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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie der Kampf für Menschenrechte immer schwerer und gefährlicher wurde
Für das demokratische Russland waren Menschenrechte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunächst eine wichtige Legitimationsquelle. Nicht erst seit den Ereignissen im ukrainischen Butscha im Frühjahr dieses Jahres wissen wir, dass von dieser Legitimation nichts geblieben ist. Im Sammelband "Embattled Visions. Human Rights since 1990" beschreibt Politikwissenschaftler Robert Horvath, wie Nationalisten im Zusammenspiel mit politischen und religiösen Eliten den Menschenrechtsschutz in Russland nach und nach ausgeschaltet haben. Mit diesem und weiteren aktuell relevanten Artikeln erscheint "Embattled Visions" im passenden Moment, um die nun eskalierte Phase eines wortwörtlichen Kampfs um Deutung und Bewahrung von Völker- und Menschenrecht besser zu verstehen. Der Blick zurück hilft auch, die Koalition gegen Menschenrechte zwischen China und Russland zu kontextualisieren.
Die Entwicklung der Menschenrechte in den vergangenen 30 Jahren, wie sie der Sammelband der Herausgeber Jan Eckel und Daniel Stahl nachzeichnet, war keine lineare Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte. Vielmehr gab es Fortschritte hier, Rückschritte dort und scharfe Auseinandersetzungen in wieder anderen Konstellationen.
Nach dem Ende der Sowjetunion und einer Welle der Demokratisierungen prägte eine Euphorie für Menschenrechte den Anfang der 1990er-Jahre. 1993 bestätigten die UN-Mitgliedstaaten auf der Weltmenschenrechtskonferenz von Wien sowohl das von Entwicklungsländern eingeforderte Recht auf Entwicklung als auch die Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte. Die Neunziger brachten Innovationen des Völkerstrafrechts mit sich, wie die Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie das Römische Statut, das den Grundstein für den Internationalen Strafgerichtshof legte. Zu Beginn der 2000er-Jahre setzte die UN-Behindertenrechtskonvention neue Akzente. In Europa entwickelte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu einem suprastaatlichen Quasiverfassungsgericht mit rasch anwachsendem Zuständigkeitsbereich. Fast alle ehemaligen Ostblockstaaten traten dem Europarat bei und nahmen die Europäische Menschenrechtskonvention teils in die eigenen Verfassungen auf.
Der Historiker Jan Eckel macht drei wichtige Tendenzen der Entwicklung der Menschenrechte seit 1990 aus, nach denen die Herausgeber den Sammelband untergliedern. Erstens die Expansion des Bedeutungs- und Anwendungsbereichs von Menschenrechten. Zweitens neue politische und militärische Interventionen, die mit Menschenrechten begründet wurden. Wobei hier der Beitrag der Historikerin Alexa Stiller besonders interessant ist, der nachspürt, wie die militärische Intervention im ersten Irakkrieg und die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts zusammenhängen. Eine dritte Tendenz sieht Eckel in der Zurückweisung der Menschenrechtsidee und ihres Anspruchs auf Universalität.
Eine der zentralen Auseinandersetzungen fand dabei zwischen westlichen Staaten und den autoritären, wirtschaftlich aufstrebenden Staaten Asiens statt. Bereits in der Wiener Erklärung versuchten diese Staaten mit Verweis auf "traditionelle" Werte den Universalitätsanspruch in Asien mit einem kulturrelativistischen Argument zu schwächen. Die Debatte um "asiatische Werte" sollte Menschenrechte als kulturellen Imperialismus diffamieren. Bis heute verfolgt China die diskursive Aushöhlung der Menschenrechtsdebatte, inzwischen auch mit Unterstützung Russlands. Auch in westlichen Debatten kommt immer wieder die These von Menschenrechten als westlichen Werten auf. Katrin Kinzelbach, Professorin für Internationale Politik, argumentiert dagegen, dass diese Lesart die multiplen globalen Einflüsse auf die Menschenrechtsagenda und die Bedeutung der Menschenrechte für antikoloniale Bewegungen ignoriere.
Eine Stärke des Sammelbandes liegt darin, dass die Autoren Angriffe auf das Menschenrechtsregime nicht allein in China und Russland verorten. Deutlich wird beispielsweise, wie Großbritannien seit vielen Jahren versucht, den Einfluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückzuweisen. Averell Schmidt von der Harvard Kennedy School untersucht in einem eigenen Kapitel die Aushöhlung der UN-Folterkonvention durch die Vereinigten Staaten und stellt dar, wie der Krieg gegen den Terror die Menschenrechtsagenda schwächte.
Die Historikerinnen Barbara Keys und Amy Hodgson greifen in ihrer Abhandlung über die Chinakampagne von Human Rights Watch fast nebenbei die These auf, dass Chinas wirtschaftliche und soziale Fortschritte unter den größten menschenrechtlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts seien. Hier sind spannende Debatten über geschichtliche Narrative noch nicht abgeschlossen.
Forscher der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaften aus Mitteleuropa, den USA und Australien tragen in "Embattled Visions" zur Weiterentwicklung wissenschaftlicher Debatten bei. Das Buch erscheint in der Schriftenreihe "Menschenrechte im 20. Jahrhundert" und greift vor allem Beiträge einer interdisziplinären Konferenz des gleichnamigen Arbeitskreises aus dem Mai 2019 in Köln auf. Dabei reproduziert die Zusammenstellung aber, was die Beiträge teils selbst kritisieren: eine Betrachtung der weltweiten Menschenrechtsentwicklung aus rein "westlicher" Perspektive. Gerade zur Wiener Konferenz mit der Bestätigung des Rechts auf Entwicklung, zu den vermeintlichen Wertedebatten in Asien oder zu russischen Angriffen auf die Menschenrechtsidee unter religiösem Deckmantel wären Einschätzungen der Wissenschaft aus postkolonialen Staaten oder aus Osteuropa bereichernd gewesen.
Das vierte und letzte Kapitel des Sammelbands richtet den Blick nach innen auf die Geschichte der Forschung zu Menschenrechten in den Rechts- und Politikwissenschaften. Der Band klingt aus mit einem ausführlichen Interview des Historikers Daniel Stahl mit der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Kathryn Sikkink. Sikkink hat mit ihrer Forschung zu transnationalem Menschenrechtsaktivismus Generationen von Studierenden der Internationalen Beziehungen geprägt. Das Interview setzt sich als Mischung von autobiographischen und historischen Erzählungen in der Form deutlich, aber nicht unpassend von den anderen Aufsätzen ab. Sikkinks Überzeugung, dass es in Bezug auf die Menschenrechtsentwicklung Evidenz für Hoffnung gebe, hat sie zwar bereits 2017 in ein Buch mit diesem klingenden Titel gegossen. Fünf Jahre später bleibt es aber eine wichtige Erinnerung und der Sammelband in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. MONIKA REMÉ
Jan Eckel, Daniel Stahl (Hrsg.): Embattled Visions. Human Rights since 1990.
Wallstein-Verlag, Göttingen 2022. 388 S., 41,- Euro.
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