Elly ist weg. Eines Tages verschwindet die Elfjährige spurlos aus dem Leben ihrer Familie. Ihre Eltern und ihre ältere Schwester bleiben zurück und versuchen trotz des Verlustes weiterzumachen. Doch die drei können nicht loslassen, Elly bleibt allgegenwärtig, in Gedanken, Taten und Schuldgefühlen. Jeder spielt den Tag, nach dem nichts mehr war wie zuvor, unablässig im Kopf durch. Die Suche nach Elly hört nicht auf, alle Beteiligten schaffen sich ihren eigenen Ersatz für das Verlorene. Elly erzählt eine eindringliche und berührende Geschichte über den Sog von Trauer und Hoffnung – darüber, wie eine Familie durch das Verschwinden der Tochter jegliche Gewissheiten verliert. Maike Wetzels Roman besticht durch seine fesselnde Atmosphäre und sprachliche Brillanz. So entsteht das facettenreiche Bild einer Familie, deren Sehnsucht nach dem Verlorenen die Wirklichkeit verdrängt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2018Das doppelte
Mädchen
Auserklärt und geheimnislos:
Maike Wetzels Debütroman „Elly“
In seinem dokufiktionalen Film „Der Blender“ rekonstruiert der britische Regisseur Bart Layton den Fall des 13-jährigen Nicholas Barclay, der an einem Tag im Jahr 1994 das Haus seiner Familie in Texas verlässt, um zum Basketball zu gehen, und spurlos verschwindet. Drei Jahre später behauptet ein junger Mann in einem Kinderheim in Spanien, er sei der vermisste Nicholas Barclay. Die Familie holt ihn zu sich und nimmt ihn als ihren Sohn an, obwohl der Junge dem verschwundenen Nicholas nicht im Geringsten ähnlich sieht. Der Findeljugendliche tischt eine abenteuerliche Geschichte von Verschleppung und sexuellem Missbrauch auf. Die Familie glaubt ihm in dem verzweifelten Wunsch, ihren Sohn wiedergefunden zu haben.
Auch in „Elly“, dem ersten Roman der deutschen Autorin Maike Wetzel, verschwindet ein Kind auf dem Weg zum Sport. Wetzel erzählt die Geschichte vom Verlust eines Kindes im reportagehaften Dauerpräsens und aus verschiedenen Perspektiven als Familiendrama. Da ist Ines, Ellys zwei Jahre ältere Schwester, die sich den Tag des Verschwindens ihrer Schwester in allen Details vorstellt (das stärkste Kapitel des Romans). Wie ihre Mutter Judith und ihr Vater Hamid, ist sie Teil einer Leidensgeschichte, die mit der sozialen Verwahrlosung der Familie zusammenhängt.
Die Polizei ist zunächst misstrauisch und vermutet ein Verbrechen innerhalb der Familie; später ist sie hilflos. Jedes der Familienmitglieder hat sich seine eigene Welt zusammengebastelt, die von Illusionen, Hoffnungen und Selbstbetrug zusammengehalten wird. Die in kurze Passagen aufgesplitterten Kapitel demonstrieren, wie jedes einzelne Familienmitglied unter dem katastrophalen, rätselhaften Verlust leidet. Dabei entsteht der Eindruck, dass in dieser Familie bereits vorher einiges nicht mehr im Lot gewesen ist. Hamid, ein auf das Entwerfen von Rolltreppen spezialisierter Architekt, sieht zu, wie ihm seine Ehe entgleitet. Judith, die Nachhaltigkeitsberichte für Firmen geschrieben hat, war schon vor Ellys Verschwinden mit Tablettensucht und heimlicher Promiskuität beschäftigt.
Maike Wetzel, Jahrgang 1974, ist eine Romandebütantin, aber keine Anfängerin. Mit „Hochzeiten“ (2000) und „Lange Tage“ (2003) hat sie zwei durchaus bemerkenswerte Erzählungsbände veröffentlicht, bevor sie an der Münchener Filmhochschule studierte und sich der Drehbuch- und Regiearbeit zuwandte. Man würde ihr also ein Gespür für Aufbau und Dramaturgie zutrauen. Umso erstaunlicher, dass sie in ihrem Romandebüt nicht nur einen Hang zu bedeutungsschwangeren Hohlsätzen entwickelt („Rolltreppen sind wie Götter. Menschen liefern sich ihnen aus“). Sie hat auch gleich mehrere gravierende erzählstrategische Fehlentscheidungen getroffen.
