis zum Mond gekommen, aber wir hatten es mit unserem Antrieb aus Trotz ins nächste Sonnensystem geschafft." Die Flucht der beiden Dreizehnjährigen endet im Desaster, schließlich verlassen die Eltern des Ich-Erzählers, einen Neuanfang suchend, das Dorf. Die Freunde verlieren sich aus den Augen.
Nun, zwanzig Jahre später, ist das schon von den frühromantischen Malern Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrich gefeierte Naturtheater mit Elbblick für den Ich-Erzähler die einzige Brücke in die Vergangenheit. Er klettert in die Wand, um zu spüren, wie sich das Abstürzen anfühlt - doch es passiert nichts. Hoch oben auf dem Riff sitzend, schaut er ins Land: "Es riecht, wie es nur hier riechen kann, als würden sich diese Dinge durchdringen: die Kiefern oben auf dem Riff, das Korn, die Betonpisten über Land, die verkrauteten Feldraine und der staubige, alte Himmel." Allein: Die Heimat wird ihm zusehends bitter. In der "Stadt-die-keine-ist" trinken "Glatzen an Plastiktischen ihre Biere", Felsen im Wald sind mit Hakenkreuzen beschmiert. Wo sich einst Fuchs und Hase gute Nacht sagten, lagert Prepper-Abfall.
Dazu passt, dass der versuchte Prozess der Wiederannäherung mit angezogener Handbremse betrieben wird. Das neu bezogene idyllische Haus mit den Obstbäumen? Steht im Nachbardorf, während das verlassene Haus der Familie nun von Obdachlosen bewohnt wird. Das Verhältnis zu Christina, die wie die wenigen anderen Frauengestalten im Buch blass bleibt, erkaltet; eine Trennung scheint unausweichlich. Und als sich endlich ein Gespräch mit Vito ergibt, scheint es die alten Freunde immense Anstrengung zu kosten, sich mit Worten ja nicht zu nahe zu kommen. Einzig in den Waldgängen mit der Tochter, barfuß und ziellos, scheint das Land der Kindheit partiell noch auffindbar: "Die Kleine greift nach meiner Hand, und wir kichern, weil wir aus der Welt gefallen sind."
Mit seinem Ich-Erzähler teilt der Autor Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren und seit 2002 in der Schweiz lebend, Herkunft und ungefähres Alter. Für seine bislang zwei Lyrikbände erhielt der promovierte Wirtschaftsingenieur einige renommierter Preise. Auch auf der bereits vor Erscheinen mit dem Robert-Walser-Preis 2020 dekorierten Prosa-Langstrecke lässt sich Krause vom Ton tragen, lebt der Text, wie gute Lyrik, von Leerstellen und Verdichtungen. Wenn der Autor andeuten will, dass das Tischtuch zwischen den alten Freunden vielleicht doch nicht endgültig zerschnitten ist, arrangiert er sie so auf einer sommerlichen Landstraße, dass ihre Schatten zu einem verschmelzen: "Ich, mit deinem Bein. Darauf trinken wir einen."
Die Transformationsprozesse zwischen DDR- und Nachwendegesellschaft, die Verbindungen zwischen abgehängten Landschaften, Neonazi-Kameradschaften und Fremdenhass werden nur sparsam angedeutet. Manchmal riecht es einfach nur unschön, "nach Ei, nach Vergangenheit und DDR". Der Bruch zwischen zwei Systemen, sensibel beobachtet und aufgehoben in Sprache: "Seltsam, wie still die Mittage immer noch sind, wie früher, als der Asphalt löchrig war und die Pausen zwischen den Autos länger, als man für ein Eis brauchte."
