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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vom Scheitern der Machtzentralen an lokalen Widerständen: Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard schreiben eine Globalgeschichte des Imperialismus.
Um 1800 gehörten 35 Prozent der Erdoberfläche zu einem Imperium, 1914 waren es 84 Prozent. Allein seit 1880 wurden 28 Millionen Quadratkilometer in Übersee unter imperiale Herrschaft genommen, das ist fast das Achtzigfache der Fläche Deutschlands. "Empires. Eine globale Geschichte 1780-1920", das neue Buch der Historiker Ulrike von Hirschhausen (Rostock) und Jörn Leonhard (Freiburg), behandelt ein zentrales Phänomen des neunzehnten Jahrhunderts mit Wirkungen weit darüber hinaus bis in die Gegenwart. Und dies mit einer eigenen Frage, keiner ganz neuen, aber einer, die derzeit zu wenig Beachtung findet, wie die Autoren meinen.
Doch bevor davon die Rede sein soll, sei vorausgeschickt, was das Buch nicht tut, der Leser aber womöglich erwartet. Es gibt keinen handbuchartigen Überblick über die Entwicklung der Imperien. Wir erfahren nicht, wie sich die englische Herrschaft in Indien im neunzehnten Jahrhundert veränderte oder Frankreich Westafrika in den Griff nahm, und auch nicht, was die Kolonien in Übersee und die Peripherien der Kontinentalimperien einbrachten und kosteten. Überhaupt liegt das Handbuchartige, Resümierende, Verallgemeinernde den Autoren fern. Sie wollen den Blick auf die örtlichen Umstände lenken und die davon ausgehenden sehr verschiedenen Möglichkeiten und Beschränkungen, für die großen Mächte wie die von ihnen Unterworfenen. Dabei umfasst ihr Blick die überseeischen Reiche insbesondere Großbritanniens und Frankreichs wie die Kontinentalimperien, das osmanische, russische und habsburgische Reich.
In der gegenwärtigen Diskussion wird, so von Hirschhausen und Leonhard, die Macht der Zentralen gegenüber den kontrollierten Gebieten überschätzt. Es gibt diese Macht, aber auch viele Störfaktoren. Ein schönes Beispiel ist die Baumwolle, für alle Reiche ein wichtiger Rohstoff: Cotton is King. Russland setzte in den neu eroberten Gebieten Zentralasiens auf die Förderung des Baumwollanbaus vor allem durch Steuervergünstigungen, was die Bauern in der Tat dazu brachte, zum Baumwollanbau überzugehen. Wirtschaftlich war das ein bedeutender Erfolg, den die Franzosen in Westafrika auch gerne erzielt hätten.
Doch Frankreich scheiterte an den lokalen Märkten, die die einheimische Rohbaumwolle zu guten Preisen abnahmen. Das wiederum lag daran, dass die westafrikanische Bevölkerung die im Lande gewebten Stoffe besser fand als die aus Frankreich importierte Fabrikware. Die Pariser Pläne zum Aufbau eines profitablen Import-Export-Geschäfts scheiterten komplett. Der französische Generalgouverneur stellte 1903 fest, dass die Idee der Konzessionsgesellschaften, "streng kontrollierte Schwarze" für sich arbeiten zu lassen, illusorisch sei. "Alle, die die wirklichen Produktionsbedingungen in Westafrika kennen, die den Geist der Schwarzen und die Macht, die sie ausüben, kennen, werden eine Lösung anstreben, (...) die die moralische und materielle Entwicklung des Arbeiters stimulieren kann", und eine solche Lösung werde über den Preis erzielt.
Die örtlichen Bedingungen und Individuen durchkreuzten die Pläne der Zentrale, und der westafrikanische Baumwollmarkt stand nicht einzig da. So ging es typischerweise, wenn auch nicht immer, bei Steuererhebungen, und wo die Zentrale auf die Durchsetzung ihrer europäischen Rechtsordnung setzte, zeigte sich oft, dass die indigene Bevölkerung diese Ordnung zu ihren Gunsten wendete. Ganz neu ist die Erkenntnis nicht. "Max Havelaar", ein Klassiker der niederländischen Literatur, erzählt davon. Der Autor, Eduard Douwes Dekker, hatte an verantwortlicher Stelle in der Kolonialverwaltung Niederländisch-Ostindiens gearbeitet und schöpfte für seinen Roman, den er 1860 unter dem Pseudonym Multatuli veröffentlichte, aus seinen Erfahrungen: Die Kolonialverwaltung, das ist ein durchgehendes Thema des Buches, ist auf die Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten, den "Häuptern" angewiesen, anders geht es nicht, und muss ihnen große Zugeständnisse machen. Dies allerdings auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung.