Die fangen damit an, dass Wetzel den Roman aus der Perspektive einer Figur eröffnet, die mit dem eigentlichen Geschehen nichts zu tun hat und auch nicht mehr auftaucht: Ines, zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt, zwingt eine Zimmergenossin bei einem Krankenhausaufenthalt kurzerhand, die Rolle von Elly einzunehmen. Das Mädchen heißt Almut und betrachtet die so verschlossene wie selbstsichere Ines als ihre „Göttin“. Die beiden Mädchen verletzten sich vorsätzlich, um gemeinsam im Krankenhaus bleiben zu dürfen. Sie bilden eine Front gegen die Erwachsenenwelt und zugleich ein ungleiches Machtgefüge, das Almut nach und nach umkehrt. Diese ersten Kapitel des Romans dienen erkennbar dem Versuch, dem traumatischen Erlebnis gegenüber eine Außensicht einzunehmen. Das allerdings wird im weiteren Verlauf nicht noch einmal aufgegriffen und verpufft funktionslos.
Viel fataler allerdings ist der Umstand, dass Wetzel ihre Elly vier Jahre nach deren Verschwinden tatsächlich wieder auftauchen lässt. Ab diesem Zeitpunkt spult der Roman in aller Vorhersehbarkeit ein Programm ab, das man als Leser sofort durchschaut. Dass eine implodierte Familie durch Selbsttäuschung nicht wieder heil werden kann, ist keine sonderlich originelle Erkenntnis.
Was Judith und Hamid nicht erkennen wollen: Elly ist nicht die echte Elly, aber auch das zurückgekehrte Mädchen erzählt – wie in „Der Blender“ – nach langem Zögern die Geschichte von Verschleppung, Missbrauch und Gedächtnisverlust. Und spätestens, wenn Maike Wetzel dann auch noch die Perspektive der Blenderin selbst in den Roman einführt und ganz am Ende das Schicksal der echten Elly halbwegs aufklärt, hat sie ihren Figuren jegliches Geheimnis und ihrem Roman jegliche innere Spannung genommen.
Auch die Schriftstellerin Katharina Hartwell hat in ihrem 2015 erschienenen Roman „Der Dieb in der Nacht“ eine ganz ähnliche, explizit von dem Film „Der Blender“ inspirierte Geschichte erzählt. Nur hat Hartwell den Stoff transzendiert und ihren Plot als eine gespenstisch aufgeladene Story mit offenem Schluss angelegt. In „Elly“ bleibt nichts offen: Es ist der seltene Fall eines 140 Seiten starken Buchs, in dem viel zu viele Worte gemacht werden.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Maike Wetzel: Elly. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 148 Seiten, 20 Euro.
Die Autorin ist keine Anfängerin,
trotzdem unterlaufen ihr
erstaunliche Fehlentscheidungen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mädchen
Auserklärt und geheimnislos:
Maike Wetzels Debütroman „Elly“
In seinem dokufiktionalen Film „Der Blender“ rekonstruiert der britische Regisseur Bart Layton den Fall des 13-jährigen Nicholas Barclay, der an einem Tag im Jahr 1994 das Haus seiner Familie in Texas verlässt, um zum Basketball zu gehen, und spurlos verschwindet. Drei Jahre später behauptet ein junger Mann in einem Kinderheim in Spanien, er sei der vermisste Nicholas Barclay. Die Familie holt ihn zu sich und nimmt ihn als ihren Sohn an, obwohl der Junge dem verschwundenen Nicholas nicht im Geringsten ähnlich sieht. Der Findeljugendliche tischt eine abenteuerliche Geschichte von Verschleppung und sexuellem Missbrauch auf. Die Familie glaubt ihm in dem verzweifelten Wunsch, ihren Sohn wiedergefunden zu haben.
