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Als Hans Magnus Enzensberger mit der Zeitschrift "Kursbuch" nicht nur die Literatur, sondern die Gesellschaft verändern wollte - zur Sorge nicht allein seines Verlegers Siegfried Unseld: Henning Marmulla lässt die "heroischen Jahre" in einer Studie nochmal aufleben.
Von Karl Heinz Bohrer
Das "Kursbuch" war Hans Magnus Enzensberger. Er war auch eine zentrale Figur der Achtundsechziger-Bewegung. Als diese zu Ende ging, war das "Kursbuch" noch immer da, weit über das Jahr 1970 hinaus, als es sich vom Suhrkamp Verlag trennte. Auch weit über das Jahr 1980 hinaus, als Enzensberger sich vom "Kursbuch" trennte. Die Studie von Henning Marmulla behandelt nur die sozusagen "heroischen" Jahre zwischen 1965 und 1970, in der sich jene Aura akkumulierte, die für fast drei weitere Jahrzehnte ausreichte. Analog dazu steht Enzensbergers eigene Erscheinung. Er trug sich durch einen Band Gedichte, "Die Verteidigung der Wölfe" von 1957, und einen Band gesellschaftsanalytischer Essays, "Einzelheiten" von 1962, den Ruhm ein, der mit dem Büchner-Preis von 1963 kodifiziert wurde. Alles, was er danach schrieb, ob "Der kurze Sommer der Anarchie" (1972), "Der Untergang der Titanic" (1978) oder "Hammerstein" (2008) - die zahllosen markanten kulturkritischen Interventionen miteingeschlossen -, immer waren es Bestätigungen (und Enttäuschungen) dieser einmaligen, nie mehr verschwundenen Aura. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu nennt dergleichen, wie man aus Marmullas Buch erfährt, "kulturelles und soziales Kapital". Beide Begriffe gehören zum Kompass von Marmullas Darstellung.
Auf breiter Quellenkenntnis beruhend, kommt diese interne Geschichte der Zeitschrift zu einem günstigen Zeitpunkt: Ist nicht die sogenannte kapitalistische Gesellschaft erneut unter einen enormen Legitimationsdruck geraten, genau wie damals, als im Juni 1965 die erste Nummer der bis heute berühmtesten deutschen Zeitschrift ebendies ankündigte? Nicht von ungefähr erschien in diesen Tagen Terry Eagletons neues Buch "Why Marx was Right". Auch wenn diese Aktualität eine Rolle spielt - entscheidend dafür, dass Marmuallas von Pierre Bourdieus Kultursoziologie angeleitete, im Bielefelder politikgeschichtlichen Seminar von Ingrid Gilcher-Holtey entstandene Studie auf einiges Interesse stoßen wird, dürfte der Erfinder und Spiritus Rector der Zeitschrift sein. Mit dem angemessenen Instinkt für diesen Sachverhalt hat denn der Autor auch Hans Magnus Enzensbergers intellektuelle Entwicklung ins Zentrum seiner Darstellung gerückt, wobei - den Bestimmungskategorien Bourdieus folgend - sowohl die politische Geschichte der frühen Bundesrepublik im Allgemeinen als auch die des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und der Achtundsechziger-Bewegung im Besonderen integriert sind.
Mit der Diskussion des Phänomens Enzensberger kommt jedes intellektuelle Interesse auf seine Kosten. Nicht zuletzt, weil der Verfasser den entscheidenden Punkt an dessen plötzlicher und dann permanenten Präsenz auf der intellektuellen Bühne benennt: nämlich Enzensbergers einzigartigen lakonischen Stil des kürzesten richtigen Satzes, sozusagen als Widergänger, nein als Nachfolger Bertolt Brechts und Heinrich Heines. Nicht Inhalt, sondern Schreibweise! Man kann das auch das Kriterium einer neuen Sprache nennen, die sich aus der internationalen Perspektive des "Kursbuchs" von Beginn an ergab. Besonders aus Enzensbergers Eigenschaft, von früh an über den Tellerrand des eigenen Landes zu schauen und in Konsequenz davon sich in ständiger globaler Bewegung zu befinden, sei es Skandinavien, Russland, die Vereinigten Staaten oder Südamerika, nicht zuletzt Kuba.
Daraus ergab sich - das erfährt man bei der Lektüre nachdrücklich - die besonders provozierende Verabschiedung der Kategorie "Nation". Für den Enzensberger des frühen "Kursbuchs" gibt es keine deutsche Nation mehr, und die Aberkennungen ("Mit wem und womit sind wir identisch?" / "Warum überhaupt Völker sind und nicht einfach Leute, weiß ich nicht") klingen manchmal etwas nach jenem billigen Jargon in sogenannt "schicken", weltläufigen Kreisen. In diesem Zusammenhang erinnert der Autor an einen Disput zwischen Enzensberger und Hannah Arendt angesichts der Auschwitzschuld. Auch hier habe der Schriftsteller ein "argumentum ad nationem" nicht gelten lassen wollen und erst nach Protest Hannah Arendts klargestellt, wer die Verantwortung für die "Endlösung" trüge.
