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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Doch die Rache für die männliche Überheblichkeit folgt auf dem Fuß: "Empusion", der neueste Roman der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, führt in die Zeit und das Setting des "Zauberbergs" von Thomas Mann, erzählt jedoch ganz anderes.
Von Marta Kijowska
Tag für Tag geschehen in der Welt Dinge, die sich nicht erklären lassen mit den Gesetzmäßigkeiten, die wir von den Dingen kennen": Unter diesem Motto, das von Fernando Pessoa stammt, steht die Handlung der "Schauergeschichte" von Olga Tokarczuk, die, wie so oft in ihrem Fall, in Niederschlesien spielt. Diesmal ist es der Kurort Görbersdorf (heute Sokolowsko), der 1855 von dem Arzt Hermann Brehmer gegründet wurde und sich auf Lungenkrankheiten spezialisiert. Unter den Patienten, die aus ganz Europa kommen, ist auch Mieczyslaw Wojnicz, ein Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik aus Lemberg, der hier im September 1913 eintrifft und für die Heilung seiner Tuberkuloseerkrankung die nicht immer angenehmen Behandlungsmethoden und den täglichen Weg zum Kurhaus in Kauf nimmt. Seine Unterkunft befindet sich in einem "Gästehaus für Herren", das einem gewissen Wilhelm Opitz gehört und in dem etliche weitere Patienten wohnen, unter anderem Longinus Lukas, Gymnasiallehrer aus Königsberg, August August, klassischer Philologe und Schriftsteller aus Wien, Walter Frommer, Theosoph und Geheimrat aus Breslau, und Thilo von Hahn, Kunststudent und Kenner der Landschaftsmalerei aus Berlin. Die meisten dieser Herren haben etwas Groteskes an sich. Sie führen endlose Gespräche über Politik, Kultur, Religion, Zivilisation, Revolution und vieles mehr, doch es kommt bei diesen Diskursen sehr wenig heraus, ja sie scheinen sie schnell wieder zu vergessen und fangen am nächsten Tag von vorn an, als ginge es ihnen nur um den Streit als solchen. Dabei trinken sie ständig einen Likör namens Schwärmerei, und zwar so gern und in solchen Mengen, als wäre es ein Lebenselixier. Drei von den Männern, August, Lukas und Frommer, betrachten sich zudem als Wojnicz' Mentoren und konfrontieren ihn folglich immer wieder mit einer solchen "Lawine an Ideen, Argumenten, Gegenargumenten, Zitaten und Anspielungen", dass er oft nicht mehr weiß, wovon sie sprechen (ein Zustand, der sich gelegentlich auch beim Leser einstellt). Sie sind eine Art Pendant zu Settembrini und Naphta aus Thomas Manns "Zauberberg", was natürlich nur einer der Gründe ist, die beiden Romane miteinander zu vergleichen - Zeit, Ort, Atmosphäre und Beginn der Handlung sowie die Merkmale der beiden Hauptfiguren sind von den übrigen die offensichtlichsten. Allerdings gibt es zwischen den Protagonisten auch wesentliche Unterschiede: Hans Castorp besaß eine moralische und intellektuelle Integrität und verlor nie die Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wojnicz' Stärke hingegen liegt paradoxerweise in seiner Unsicherheit, die nicht zuletzt auf ein Geheimnis zurückgeht, das ihm selbst erst am Ende des Romans bewusst wird. Bis dahin muss er die Debatten der Männer über sich ergehen lassen, die sich bei einem Thema erstaunlich einig sind: dem Charakter, der Rolle und der Bedeutung des weiblichen Geschlechts. Sie sind überzeugt, dass die Psyche der Frauen schwächer ist, dass ein nie befriedigter Sexualtrieb sie zu Verrückten macht, dass sie ein kleineres Gehirn und keinen Sinn für Moral haben, dafür aber die Kunst beherrschen, sie, die Männer, zu imitieren, wohinter die Absicht stecke, sie zu verführen und sich von ihnen schwängern zu lassen. Daher wäre die Welt vollkommener, wenn es überhaupt keine Frauen gäbe. Da es sie aber nun mal gibt, sollten sie unentwegt diszipliniert werden. Diese Ansichten mögen bekannt vorkommen: Sie sind allesamt, so Tokarczuks Anmerkung, Paraphrasen von Äußerungen solcher Berühmtheiten wie William S. Burroughs, Charles Darwin, Joseph Conrad, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, August Strindberg oder Sigmund Freud. Und von Otto Weininger, dem Verfasser des wegweisenden Werks "Geschlecht und Charakter" (1903). Doch die Diskutanten kennen auch die Fallen der Männlichkeit. Sie orientieren sich an Vorbildern, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat, und sehen deshalb als die einzig nachahmenswerte Identität eine an, die auf Stärke und Dominanz ausgerichtet ist. Sie wissen aber, dass ein kleiner Fehler genügt, damit sie zerfällt. Daher ihre ständige Angst vor Komplikationen und Chaos und somit vor dem Verlust ihrer Privilegien. Auch Wojnicz wird von ständigen Angstzuständen und Panikattacken geplagt. Er ist von Natur aus