Auch in „Elly“, dem ersten Roman der deutschen Autorin Maike Wetzel, verschwindet ein Kind auf dem Weg zum Sport. Wetzel erzählt die Geschichte vom Verlust eines Kindes im reportagehaften Dauerpräsens und aus verschiedenen Perspektiven als Familiendrama. Da ist Ines, Ellys zwei Jahre ältere Schwester, die sich den Tag des Verschwindens ihrer Schwester in allen Details vorstellt (das stärkste Kapitel des Romans). Wie ihre Mutter Judith und ihr Vater Hamid, ist sie Teil einer Leidensgeschichte, die mit der sozialen Verwahrlosung der Familie zusammenhängt.
Die Polizei ist zunächst misstrauisch und vermutet ein Verbrechen innerhalb der Familie; später ist sie hilflos. Jedes der Familienmitglieder hat sich seine eigene Welt zusammengebastelt, die von Illusionen, Hoffnungen und Selbstbetrug zusammengehalten wird. Die in kurze Passagen aufgesplitterten Kapitel demonstrieren, wie jedes einzelne Familienmitglied unter dem katastrophalen, rätselhaften Verlust leidet. Dabei entsteht der Eindruck, dass in dieser Familie bereits vorher einiges nicht mehr im Lot gewesen ist. Hamid, ein auf das Entwerfen von Rolltreppen spezialisierter Architekt, sieht zu, wie ihm seine Ehe entgleitet. Judith, die Nachhaltigkeitsberichte für Firmen geschrieben hat, war schon vor Ellys Verschwinden mit Tablettensucht und heimlicher Promiskuität beschäftigt.
Maike Wetzel, Jahrgang 1974, ist eine Romandebütantin, aber keine Anfängerin. Mit „Hochzeiten“ (2000) und „Lange Tage“ (2003) hat sie zwei durchaus bemerkenswerte Erzählungsbände veröffentlicht, bevor sie an der Münchener Filmhochschule studierte und sich der Drehbuch- und Regiearbeit zuwandte. Man würde ihr also ein Gespür für Aufbau und Dramaturgie zutrauen. Umso erstaunlicher, dass sie in ihrem Romandebüt nicht nur einen Hang zu bedeutungsschwangeren Hohlsätzen entwickelt („Rolltreppen sind wie Götter. Menschen liefern sich ihnen aus“). Sie hat auch gleich mehrere gravierende erzählstrategische Fehlentscheidungen getroffen.
Die fangen damit an, dass Wetzel den Roman aus der Perspektive einer Figur eröffnet, die mit dem eigentlichen Geschehen nichts zu tun hat und auch nicht mehr auftaucht: Ines, zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt, zwingt eine Zimmergenossin bei einem Krankenhausaufenthalt kurzerhand, die Rolle von Elly einzunehmen. Das Mädchen heißt Almut und betrachtet die so verschlossene wie selbstsichere Ines als ihre „Göttin“. Die beiden Mädchen verletzten sich vorsätzlich, um gemeinsam im Krankenhaus bleiben zu dürfen. Sie bilden eine Front gegen die Erwachsenenwelt und zugleich ein ungleiches Machtgefüge, das Almut nach und nach umkehrt. Diese ersten Kapitel des Romans dienen erkennbar dem Versuch, dem traumatischen Erlebnis gegenüber eine Außensicht einzunehmen. Das allerdings wird im weiteren Verlauf nicht noch einmal aufgegriffen und verpufft funktionslos.
Viel fataler allerdings ist der Umstand, dass Wetzel ihre Elly vier Jahre nach deren Verschwinden tatsächlich wieder auftauchen lässt. Ab diesem Zeitpunkt spult der Roman in aller Vorhersehbarkeit ein Programm ab, das man als Leser sofort durchschaut. Dass eine implodierte Familie durch Selbsttäuschung nicht wieder heil werden kann, ist keine sonderlich originelle Erkenntnis.
