Endlich Berliner! Mit diesem Begeisterungsruf entrinnt so mancher der deutschen Provinz und zieht nach Berlin, in die Hauptstadt. Endlich Kreuzberg, endlich die Museumsinsel, endlich Clubs und Theater. Es gibt zahllose Gründe, endlich Berliner zu werden. Eigentlich kaum zu glauben, daß einem hier auch der Himmel auf den Kopf fallen kann. Touristenfallen am Hackeschen Markt, verdreckte S-Bahnen, und der Monat November scheint kälter, feuchter und dunkler als irgendwo sonst auf der Welt. Also doch lieber raus aus Berlin? Auf jeden Fall! Aber nur für drei Wochen im Jahr. Und niemals im Mai und schon gar nicht im Sommer.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Früher noch als in seinen Erzähltexten hat sich Hans-Ulrich Treichel in seinen Feuilletonbeiträgen als Berliner gezeigt, meint Rezensent Detlev Schöttker. Die in diesem Band versammelten Berlin-Feuilletons sind zunächst vor allem Zeugnis des armen ostwestfälischen Studenten Treichel vor dem Mauerfall, der in heruntergekommenen Altbauwohnungen haust, sich in Friedenau im Grünen delektiert und auf den Berliner Spuren von Rilke, Robert Walser oder Jünger wandelt, stellt der Rezensent fest. Später ist es der Literaturwissenschaftler, der als Leipzig-Pendler die Stadt neu sehen lernt und dessen Blick auf das mitunter unzumutbare Berlin milder wird, wie Schöttker aufgefallen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2012Die Provinz des Großstädters
Hier klau ich Pflastersteine: Hans-Ulrich Treichels gesammelte Berlin-Feuilletons
Der 1952 geborene Lyriker, Essayist und Erzähler Hans-Ulrich Treichel ist bekennender Berliner, seitdem er 1971 aus Ostwestfalen zum Studium der Germanistik an die Freie Universität kam. Doch veröffentlichte er nach mehreren, preisgekrönten Romanen erst 2010 eine Erzählung über eine Liebe aus Studentenzeiten, die zum Teil im alten West-Berlin angesiedelt ist. Aber auch "Grunewaldsee" kommt ohne die Herkunft des Protagonisten aus der Provinz nicht aus und bezieht daraus den poetischen Reiz. In dieser Hinsicht überschneidet sich die Erzählung mit vielen feuilletonistischen Beiträgen, die Treichel seit mehr als dreißig Jahren über seine Wahlheimat verfasst hat, die sich jetzt in dem Band "Endlich Berliner!" versammeln. Doch hält der Titel, der Lebensgeschichte des Autors sei Dank, nicht das, was er zu signalisieren scheint. Denn Treichel berichtet wenig über die goldenen Zeiten nach dem Mauerfall und gar nichts über rekonstruierte Museen, kulturelle Vielfalt in Kreuzberg oder angesagte Clubs und Events.
Es gibt dafür einen einfachen Grund: Treichel lernte die Stadt in erster Linie aus der Perspektive des armen Studenten kennen. Dazu gehören dunkle Behausungen in unrenovierten Altbauten mit Etagentoilette, idyllische Grünflächen in Friedenau, wo die Großstadt weit weg ist, aber auch Erschöpfung nach schwerer körperlicher Arbeit in einer Fabrik oder beim Kulissenbau an einer Berliner Bühne.
Der Provinz entkommt man in der Metropole nicht, wenn das Geld zu knapp für kulturelle Vergnügungen ist. Ausdrücklich formuliert wird dies vor allem im ersten Beitrag, in dem Treichel an die Zeit der ersten Zuwanderung nach Berlin Mitte der sechziger Jahre erinnert: "Es gab viele Gründe, endlich Berliner zu werden. Umso schlimmer, dass einem auch hier der Himmel auf den Kopf fallen konnte, was vor allem an den Wohnungen lag. Ich habe in West-Berlin in Wohnungen gelebt, darin hätte man in Ostwestfalen nicht mal die Mülltüte abgestellt."
Dass es Schriftstellern in den Zwanzigern in Berlin nicht besser ging, zeigen Treichels Beiträge über Rilke, Robert Walser und Ernst Jünger, die die Stadt spätestens nach einigen Jahren wieder verlassen haben, um ihr Schreibglück in der Provinz zu suchen. Auch Treichels Blick veränderte sich, als er nach Promotion und Habilitation 1995 Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig wurde. Für den Pendler wurden die Zumutungen der Stadt nun erträglicher.