unsicher und überempfindlich, was auf die strenge Erziehung seines Vaters zurückzuführen ist: Da der sich für seinen Sohn den Soldatenberuf wünschte, entzog er ihn schnell der Obhut der einzigen Frau, die es im Haushalt gab, und schickte ihn in ein Internat, um ihn anschließend diversen Erziehern und Lehrern zu überlassen. Nun ist der Junge in Görbersdorf, doch auch hier hat er bald Angst, in erster Linie davor, fremden Blicken ausgesetzt zu sein, und geht den meisten Menschen, vor allem seinen polnischen Landsleuten, aus dem Weg. Außerdem merkt er bald, dass der idyllische Charakter des Kurorts trügt und dort etwas Schlimmes passiert. Schon in der ersten Nacht stößt er auf die Leiche der Frau des Gästehausbesitzers, Klara Opitz, die Selbstmord begangen haben soll. Und er hört von einem blutigen Ritual, das sich jeden Herbst im Wald um Görbersdorf abspielt. Laut einer Legende wurden die dortigen Frauen einst der Hexerei bezichtigt. Sie flohen in die Berge, ihr Leid ist aber immer noch da und fordert Rache. So werde jedes Jahr im November, erfährt Wojnicz von Wilhelm Opitz, ein Mann getötet; man schleife ihn in einer Vollmondnacht in den Wald, um ihn dort anzubinden und "dem Blick der Tuntschis auszusetzen". Auf die Frage, was die Tuntschis seien, murmelt Opitz etwas "von der Großen Sache, dem Opfer, das das Dorf rette". Die Wahl sei diesmal auf Thilo, den schwerkranken Jungen aus Berlin, gefallen, der sei aber leider zu früh gestorben. So ahnt Wojnicz, dass er im Endeffekt das Opfer sein könnte. Was ihn zudem beunruhigt, ist der ungeklärte Tod von Klara Opitz. Er schleicht sich immer wieder ins Zimmer der Verstorbenen, und eine Entdeckung, die er dabei beim Blick in einen Spiegel macht, wird sein Leben verändern. Er entdeckt sein androgynes Wesen, was ihn zwar zu einer vollständigen Identifizierung mit der Weiblichkeit verdammt: Als er den Kurort verlässt, nimmt er die Identität von Klara Opitz an. Doch immerhin ist er in der Lage, seine Andersartigkeit und das damit verbundene Gefühl, "vielfach, vielschichtig, vielgestaltig" zu sein, zu genießen. Mit dieser Selbsterkenntnis hängt ein weiteres wichtiges Motiv des Romans zusammen: die Suche nach einer anderen Sichtweise auf die Welt, die Wojnicz nicht zuletzt den Gesprächen mit dem Kunststudenten Thilo verdankt. Dieser sagt zu ihm Dinge wie: "Du musst die richtige Entfernung finden und so lange hinsehen, bis du eine dreidimensionale Bewegung erkennen kannst." Eine solche Art zu sehen solle ihm helfen, die Welt neu zu definieren, zu begreifen, dass das Grundprinzip "entweder - oder" sie nicht wirklich widerspiegele. Und als Wojnicz wissen will, wie die Welt sei, hört er: "Verwischt ist sie, unscharf, flackernd, mal so, dann wieder anders, je nach Blickwinkel." "Empusion" ist also eine Lektion im Erkennen der Vielfalt der Welt und der Komplexität der menschlichen Natur. Sie wird uns von der Autorin unter anderem in Form eines "nichtmenschlichen" Beobachters erteilt, dessen Präsenz Wojnicz deutlich spürt ("alles hier starrte ihn an"). Und zum anderen ist es eine gnadenlose Abrechnung mit dem Patriarchat, was sich einerseits im ironischen Zitieren der Gespräche der Männer und andererseits in einer der Erzählformen manifestiert. Die eine ist klassisch, in der dritten Person, die andere benutzt die erste Person Plural, wobei das "wir" dabei eindeutig weibliche Züge trägt. Görbersdorf ist zwar eine Welt ohne Frauen, es gibt hier aber die "Empusen", wandelbare mythische Göttinnen der Angst, die diesmal die Gestalt allgegenwärtiger weiblicher Energien angenommen haben. Sie bilden eine Art unterirdisches Matriarchat, das unmerklich die Gemeinschaft regiert, und fungieren zudem als allwissende Erzählerinnen. Wer allerdings den Roman deshalb als ein feministisches Manifest lesen will, der wird vermutlich enttäuscht sein, dem werden ein Gegenstück zu den frauenfeindlichen Ergüssen der Männer und ein wenigstens angedeuteter Bezug zur Gegenwart fehlen. Wer aber einfach nur die Erzählkunst der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk genießen möchte, ihre Fähigkeit, eine Realität zu schaffen, in der Platz für eine besondere Dimension der Zeit, für Magie, für Mythen und Legenden, für Randexistenzen jeder Art, für Ökologie und Geschichte ist und der folglich eine einzigartige Aura anhaftet, der wird voll auf seine Kosten kommen. Olga Tokarczuk: "Empusion". Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich 2023. 384 S., geb., 26,- Euro.
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»Mitreißend und großartig [geschrieben].« Lea Susemichel / an.schläge - das feministische Magazin
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