Was Judith und Hamid nicht erkennen wollen: Elly ist nicht die echte Elly, aber auch das zurückgekehrte Mädchen erzählt – wie in „Der Blender“ – nach langem Zögern die Geschichte von Verschleppung, Missbrauch und Gedächtnisverlust. Und spätestens, wenn Maike Wetzel dann auch noch die Perspektive der Blenderin selbst in den Roman einführt und ganz am Ende das Schicksal der echten Elly halbwegs aufklärt, hat sie ihren Figuren jegliches Geheimnis und ihrem Roman jegliche innere Spannung genommen.
Auch die Schriftstellerin Katharina Hartwell hat in ihrem 2015 erschienenen Roman „Der Dieb in der Nacht“ eine ganz ähnliche, explizit von dem Film „Der Blender“ inspirierte Geschichte erzählt. Nur hat Hartwell den Stoff transzendiert und ihren Plot als eine gespenstisch aufgeladene Story mit offenem Schluss angelegt. In „Elly“ bleibt nichts offen: Es ist der seltene Fall eines 140 Seiten starken Buchs, in dem viel zu viele Worte gemacht werden.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Maike Wetzel: Elly. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 148 Seiten, 20 Euro.
Die Autorin ist keine Anfängerin,
trotzdem unterlaufen ihr
erstaunliche Fehlentscheidungen
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2018Ist sie die, die fehlt?
Familienhorror: Maike Wetzels Debütroman "Elly"
Im vergangenen Jahr gewann Maike Wetzel für diesen Roman, ihren ersten, den Robert-Gernhardt-Preis des Landes Hessen. Da es sich dabei um eine Auszeichnung handelt, die für ein noch in Entstehung befindliches Buch vergeben wird, lag der Jury nur ein Ausschnitt daraus vor. Man darf bezweifeln, dass das gesamte Werk für preiswürdig erachtet worden wäre, denn dafür ist es zu vorsichtig geraten. Der Auftakt aber ist höchst gewagt und eindrucksvoll.
"Nachts spielen Ines und ich, als wäre nichts geschehen", heißt es in diesem ersten Teil, der ein rundes Viertel der Handlung umfasst: "Ich bin Elly, sie ist meine Königin. Wir steigen bis in den Keller des Krankenhauses hinab. Lange, leere Gänge verbinden die einzelnen Gebäude. Es gibt keine Fenster, nur kahlen Beton und Rohre. Dort unten ist auch der Bettenparkplatz. Die Matratzen sind leer und frisch bezogen. Sie warten auf die nächsten Kranken. Die Menschen, die vorher auf diesen Betten lagen, wurden entlassen oder sind verstorben. Ines vermutet, die Pfleger bahren hier unten auch die Leichen auf. Irgendwo müssen die Kühltruhen sein, sagt sie. Ich nicke. Ich frage mich, ob Ines schon mal einen Toten gesehen hat. Ich stelle die Frage nicht. Ein Blick auf sie genügt, und ich kenne die Antwort." In solch karger Sprache erzählt der Roman vom Krankenhausaufenthalt eines jungen Mädchens, das wegen Darmverschlingung operiert worden ist und sich dort mit ihrer Zimmernachbarin, der etwas älteren Ines, anfreundet. Gemeinsam erobern beide sich nicht nur das Spital, sondern auch eine Phantasiewelt, in der die Ich-Erzählerin auf den Namen Elly hört. Und so heißt auch der Roman. Immer mehr wird sie zu diesem neuen Mädchen.
Dann bricht die Geschichte: Die Ich-Perspektive wechselt auf die ältere Schwester eines elfjährigen Mädchens namens Elly, das verschwunden ist. Die Familie ist verzweifelt. Unfall? Entführung? Missbrauch? Mord? "Meine Eltern und ich suchen nach den Anzeichen eines Plans. Wir wollen, dass Elly einfach abgehauen ist. Wir wünschen uns, dass sie lebt. Wir klammern uns daran." Dann wechselt das erzählende Ich ein weiteres Mal, wird zur Mutter, später wieder zur Schwester, dann zum Vater, kehrt zurück zur Mutter, und währenddessen vergehen vier Jahre und ein weiteres gutes Viertel der Handlung. Nebenbei erfahren wir den Namen der älteren Schwester: Ines. Und schließlich taucht im letzten, dem längsten Teil des Romans Elly wieder auf. Aber ist es jene Elly, die verschwand?