Eine große Elbeflut ist es schließlich, die den tiefsitzenden Hass der Dorfbewohner auf die Nachbarn jenseits der Grenze freispült. Haben nicht die Tschechen die Staudämme geöffnet und so die Katastrophe verursacht? Ein wütender Mob versammelt sich vorm Haus mit den Obstbäumen. Ein Glück, dass das weder der Vater des Erzählers noch Jirí, der hilfreiche Hausmeister von ehedem, miterleben muss; der eine ist an den Spätfolgen seiner Arbeit für die Wismut krepiert, der andere hat sich, wie es lapidar heißt, totgesoffen. Das Zurück ins ewige Ferienlager der Kindheit, Busfahrer Jan hat es geahnt, wird es nicht geben. Wer ankommen will, muss aufbrechen, auf der Suche bleiben. Immer wieder. Und so werden sie sich wohl aufmachen müssen: Ein Tscheche, ein Zugezogener, ein Einbeiniger. Ein Trupp, den Caspar David Friedrich nie gemalt hat.
NILS KAHLEFENDT
Thilo Krause: "Elbwärts". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Albtraum Elbsandstein: Thilo Krause schickt einen Familienvater nach Sachsen
"Tatenarm und gedankenvoll", so wusste schon Hölderlin, sind sie, die Deutschen. Oder wie Jan, der tschechische Busfahrer in Thilo Krauses reifem Roman-Debüt, lakonisch meint: "Alles Theoretiker." Jans Freund, der namenlose Ich-Erzähler in "Elbwärts", ist ein besonders ausgeprägtes Exemplar dieser Spezies: Mit Mitte dreißig zieht es ihn dorthin zurück, wo er in den späten Jahren der DDR aufgewachsen ist - ins Elbsandsteingebirge um Pirna und die Festung Königstein. Mit seiner Frau Christina, einer Physiotherapeutin, und ihrer gemeinsamen Tochter, "der Kleinen", bezieht er ein baufälliges Haus nahe dem Dorf seiner Kindheit. Kann das nahtlose Eintauchen in die alte Heimat, die Welt von vorgestern, gelingen? Jan, der lebenskluge Geschichtenerzähler, ist skeptisch, denn in der Vergangenheit gibt es nichts zu tun: "Die Vergangenheit ist ein ewiges Ferienlager."
Doch nicht nur Heimweh oder eine sentimentale Wallung sind es, die den Ich-Erzähler treiben. Auf ihm lastet ein Trauma: Auf einer der waghalsigen Klettertouren, die er als Kind mit seinem besten Freund in die bizarren Sandsteinfelsen unternahm, stürzte dieser Vito ab und verlor ein Bein. Obwohl die Jungen nach dem Unfall isoliert werden, ist ihre Freundschaft stärker als die Schuldzuschreibungen von Lehrern und Mitschülern, stärker als das mitleidlose Dorfgeschwätz. Mit tatkräftiger Hilfe des tschechischen Hausmeisters Jirí planen die beiden sogar ihre Flucht ins Gebirge; ein großer Tschick-Moment und Glutkern des Romans, bei dem Jirís schrottreifes Moped zur Raumkapsel wird: "Wir wollten die Kommandozentrale zurücklassen, wir wollten aus dem Orbit des Dorfes hinaus, wollten nichts mehr empfangen, nichts mehr hören, nichts mehr müssen...Gagarin hatte die Erde nur umrundet, die Amerikaner waren bis zum Mond gekommen, aber wir hatten es mit unserem Antrieb aus Trotz ins nächste Sonnensystem geschafft." Die Flucht der beiden Dreizehnjährigen endet im Desaster, schließlich verlassen die Eltern des Ich-Erzählers, einen Neuanfang suchend, das Dorf. Die Freunde verlieren sich aus den Augen.
Nun, zwanzig Jahre später, ist das schon von den frühromantischen Malern Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrich gefeierte Naturtheater mit Elbblick für den Ich-Erzähler die einzige Brücke in die Vergangenheit. Er klettert in die Wand, um zu spüren, wie sich das Abstürzen anfühlt - doch es passiert nichts. Hoch oben auf dem Riff sitzend, schaut er ins Land: "Es riecht, wie es nur hier riechen kann, als würden sich diese Dinge durchdringen: die Kiefern oben auf dem Riff, das Korn, die Betonpisten über Land, die verkrauteten Feldraine und der staubige, alte Himmel." Allein: Die Heimat wird ihm zusehends bitter. In der "Stadt-die-keine-ist" trinken "Glatzen an Plastiktischen ihre Biere", Felsen im Wald sind mit Hakenkreuzen beschmiert. Wo sich einst Fuchs und Hase gute Nacht sagten, lagert Prepper-Abfall.
