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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Ein erstmals gedruckter Text zeigt den großen Romanisten Ernst Robert Curtius in neuem Licht
Ernst Robert Curtius (1886-1956) ist nicht nur ein großer Romanist des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch Gegenstand intensiver Debatten zur Fach- und Geistesgeschichte. Gerechtfertigt ist das allemal, Curtius hat in der Zwischenkriegszeit in Universität und Öffentlichkeit, ja international eine herausragende Rolle gespielt, wie der Briefwechsel zeigt, aus dem Frank-Rutger Hausmann kürzlich eine Auswahl edierte (F.A.Z. vom 18. August 2015). Curtius kannte Gott und die Welt, publizierte ohne Unterlass Bücher, Aufsätze, Artikel.
Mysteriös bleiben die Jahre 1932 bis 1948. Vorher bemühte Curtius sich um die deutsch-französische Versöhnung und sorgte sich um die deutsche Kultur; Letzteres brachte die 1932 erschienene Schrift "Deutscher Geist in Gefahr" zum Ausdruck, die in einem Arbeitsrausch entstand. Es folgten Erschöpfung sowie eine lange Phase des Schweigens, in der Curtius nur Aufsätze verfasste, bis er 1948 die Monumentalstudie "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" vorlegte. Der Abwendung von Frankreich, von Literatur und Politik der Gegenwart folgte die Hinwendung zu Rom und zum mittelalterlichen Nachleben der Antike, mit dem Ziel humanistischer Erneuerung - so die Selbstdarstellung.
Nun aber ist ein unveröffentlichtes Buch aufgetaucht, das die Situation in ein neues Licht rückt: "Elemente der Bildung", offenbar 1932 im Anschluss an "Deutscher Geist in Gefahr" geschrieben. Der Text war bis zu einer Fahnenkorrektur gediehen, welche die Herausgeber auf den März des Jahres 1933 datieren. Aus unbekanntem Grund blieb er unveröffentlicht, es lassen sich nur eine knappe Ankündigung und zwei Briefstellen finden, die auf ihn hindeuten.
Der C.H. Beck Verlag feiert diesen Fund mit einer umfangreichen Ausgabe, in welcher der Curtius-Text mit knapp zweihundert Seiten weniger als die Hälfte ausmacht. Den Rest nehmen der Apparat sowie das sorgfältig abwägende Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg ein, das die Etappen von Curtius' Werk und Kontext und Gehalt der "Elemente" resümiert; auch werden mögliche Gründe für den Publikationsverzicht erörtert.
Der aus dem damals deutschen Elsass stammende Curtius übernahm nach 1918 eine zentrale Rolle für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich; Deutschland wollte Curtius dabei als gleichberechtigten Partner anerkannt wissen. Dazu musste das Land sich zunächst über seine Identität und seine Stimme im europäischen Völkerkonzert klarwerden. Dieser Beitrag war, so Curtius, in der deutschen Bildungsidee zu suchen. Deren Absicherung schien ihm angesichts einer konstatierten Bildungskrise - auch in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden Kulturverfall und Massenuniversität beklagt, und die Wirtschaftskrise sorgte für äußerst handfeste Schwierigkeiten - dringlich. Daher rührt die Relevanz von "Elemente der Bildung".
Der Band ist kein Resümee von Bildungsgut, sondern der Versuch, "einen Wiederaufbau unseres Bildungsbewußtseins" zu befördern, also zu erläutern, "was Bildung sein kann und sein soll" (von Curtius durch Kursivierung hervorgehoben). Die neunzehn Kapitel lassen sich grob in drei Abschnitte untergliedern: Curtius beginnt mit dem Fundament der Bildung. Er unterscheidet im Anschluss an Max Scheler zwischen drei Wissensformen: dem Leistungswissen der Naturwissenschaften, dem Bildungswissen und dem Erlösungswissen der Religion. Bildungswissen entstehe auf der Suche nach Sinn - eine Dimension, welche für die Naturwissenschaften irrelevant sei - und meint "all das Wissen, das den Menschen anleitet, der Ganzheit und der Wesensstufung der Welt innezuwerden". Funktion des Bildungswissens sei es, "dem Werden und der Entfaltung der Person" zu dienen.
Im zweiten Abschnitt nähert Curtius sich der Bildung "von der geschichtlichen Seite her" und versucht, "die einzelnen Momente des bisher erworbenen Wissens zu entfalten". Er meint damit Gegenstandsbereiche wie "Naturwissenschaften und Naturdeutung", "Mensch und Tier", "Trieb, Seele, Geist", "Stimme und Sprache", "Sprache und Schrift", "Gesellung", "Literatur" und "Klassik". Im dritten Abschnitt kommt er schließlich auf "Tugenden" und "Technik" der Bildung zu sprechen, bevor er zu den "Naturgrenzen der Bildung" und schließlich zu den "letzten Dingen" übergeht.