Maike Wetzel erzählt ihre Geschichte wie einen Horrorroman, in dem es keine Drastik gibt, nur Psychoterror. Erst den, der aus den Folgerungen über das Schicksal Ellys während ihrer Abwesenheit entsteht, und dann den des langsamen Gewahrwerdens der Familie, dass diese Halbwüchsige nicht ist, für was sie sich ausgibt. Das ist ein beklemmender, durch die ständig wechselnden Perspektiven bewusst offengehaltener Erkenntnisprozess, der hinter ein Geheimnis zu kommen scheint, das die zurückgewonnene Elly umgibt. Doch zu früh klärt Maike Wetzel die Situation: durch eine abermalige Verlagerung des Ichs auf das Mädchen selbst, das aber nun von einem anderen Horror erzählt. Und dadurch wird der alte überlagert, gebrochen, vergessen. Als Ines wieder als Erzählerin antritt, ist alles klar. Nein, nicht alles, denn es gibt noch einen allerletzten Perspektivwechsel, der noch weiter auflöst, was besser im Verborgenen geblieben wäre - und damit im Phantasieraum der Leser.
So aber misstraut Maike Wetzel nicht nur uns, sondern auch ihrer eigenen Geschichte. Die nichts Phantastisches braucht, aber zu schlechter Letzt just eine phantastische, nämlich übersinnliche Haltung zumindest nahelegt. Und auch wenn das Finale des Romans mit dem Satz anhebt: "Diese Geschichte ist meine Geschichte. Ich bin diejenige, die darin fehlt", hat die Stimme dieser Erzählerin zuvor gerade nicht gefehlt. Sie macht nur alles weniger rätselhaft und damit weniger verstörend. Während der Auftakt zu "Elly" die Hoffnung geweckt hatte, hier wüsste eine Autorin genau, was sie tut, und täte just deshalb nicht mehr als eben nötig. Gefehlt.
ANDREAS PLATTHAUS
Maike Wetzel: "Elly".
Roman
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 151 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familienhorror: Maike Wetzels Debütroman "Elly"
Im vergangenen Jahr gewann Maike Wetzel für diesen Roman, ihren ersten, den Robert-Gernhardt-Preis des Landes Hessen. Da es sich dabei um eine Auszeichnung handelt, die für ein noch in Entstehung befindliches Buch vergeben wird, lag der Jury nur ein Ausschnitt daraus vor. Man darf bezweifeln, dass das gesamte Werk für preiswürdig erachtet worden wäre, denn dafür ist es zu vorsichtig geraten. Der Auftakt aber ist höchst gewagt und eindrucksvoll.
"Nachts spielen Ines und ich, als wäre nichts geschehen", heißt es in diesem ersten Teil, der ein rundes Viertel der Handlung umfasst: "Ich bin Elly, sie ist meine Königin. Wir steigen bis in den Keller des Krankenhauses hinab. Lange, leere Gänge verbinden die einzelnen Gebäude. Es gibt keine Fenster, nur kahlen Beton und Rohre. Dort unten ist auch der Bettenparkplatz. Die Matratzen sind leer und frisch bezogen. Sie warten auf die nächsten Kranken. Die Menschen, die vorher auf diesen Betten lagen, wurden entlassen oder sind verstorben. Ines vermutet, die Pfleger bahren hier unten auch die Leichen auf. Irgendwo müssen die Kühltruhen sein, sagt sie. Ich nicke. Ich frage mich, ob Ines schon mal einen Toten gesehen hat. Ich stelle die Frage nicht. Ein Blick auf sie genügt, und ich kenne die Antwort." In solch karger Sprache erzählt der Roman vom Krankenhausaufenthalt eines jungen Mädchens, das wegen Darmverschlingung operiert worden ist und sich dort mit ihrer Zimmernachbarin, der etwas älteren Ines, anfreundet. Gemeinsam erobern beide sich nicht nur das Spital, sondern auch eine Phantasiewelt, in der die Ich-Erzählerin auf den Namen Elly hört. Und so heißt auch der Roman. Immer mehr wird sie zu diesem neuen Mädchen.
