Reflektiert, universalistisch und pragmatisch - ein menschliches Sachbuch
Disclaimer: Gerade gibt es Kritik an Lunz bzw. ihrer Organisation CFFP, in der ihr White Feminism vorgeworfen wird. Ich habe das nur am Rand mitbekommen und sie scheint sich auf ein Panel Ende Oktober zu beziehen. Obwohl
das Buch vorher geschrieben wurde, geht Lunz auf diese grundlegende Kritik an ihrer Arbeit auch im…mehrReflektiert, universalistisch und pragmatisch - ein menschliches Sachbuch
Disclaimer: Gerade gibt es Kritik an Lunz bzw. ihrer Organisation CFFP, in der ihr White Feminism vorgeworfen wird. Ich habe das nur am Rand mitbekommen und sie scheint sich auf ein Panel Ende Oktober zu beziehen. Obwohl das Buch vorher geschrieben wurde, geht Lunz auf diese grundlegende Kritik an ihrer Arbeit auch im Text ein, ohne sie zu negieren. Anhand allem, was sie im Buch schreibt, sehe ich zumindest hier keinen Grund, ihr White Feminism vorzuwerfen, wenngleich ich den Kritisierenden ihren Eindruck nicht absprechen werde.
……..
Ein Buch, von dem ich nicht wusste, dass ich es brauche. Und ich bin skeptisch in die Lektüre gegangen, weil Kristina Lunz in meiner Blase auch immer mal für einen neoliberalen Feminismus kritisiert wird. Doch die Autorin konnte mich mit ihrer Reflektiertheit sehr schnell überzeugen.
Den Einstieg findet sie über ihre Vergangenheit bzw. ihren Karriereweg. Sie listet ihre aktivistischen Errungenschaften selbstbewusst auf und ich musste mich selbst fragen, warum ich da widerständige Gefühle hatte. Sie hat viel feministische Arbeit geleistet und tut es noch - warum sollte sie das nicht teilen dürfen? Hier wurde ich mit meiner internalisierten Misogynie konfrontiert, die Frauen als bescheiden und leise klassifizieren will.
Lunz widmet sich dann den beiden Komponenten, auf denen sie guten Aktivismus begründet sieht. Empathie sei dabei wichtig, muss aber regelmäßig geprüft werden. Empathie wird sich ungesteuert nämlich immer vor allem auf unsere In-Group richten und damit selektiv sein. Als Basis dessen sollten wir Menschen offen und vorurteilsfrei begegnen, auch oder gerade wenn sie eine andere Meinung vertreten und mit Methoden des Peacebuildings Brücken schlagen. Genau diese daraus entstehenden Allianzen sind es schließlich, die der linken Bewegung inhärent sein sollte - und es leider immer weniger sind.
Empathie sollte aber dort ihre Grenze haben, wo das Gegenüber grundlegende Werte missachtet. Wo diese Grenze liegt, muss jeder Mensch für sich herausfinden und stetig neu überprüfen. Wie schwierig es ist, diese Balance zu halten - sich weder vorzumachen, alles zu wissen, noch sich von unmenschlichen Ideen korrumpieren zu lassen - beschreibt Lunz sehr greifbar. Sie unterscheidet in ihrem Vorgehen auch hinsichtlich der Macht, die eine Person hält. Ein mächtiger Minister bekommt weniger Empathie, wenn er wichtige Gesetzesänderungen blockiert, als ein Privatmensch, der durch eine Veränderung Nachteile befürchtet. Diesen Ansatz finde ich so herausfordernd wie schön.
Beim Lesen habe ich mich mehrfach selbst ertappt. Ich neige zu schneller Meinungsbildung und befeuere somit selbst Lagerdenken. Statt immer nur zu dekonstruieren, so Lunz, sollte der anschließende Schritt immer die Konstruktion einer besseren Alternative sein. Einzelpersonen, z. B. erfolgreiche Autoren, für ihren Erfolg anzugreifen, trifft oft die falsche Stelle. Konstruktive Kritik ist angemessen, Schuldzuschreibung für die Wirkweisen eines jahrtausendealten Systems eher nicht.
Kristina Lunz schreibt auf eine extrem reflektierte Weise, thematisiert Kritik an ihrer Form des Aktivismus (von innen heraus verändern) und respektiert sie, ohne den anderen Ansatz zu diffamieren. Sie meidet hochkomplexe Themen nicht und schreibt so wiederholt über die Situation in Nahost seit dem 7. Oktober 2023, besonders über den Stellvertreterkrīeg hier bei uns. Ihre Forderungen sind dabei so klar, dass sich mir nicht erschließt, wie ihr vorgeworfen werden kann, sie würde sich nicht an die Seite der Palästinenser*innen stellen. Ich bewundere ihre Fähigkeit, Grenzen zu setzen, ohne in Dogmatismus und vereinfachte Dichotomien zu verfallen. Und das kann ich, obwohl ich ihren gewählten aktivistischen Weg nicht unbedingt teile.
Der letzte Abschnitt, welcher aktivistische Frauen porträtiert, kam mir an manchen Stellen etwas zu gewollt vor. Es sollte hier gezeigt werden, wie diese Empathie und Widerstand in ihrem Aktivismus praktizieren, doch dafür waren mir die Texte zu kurz. Daher ziehe ich einen halben Stern ab, bewerte das Buch aber noch immer sehr gut.
Ich habe mich von diesem Werk in meinem Universalismus bestärkt gefühlt und gleichzeitig gemerkt, wie herausfordernd es ist, nicht einem ideologischen Denken zu verfallen, das uns vorgaukelt, wir hätten die einzige Wahrheit für uns gepachtet. Damit hat „Empathie und Widerstand“ es geschafft, dass ich mich weiter im Aushalten verschiedener Perspektiven üben möchte (Stichwort: Ambiguitätstoleranz), ohne dabei meinen Widerstand gegen Unmenschlichkeit aufzugeben.
4,5 ⭐️