Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Heute erscheint Stéphane Hessels "Empört euch!" auf Deutsch. Einige Mutmaßungen, warum diese dreißig Seiten auch hierzulande wie warme Semmeln weggehen könnten.
Der Ullstein Verlag hat schnell zugegriffen und Stéphane Hessels Empörungsschrift, die in Frankreich ein Mega-Bestseller ist, mit einer deutschen Startauflage von 50 000 Stück auf den Weg geschickt. Der französische Verkaufserfolg, der schwerlich auf klare Kausalitäten zurückzuführen ist (F.A.Z. vom 5., 14. und 20. Januar), geht jedenfalls mit zwei äußeren Erstaunlichkeiten einher: Die Schrift ist weniger ein Buch als ein Heftchen, sie hat dreißig Seiten, kostet 3,99 Euro. Und ihr Autor ist ein greiser Mann von 93 Jahren, der als Résistance-Mitglied, Überlebender des KZ Buchenwald und Mitautor der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen über gehörige Lebenserfahrung und moralische Autorität verfügt.
Sind das schon alle Ingredienzien, die ein phänomenaler Verkaufserfolg wie dieser benötigt: die Koppelung von Helmut-Schmidt-Effekt (altersweise moralische Instanz) und schnell und preiswert konsumierbarer Lektüre? Brauchen wir mehr alte Männer als Autoren und einen anderen, einen auf Heftumfang reduzierten Bücherbegriff, damit der Buchmarkt boomt?
Im vorliegenden Fall ist der knappe, aufstachelnde Titel "Empört euch!" nicht nur eine zündende Geschäftsidee, sondern er bezeichnet tatsächlich die Substanz des Buches. Es geht darin nämlich weniger um die konkreten politischen Anliegen, die der Autor als Beispiele für eine allfällige Protestkultur nennt: die Exzesse des Finanzkapitalismus, die Umweltzerstörung, die Politik Israels im Gaza-Streifen (gegen Letztere hat er sogar zu einem heftig diskutierten Boykott israelischer Produkte aus den besetzten Gebieten aufgerufen). Hessel nennt solche Zornanlässe und macht doch klar, dass es nur Anlässe sind. "Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt - die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma." All diese Themen sind Anlässe für das, worum es dem Autor geht: ein engagiertes Leben zu führen, durchaus im Sinne der Existenzphilosophie Sartres, wiewohl Hessel sich in der Gewaltfrage distanziert: "Es geht nicht an, nach Sartres Beispiel im Namen des von ihm postulierten Prinzips Terroristen zu unterstützen, sei es während des Algerien-Kriegs oder 1972 beim Attentat gegen israelische Athleten während der Münchner Olympischen Spiele. Damit kommt man nicht weiter, und Sartre selbst hat sich am Ende seines Lebens gefragt, welchen Sinn Terrorismus habe, und seine Berechtigung bezweifelt."
Eine von ihren Anlässen losgelöste Empörungsbereitschaft erscheint hier als die Essenz des Daseins, als ein lebensspendendes Prinzip. Weil sie, die Empörung, ex negativo dazu zwingt, sich an Wertvollem aufzurichten, ein Leben aus Ideen zu führen und damit aus Freiheit statt aus Notwendigkeit. Hessels Pamphlet atmet eine Überzeugungsnaivität, die es sich in einer Kultur der Überkomplexität zu erhalten gilt: Staunen als die alte neue erste Bürgerpflicht. Diese völlig begründungs- und erklärungsfreie Schrift - ein Ausruf ad hoc, kaum mehr - reißt aus dem Defätismus heraus, aus den Ohnmachtsgefühlen, die die globale Vernetzung gebiert. Sie warnt vor beidem: vor der Lähmung der Antriebe wie vor der ungenauen fundamentalistischen Erhebung, vor der Fundamentalopposition gegen die Welt, wie sie ist. "Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen - die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz-und-Quer-Verbindungen wie noch nie."
Warum 3,99 Euro für diese dreißig Seiten hinlegen? Weil man dafür ein Lebenselixier erhält, eine Erinnerung an das Beste in uns.
CHRISTIAN GEYER.
Stéphane Hessel: "Empört euch!"
Aus dem Französischen von Michael Kogon. Ullstein Buchverlage, Berlin 2011. 32 S., br., 3,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main