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Ein Land zwischen globalen Fantasien und engstirnigem Nationalismus: Der Brexit und seine Folgen sind sehr englische Phänomene.
Von Benedikt Stuchtey
Als spielten während der Brexit-Krise zwei Veteranen der Konservativen nach wie vor eine politische Rolle, waren Benjamin Disraeli und Winston Churchill auf fast unheimliche Weise präsent. Der Roman des viktorianischen Premierministers, "Sybil" (1845), mit dem er die Spaltung des sozialen und politischen Lebens anprangerte, war plötzlich so aktuell wie der in Krisenzeiten alles auf seine Person konzentrierende Habitus des Kriegspremiers, in dessen langen Schatten sich Boris Johnson doch so gerne stellt. Ist es kein Zufall, dass Disraeli wie Churchill die Bedeutung des Empire für ihr Land wie für ihre Partei hervorhoben, so spiegelte die Brexit-Debatte im Kern eine elementare Krise der Tories und des demokratischen Systems Großbritanniens. Und das wohl nicht zuletzt, weil die vielen Folgen der kolonialen Vergangenheit noch längst nicht überwunden sind. Die Bewegungen von "Black Lives Matter" und "Rhodes Must Fall" zeigen sie deutlich auf.
Eingewoben in die Koordinaten der Kräftefelder der USA, Europas und des ehemaligen Kolonialreichs, orientiert sich kein europäisches Land so global wie Großbritannien, allemal ist keine europäische Stadt so kosmopolitisch wie London. Auch lässt sich die Dekolonisation nur in ihrer globalgeschichtlichen Einbettung verstehen. Im Jahr der Brexit-Abstimmung (2016) waren 14 Prozent der Bevölkerung nicht im Königreich geboren. Zugleich gelangte die bereits unter Margaret Thatcher stark vorangetriebene Deindustrialisierung, Deregulierung und Privatisierung an den Punkt, dass zum Beispiel das verarbeitende Gewerbe nur noch neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte.
Es ist diese Situation eines politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell zutiefst gespaltenen Landes, in der die äußerst knappe Entscheidung für den Brexit (51,89 Prozent) und die seitdem bleiernen Jahre der Verhandlungen zwischen Brüssel und London tiefe Spuren hinterlassen haben. So tiefe, dass der Titel von Volker Berghahns neuem Buch den entscheidenden Hinweis gibt: Es ist Englands Brexit, nicht derjenige Londons oder Schottlands.
Aber in welchem Spannungsverhältnis stehen Little England und Global Britain zueinander? Es scheint, als habe Boris Johnson und Nigel Farage zeitweise ein "Blitz spirit" vereint, mit dem sie Bilder des Zweiten Weltkriegs wachriefen. Die Evakuierung im Mai 1940 in Nordfrankreich ist in ihren Augen das heroische Vorbild für die aktuelle Evakuierung namens Brexit. Ebenso steht das Kriegsende von 1945 dafür, ein Referenzdatum für nationale Freiheit zu sein, so wie die Brexiteers das Ergebnis des Referendums als "Independence Day" feierten. Vergleichbar dem Sieg über die spanische Armada oder über Napoleon in Waterloo. Wie zynisch die Romantisierung des Krieges als Moment der Einheit für diejenigen klingen muss, die zu Recht in Johnson und Farage Anstifter der Spaltung sehen, nämlich die anderen 48,11 Prozent, die für Großbritanniens Verbleib in der Europäischen Union stimmten, liegt auf der Hand. Die Labour-Abgeordnete Jo Cox bezahlte dies mit ihrem Leben.
Die zuletzt 2012 bei den Olympischen Spielen gefeierte Vision globaler Diversität verblasst im Angesicht der Verengung der Debatte auf ihre finanzpolitischen Aspekte, als seien die verfassungspolitischen nicht von ähnlicher Relevanz. Die schleichende Erosion der Rechtsstaatlichkeit, die verdeckte Desintegration und die innenpolitische Polarisierung sind Indikatoren dafür, dass der Brexit europäische Fragen offenlegt.
So hätte Volker Berghahns Konzentration in den ersten beiden Kapiteln auf die deutsche Geschichte vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus und auf die komplizierte Beziehung zu den Vereinigten Staaten zugunsten einer stärker europäischen und transnationalen Engführung des Themas gekürzt werden können. Zumal die Gefahr besteht, der Argumentation der Befürworter des Brexits auf den Leim zu gehen, die nicht nur eine deutsche Dominanz in Europa an die Wand malen, sondern die angebliche "special relationship" mit den USA und die Rückbesinnung darauf, ehemals eine weltumspannende Imperialmacht gewesen zu sein, wiederbeleben wollen.
Das ist in diesem klugen und feinsinnig geschriebenen Buch zwar nicht der Fall. Doch historisch betrachtet, bildeten Europa und das Britische Empire für England keine notwendigen Gegensätze. So wird das Buch attraktiv, wo es sich nach der Suez-Krise von 1956 exakter dem eigentlichen Ort des Brexits widmet: der englischen Öffentlichkeit und Politik, dem Parlament, der Wirtschaft und der von Berghahn permanent angeführten Automobilindustrie, schließlich den mehrfach gescheiterten Aufnahmeversuchen Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft. Dass im gleichen Zug sozial-, kultur- und alltagsgeschichtliche Aspekte zu kurz kommen, aber auch die Unabhängigkeitsbewegungen, die Dekolonisation und die Migration vom Commonwealth nach Großbritannien: Das wird ab dem vierten Kapitel wettgemacht mit einer detaillierten und kenntnisreichen Schilderung der Ereignisse seit dem Referendum. Erstaunlich ist ja, dass es in Großbritannien zu keiner Protestbewegung von dem Ausmaß kam wie der der "Gelbwesten" in Frankreich. Die Machtkämpfe in der Downing Street, Theresa Mays Scheitern, die Irische Frage, die überhöhte Bedeutung der Nordseefischerei, Labours unrühmliche Abwesenheit wegen des unfähigen Parteiführers Jeremy Corbyn sowie das zähe Ringen um Argumente und Zeit machen die Geschichte des Brexits zu einem Drama, das Shakespeare nicht besser hätte schreiben können.
Berghahn lässt keinen Zweifel daran, wie sehr er das bedauert. Die zahlreichen Wiederholungen, Redundanzen und Fehler im Satz hätten sich mit einem gründlichen Lektorat durch den Verlag vermeiden lassen. Aber mit großem Anteil lädt der gelehrte Historiker, einer der wichtigsten intellektuellen Brückenbauer zwischen Amerika und Europa, dazu ein, sich ein Bild davon zu machen, welchen Schaden ein vergifteter Dogmatismus anrichten kann. Nimmt England Abschied von der Welt, eine politische Kultur, die für ihren Pragmatismus, ihre Mäßigung und ihren Skeptizismus gegenüber Ideologien gleich welcher Farbe steht? Das ist eher unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich wie das Bild vom angeblichen historischen Exzeptionalismus der Britischen Inseln, dem Mythos von John Bull, mit dem es sich auch die Kontinentaleuropäer zuweilen bequem gemacht haben.
Volker Berghahn: "Englands Brexit und Abschied von der Welt".
Zu den Ursachen des Niedergangs der britischen Weltmacht im 20. und 21. Jahrhundert.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2021. 248 S., geb., 29,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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