Dazu passt, dass der versuchte Prozess der Wiederannäherung mit angezogener Handbremse betrieben wird. Das neu bezogene idyllische Haus mit den Obstbäumen? Steht im Nachbardorf, während das verlassene Haus der Familie nun von Obdachlosen bewohnt wird. Das Verhältnis zu Christina, die wie die wenigen anderen Frauengestalten im Buch blass bleibt, erkaltet; eine Trennung scheint unausweichlich. Und als sich endlich ein Gespräch mit Vito ergibt, scheint es die alten Freunde immense Anstrengung zu kosten, sich mit Worten ja nicht zu nahe zu kommen. Einzig in den Waldgängen mit der Tochter, barfuß und ziellos, scheint das Land der Kindheit partiell noch auffindbar: "Die Kleine greift nach meiner Hand, und wir kichern, weil wir aus der Welt gefallen sind."
Mit seinem Ich-Erzähler teilt der Autor Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren und seit 2002 in der Schweiz lebend, Herkunft und ungefähres Alter. Für seine bislang zwei Lyrikbände erhielt der promovierte Wirtschaftsingenieur einige renommierter Preise. Auch auf der bereits vor Erscheinen mit dem Robert-Walser-Preis 2020 dekorierten Prosa-Langstrecke lässt sich Krause vom Ton tragen, lebt der Text, wie gute Lyrik, von Leerstellen und Verdichtungen. Wenn der Autor andeuten will, dass das Tischtuch zwischen den alten Freunden vielleicht doch nicht endgültig zerschnitten ist, arrangiert er sie so auf einer sommerlichen Landstraße, dass ihre Schatten zu einem verschmelzen: "Ich, mit deinem Bein. Darauf trinken wir einen."
Die Transformationsprozesse zwischen DDR- und Nachwendegesellschaft, die Verbindungen zwischen abgehängten Landschaften, Neonazi-Kameradschaften und Fremdenhass werden nur sparsam angedeutet. Manchmal riecht es einfach nur unschön, "nach Ei, nach Vergangenheit und DDR". Der Bruch zwischen zwei Systemen, sensibel beobachtet und aufgehoben in Sprache: "Seltsam, wie still die Mittage immer noch sind, wie früher, als der Asphalt löchrig war und die Pausen zwischen den Autos länger, als man für ein Eis brauchte."
Eine große Elbeflut ist es schließlich, die den tiefsitzenden Hass der Dorfbewohner auf die Nachbarn jenseits der Grenze freispült. Haben nicht die Tschechen die Staudämme geöffnet und so die Katastrophe verursacht? Ein wütender Mob versammelt sich vorm Haus mit den Obstbäumen. Ein Glück, dass das weder der Vater des Erzählers noch Jirí, der hilfreiche Hausmeister von ehedem, miterleben muss; der eine ist an den Spätfolgen seiner Arbeit für die Wismut krepiert, der andere hat sich, wie es lapidar heißt, totgesoffen. Das Zurück ins ewige Ferienlager der Kindheit, Busfahrer Jan hat es geahnt, wird es nicht geben. Wer ankommen will, muss aufbrechen, auf der Suche bleiben. Immer wieder. Und so werden sie sich wohl aufmachen müssen: Ein Tscheche, ein Zugezogener, ein Einbeiniger. Ein Trupp, den Caspar David Friedrich nie gemalt hat.
NILS KAHLEFENDT
Thilo Krause: "Elbwärts". Roman.
Hanser Verlag, München 2020. 208 S., geb., 22,- [Euro].
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