Und so stellt sich die Frage, ob dies Problem in "Empires" zureichend berücksichtigt wird. Das Buch beschreibt, wie die Arbeiter am Suezkanal dieses doch gewiss kolonialistische Projekt zu einer durchgreifenden Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse nutzten, zur Abschaffung der staatlich organisierten Zwangsarbeit. Und dass "der Geist der Schwarzen und die Macht, die sie ausüben", oft unterschätzt wurde und wird, stimmt wohl. Aber ob der "Eigensinn" der Kolonisierten nicht oft der Oberschicht zulasten der Ärmeren zugutekam, das würde man gerne eingehender behandelt sehen. Besonders dunkle Seiten des Imperialismus wie die Niederschlagung des Sepoyaufstands 1857-59, der Völkermord an den Hereros, die Gräuel im Kongo-Freistaat, werden schon erwähnt, aber nur kurz, sie werden als bekannt vorausgesetzt und sind es vielleicht auch. Aber wo es um die Möglichkeiten der Kolonisierten gehen soll, fehlt dann doch etwas.
Eine Stärke des Buches ist dagegen das parallel laufende Interesse für die überseeischen Reiche und die kontinentalen. Und dabei entfaltet sich eine Pointe, die aller Bedeutung der jeweiligen Gegebenheiten zum Trotz zu einem durchgehenden Problem führt: dem Widerspruch im Wollen der Zentrale und dem der Kolonien oder Provinzen. Vereinheitlichung ist ein "Leitprinzip moderner europäischer Staatlichkeit" (Wolfgang Reinhard), das ist eine große Verführung für die Organisation von Imperien. So hat das Zarenreich versucht, durch Russifizierung, unter anderem eine scharfe Sprachenpolitik, Polen und die Ukraine dauerhaft unter seine Herrschaft zu bringen, damit aber nur Oppositionslust geweckt und der Sache des Zusammenhalts geschadet.
Aber auch, wo man durch Respekt vor den Eigentümlichkeiten der Völker deren guten Willen wecken wollte, wie es Österreich-Ungarn mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Nationen versuchte, ist das Ergebnis kaum anders: die Nationen fühlen sich aufgefordert, weiter gehende Rechte gegen imperiale Ansprüche zu behaupten. Auch die russische Baumwollpolitik hatte einen solchen Haken. Die muslimische Bourgeoisie auf dem Land, die jetzt gute Geschäfte machte, wurde unzufrieden, weil ihre neue ökonomische Stärke sich nicht in politische Teilhabe umsetzen ließ.
Und man versteht es, denn in der Natur der Reiche liegt immer schon der Anspruch des Zentrums und seiner Bevölkerung auf Dominanz. Als Russland Zentralasien eroberte und russische Siedler dort ansetzte, fühlten diese sich speziell bevorrechtigt: "Das Land gehört dem Zaren, und wir sind das Volk des Zaren. Warum sollen die Kirgisen dort leben?" Die Kirgisen waren offenbar nicht das Volk des Zaren. So zeigt sich das anscheinend unlösbare Problem, an dem alle imperiale Herrschaft scheiterte, die kontinentale früher, im Ersten Weltkrieg, die überseeische später, nach dem Zweiten Weltkrieg. STEPHAN SPEICHER
Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard: "Empires". Eine globale Geschichte 1780-1920.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 736 S., Abb., geb., 49,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stephan Speicher
"Ein enorm interessantes Buch, das durch schiere Fülle seines Materials, durch die Komplexität der ausgebreiteten historischen Widersprüche viele einfache Gewissheiten der Geschichtsschreibung in Frage stellt - ohne an irgendeiner Stelle in eine polemische Tonlage zu verfallen."
Deutschlandfunk Kultur, Jens Balzer
"Immer wieder sind es die wunderbaren, erzählerisch auf hohem Niveau ausgebreiteten Vignetten zu diversen Aspekten des europäischen Imperialismus, die den Leser in den Band hineinziehen und ihm spannende Geschichten vermitteln."
h-soz-kult, Stefan Berger
"Detailreiche, mahnende Analyse."
HÖRZU
"Die hellen Lichter, die dieses Buch setzt, erweitern den Blick auf die Kolonialgeschichte."
Badische Zeitung
Sachbuch Bestenliste im August 2023 von Die WELT/WDR 5/Neue Zürcher Zeitung/ORF-Radio Österreich 1:
"Dieses Buch hilft, Strukturen und Funktionen imperialer Machtansprüche besser zu verstehen."
"Die Historiker widerlegen an personalisierten Beispielen auch die gängigen Vorstellungen vom Kolonialismus und zeigen dabei, dass die eindimensionale Opfer-Täter-Sicht als Erklärmodell nicht ausreicht. ... Die Autoren bieten viel Stoff, der sich aber durchzuarbeiten lohnt."
Salzburger nachrichten, Ingo Hasewend
"Hilft, die Struktur und Funktion imperialer Machtansprüche zu verstehen."
WELT am Sonntag, Wolf Lepenies