Man sieht: Curtius legt es nicht auf einen Bildungskanon an. Es geht ihm vielmehr um eine Grundlegung - die Verwendung von Metaphern der Baukunst sowie der einleitende Verweis auf das Straßburger Münster sind symptomatisch. Das hat nicht nur biographische Gründe: Neben Scheler ist Goethe ein Gewährsmann, dessen "Faust" Curtius oft zitiert, um sein Bildungskonzept zu verteidigen. An welches Publikum Curtius wohl dachte? Die Herausgeber merken zu Recht an, dass der Stil über weitere Strecken überraschend einfach gehalten ist, sich aber zugleich voraussetzungsreiche Passagen finden, die Eingeweihten vorbehalten sind. Dieser Unterschied verweist auf Curtius' Elitedenken: Das deutsche Volk insgesamt soll gebildet, seine Leitung freilich einer kleinen Gruppe herausragender Geister vorbehalten werden.
Der Band schließt eine Lücke in Curtius' Werk: Der Bildungsgedanke, ein Basso continuo seines Schaffens, wird präzisiert; auf diese Weise zeigt sich sein Bemühen um Deutschlands Platz in Europa. Auch bekräftigt Curtius hier seine Vorbehalte gegen politische Einmischung und kritisiert den russischen und den italienischen Totalitarismus: "Das bedeutet aber nichts anderes, als daß der Staat sich selbst zum Götzen macht." Im Munde eines Christen ein vernichtendes Urteil. Auch sonst wird klar, dass Curtius ein Liberaler ohne Sympathie für völkisches oder gar faschistisches Gedankengut war. Allerdings hält sich der Eindruck, dass er die Demokratie kaum gnädiger bewertet. Oberstes Ziel ist die Trennung von Geist und Politik, und zwar zugunsten des Geistes: "Der geistliche Mensch ist der oberste, also muß er der herrschende sein". Zu Recht hat Joseph Jurt Curtius "politische Ahnungslosigkeit" bescheinigt. Wie dem auch sei, das Porträt des Intellektuellen wird um wertvolle Nuancen ergänzt.
Befragt man freilich Curtius' Projekt auf seine Überzeugungskraft, so muss das Urteil negativ ausfallen. Der Ansatz, durch Rückgriff auf christlich-antike Grundlagen - die für ihn in idealer Weise im Mittelalter vereint waren - einen ewigen Sinn zu vermitteln und so die Identität des deutschen Volkes zu festigen, wirkt hoffnungslos antiquiert. Erstens entspricht die Vorstellung, ein überzeitlicher Gehalt enthülle sich in einer Offenbarung und die Bildung werde damit zur Wegbereiterin der "Gottesschau", einer Privatreligion, nicht aber einer zeitgemäßen Bildungstheorie - schon gar nicht einer wertneutralen. Zweitens ist der Anspruch, damit einer gebeutelten Gesellschaft wie jener der Weimarer Republik einen Ausweg aufzuzeigen, so vermessen wie abstrus.
Zumal die gewählte Perspektive massive Folgen für die konkreten Erörterungen hat. Die Wahl der nationalen Sicht führt dazu, dass die Aufklärung verschmäht und die französische Romantik abgefertigt wird; von einem Romanisten wäre ein feineres Urteil, ein weiterer Blick zu erwarten gewesen. Auch Curtius' Stellungnahme zugunsten der Gattungspoetik - "Diese Grenzverwischungen bedeuten keinen Gewinn, keine Befreiung, sondern Zugeständnisse an die Schwäche des Willens und der Begabung" - ist historisch verspätet und befremdet angesichts der Hellsicht, mit der Curtius die große Moderne würdigte.
Curtius zeigt in "Elemente der Bildung" warum konservative Intellektuelle keine Antwort auf die Krise der Weimarer Republik hatten: Ein Vertrauen in Demokratie und Politik fehlt von Grund auf, die Krisen der Moderne werden in universalhistorischer Perspektive als periodische, transitorische Übel des Weltlaufes angesehen. Auch der Grund dafür wird deutlich: Weil bei aller intellektuellen Schärfe die Bedeutung von 1789 nicht verarbeitet wurde. Antimoderne können, das hat Antoine Compagnon gezeigt, die besseren Modernen sein: Dazu jedoch müssen sie die Eigenart dessen begriffen haben, was sie verachten; Flaubert, Baudelaire und Proust haben es auf dem Gebiet der Literatur vorgemacht. Curtius, so der Eindruck, hat 1932 die Moderne vielleicht ästhetisch, sicher aber nicht intellektuell begriffen - nicht begreifen wollen.
NIKLAS BENDER
Ernst Robert Curtius: "Elemente der Bildung".
Hrsg. von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Verlag C. H. Beck, München 2017. 517 S., geb., 48,- [Euro].
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Wolfgang Asholt, Arbitrium, 1/2018
"Große, detektivische und lobenswerte Arbeit."
Nico Schulte-Ebbert, literaturkritik.de, 12. Juni 2017
"Ein erstmals gedruckter Text zeigt den großen Romanisten Ernst Robert Curtius in neuem Licht."
Niklas Bender, FAZ, 12. Mai 2017
"Selten hat man klügere Aussagen über das Wesen und die Stellung von Bildung in einer Gesellschaft gelesen."
Mittelbayerische Sonntagszeitung, 9. April 2017
"Hier ist keine Seite, keine Fußnote überflüssig; hier wird ein abgestorbener Text, dem die Chance der Wirkung versagt blieb, ins Wasserbad des historischen Wissens gelegt, um dort wundersam zu erblühen."
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 2017