Dann bricht die Geschichte: Die Ich-Perspektive wechselt auf die ältere Schwester eines elfjährigen Mädchens namens Elly, das verschwunden ist. Die Familie ist verzweifelt. Unfall? Entführung? Missbrauch? Mord? "Meine Eltern und ich suchen nach den Anzeichen eines Plans. Wir wollen, dass Elly einfach abgehauen ist. Wir wünschen uns, dass sie lebt. Wir klammern uns daran." Dann wechselt das erzählende Ich ein weiteres Mal, wird zur Mutter, später wieder zur Schwester, dann zum Vater, kehrt zurück zur Mutter, und währenddessen vergehen vier Jahre und ein weiteres gutes Viertel der Handlung. Nebenbei erfahren wir den Namen der älteren Schwester: Ines. Und schließlich taucht im letzten, dem längsten Teil des Romans Elly wieder auf. Aber ist es jene Elly, die verschwand?
Maike Wetzel erzählt ihre Geschichte wie einen Horrorroman, in dem es keine Drastik gibt, nur Psychoterror. Erst den, der aus den Folgerungen über das Schicksal Ellys während ihrer Abwesenheit entsteht, und dann den des langsamen Gewahrwerdens der Familie, dass diese Halbwüchsige nicht ist, für was sie sich ausgibt. Das ist ein beklemmender, durch die ständig wechselnden Perspektiven bewusst offengehaltener Erkenntnisprozess, der hinter ein Geheimnis zu kommen scheint, das die zurückgewonnene Elly umgibt. Doch zu früh klärt Maike Wetzel die Situation: durch eine abermalige Verlagerung des Ichs auf das Mädchen selbst, das aber nun von einem anderen Horror erzählt. Und dadurch wird der alte überlagert, gebrochen, vergessen. Als Ines wieder als Erzählerin antritt, ist alles klar. Nein, nicht alles, denn es gibt noch einen allerletzten Perspektivwechsel, der noch weiter auflöst, was besser im Verborgenen geblieben wäre - und damit im Phantasieraum der Leser.
So aber misstraut Maike Wetzel nicht nur uns, sondern auch ihrer eigenen Geschichte. Die nichts Phantastisches braucht, aber zu schlechter Letzt just eine phantastische, nämlich übersinnliche Haltung zumindest nahelegt. Und auch wenn das Finale des Romans mit dem Satz anhebt: "Diese Geschichte ist meine Geschichte. Ich bin diejenige, die darin fehlt", hat die Stimme dieser Erzählerin zuvor gerade nicht gefehlt. Sie macht nur alles weniger rätselhaft und damit weniger verstörend. Während der Auftakt zu "Elly" die Hoffnung geweckt hatte, hier wüsste eine Autorin genau, was sie tut, und täte just deshalb nicht mehr als eben nötig. Gefehlt.
ANDREAS PLATTHAUS
Maike Wetzel: "Elly".
Roman
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 151 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bevor sich Maike Wetzel der Regie widmete, veröffentlichte sie zu Beginn der Nullerjahre bereits zwei lesenswerte Erzählbände, erinnert Rezensent Christoph Schröder. Mit "Elly" legt die Autorin nun auch ihren ersten Roman vor, fährt der Kritiker fort und staunt, wie man auf nur 140 Seiten noch "zu viele Worte" machen kann. Denn die deutlich von Bart Laytons Film "Der Blender" aus dem Jahre 1994 inspirierte Story um die spurlos verschwundene Elly, deren Familie nicht erst nach dem Verlust zerbricht, sondern schon zuvor in Trümmern lag, wie der Rezensent resümiert, enttäuscht nicht nur mit "bedeutungsschwangeren" Phrasen, sondern vor allem durch "erzählstrategische Fehlentscheidungen", klagt er. Wenn Wetzel eine falsche Elly auftauchen lässt und schließlich das Schicksal der echten Elly aufklärt, nimmt sie diesem allzu vorhersehbaren Roman wirklich jedes Geheimnis, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein Buch über die dunklen Seiten der Sehnsucht."
Hubert Spiegel, Laudatio zum Robert Gernhardt Preis 2017
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