Während Treichel in der Prosa zur verhaltenen Satire neigt, haben seine Gedichte eine erstaunlich sentimentale Note. Sie gehen von städtebaulichen Details zur Stimmungslage über und lassen etwas von jener Anziehungskraft aufscheinen, die das alte Berlin auf Provinzflüchtlinge ausübte - wie etwa in dem wunderbaren Dreizeiler aus dem "Halben Liebeslied für Berlin" von 1987: "Hier klau ich Pflastersteine / anstatt Brot. Hier leb ich halb - woanders wär ich tot."
DETLEV SCHÖTTKER
Hans-Ulrich Treichel: "Endlich Berliner!". Mit 16 Farbaufnahmen des Autors.
Insel Verlag, Berlin 2011. 169 S., br. 8,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier klau ich Pflastersteine: Hans-Ulrich Treichels gesammelte Berlin-Feuilletons
Der 1952 geborene Lyriker, Essayist und Erzähler Hans-Ulrich Treichel ist bekennender Berliner, seitdem er 1971 aus Ostwestfalen zum Studium der Germanistik an die Freie Universität kam. Doch veröffentlichte er nach mehreren, preisgekrönten Romanen erst 2010 eine Erzählung über eine Liebe aus Studentenzeiten, die zum Teil im alten West-Berlin angesiedelt ist. Aber auch "Grunewaldsee" kommt ohne die Herkunft des Protagonisten aus der Provinz nicht aus und bezieht daraus den poetischen Reiz. In dieser Hinsicht überschneidet sich die Erzählung mit vielen feuilletonistischen Beiträgen, die Treichel seit mehr als dreißig Jahren über seine Wahlheimat verfasst hat, die sich jetzt in dem Band "Endlich Berliner!" versammeln. Doch hält der Titel, der Lebensgeschichte des Autors sei Dank, nicht das, was er zu signalisieren scheint. Denn Treichel berichtet wenig über die goldenen Zeiten nach dem Mauerfall und gar nichts über rekonstruierte Museen, kulturelle Vielfalt in Kreuzberg oder angesagte Clubs und Events.
Es gibt dafür einen einfachen Grund: Treichel lernte die Stadt in erster Linie aus der Perspektive des armen Studenten kennen. Dazu gehören dunkle Behausungen in unrenovierten Altbauten mit Etagentoilette, idyllische Grünflächen in Friedenau, wo die Großstadt weit weg ist, aber auch Erschöpfung nach schwerer körperlicher Arbeit in einer Fabrik oder beim Kulissenbau an einer Berliner Bühne.
Der Provinz entkommt man in der Metropole nicht, wenn das Geld zu knapp für kulturelle Vergnügungen ist. Ausdrücklich formuliert wird dies vor allem im ersten Beitrag, in dem Treichel an die Zeit der ersten Zuwanderung nach Berlin Mitte der sechziger Jahre erinnert: "Es gab viele Gründe, endlich Berliner zu werden. Umso schlimmer, dass einem auch hier der Himmel auf den Kopf fallen konnte, was vor allem an den Wohnungen lag. Ich habe in West-Berlin in Wohnungen gelebt, darin hätte man in Ostwestfalen nicht mal die Mülltüte abgestellt."
Dass es Schriftstellern in den Zwanzigern in Berlin nicht besser ging, zeigen Treichels Beiträge über Rilke, Robert Walser und Ernst Jünger, die die Stadt spätestens nach einigen Jahren wieder verlassen haben, um ihr Schreibglück in der Provinz zu suchen. Auch Treichels Blick veränderte sich, als er nach Promotion und Habilitation 1995 Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig wurde. Für den Pendler wurden die Zumutungen der Stadt nun erträglicher.
Während Treichel in der Prosa zur verhaltenen Satire neigt, haben seine Gedichte eine erstaunlich sentimentale Note. Sie gehen von städtebaulichen Details zur Stimmungslage über und lassen etwas von jener Anziehungskraft aufscheinen, die das alte Berlin auf Provinzflüchtlinge ausübte - wie etwa in dem wunderbaren Dreizeiler aus dem "Halben Liebeslied für Berlin" von 1987: "Hier klau ich Pflastersteine / anstatt Brot. Hier leb ich halb - woanders wär ich tot."
DETLEV SCHÖTTKER
Hans-Ulrich Treichel: "Endlich Berliner!". Mit 16 Farbaufnahmen des Autors.
Insel Verlag, Berlin 2011. 169 S., br. 8,99 [Euro].
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