Der Internationalismus, so lernen wir, hatte sich entwickelt schon während der ursprünglichen Planung einer "Revue Internationale", zu der der damals ungemein einflussreiche italienische Schriftsteller Elio Vittorini den Anstoß gegeben hatte, außerdem Pasolini, Moravia und Italo Calvino. Unter den Franzosen: Blanchot, Butor und Marguerite Duras. Die deutsche Vorbereitung lief vor allem über Enzensberger, Uwe Johnson, Alfred Andersch und Günter Grass. Schon anlässlich des Berliner Mauerbaus aber entstand eine schrille Differenz zwischen solchen, die wie Grass meinten, es müsse eigentlich geschossen werden, und solchen, die die Ost-Berliner Maßnahme zu verstehen vorgaben. Enzensberger, so im zitierten Brief an seinen Freund Andersch, konnte sich keinem dieser Extreme anschließen.
Zum endgültigen Scheitern aber kam das geplante internationale Journal wegen der Kluft zwischen dem politischen Engagement der Deutschen und der eher formalästhetischen Position der Franzosen. Jedenfalls zitiert Marmulla die Nachdrücklichkeit, mit der sich Blanchot gegen eine "littérature engagée" im Sinne Sartres ausgesprochen hatte, also gegen die Auffassung, Literatur habe sich an der politischen Realität auszurichten. Hier zeigte sich auch, wie problematisch die Idee von "Internationalität" war: Für Enzensberger hieß sie jedenfalls nicht mehr das Prinzip, das noch sein "Museum der modernen Poesie" (1962) charakterisiert hatte, also die schiere Dichtung aller poetisch avancierten Nationen, sondern das politische Motiv vor allem der Länder der sogenannten Dritten Welt. Das genau wurde das Programm der nun vorbereiteten und 1965 die literarisch-politische Öffentlichkeit sofort faszinierenden westdeutschen Version einer vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift. Schon ihr Titel belegte das lakonisch-minimalistische Pathos ihres Erfinders, das dieser eigenhändig über Nacht in die intellektuelle Szene gebracht hatte.
Marmullas Darstellung zwischen Heftthematik und Beziehung der Personen, die die Hefte machten, zwischen Studentenrevolte oder Revolution in der Dritten Welt und dem Verhalten der Zeitschriftverantwortlichen dazu entspricht der von Bourdieu gelieferten Definition des Intellektuellen, auf die der Verfasser umfänglich eingeht: Der Intellektuelle ist derjenige, der eine spezifische Kompetenz und Autorität in das politische Feld, das außerhalb des intellektuellen Feldes liegt, einbringen kann. Vermutlich haben Enzensberger solche Definitionen des Offensichtlichen nicht interessiert. Wer ebenfalls der begrifflichen Nomenklatur über individuelle und gesellschaftliche "Transformationsstrategien" nicht folgen will, weil er die Ereignisse und die Personen, die die "Kursbuch"-Arbeit prägten, nicht im Prokrustesbett soziologischer Kategorien wiederentdecken will, der wird bei der überaus spannenden Erzählung über die Gründe, die zum Bruch zwischen Enzensberger und Unseld führten, auf seine Kosten kommen. Schließlich handelt es sich dabei nicht bloß um pittoreske Zwischenfälle, sondern um das erhabene Verhältnis von Theorie und Praxis.
Der Autor macht deutlich, dass es keineswegs das berühmte Heft 15 mit seiner sogenannten Todesanzeige der Literatur war, das den endgültigen Eklat auslöste, sondern die Vorbereitung zu Heft 21, das sich dem Thema des Kapitalismus in der Bundesrepublik widmen würde und dann in einem neugegründeten "Kursbuch"Verlag bei Wagenbach erschien.
Dem aber waren längst - unabhängig von der neuen skandalisierenden Literaturauffassung - schwere Konflikte vorausgegangen: am dramatischsten wohl die Debatte um Grass' Theaterstück "Die Plebejer proben den Aufstand", in dem Brechts ambivalentes Verhalten beim Ost-Berliner Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 thematisiert worden ist.
Der Gedanke eines von Enzensberger vorgesehenen Vorabdrucks des Stücks brachte Unseld schlaflose Nächte, fürchtete er doch den Verlust der Rechte an seinem gewinnbringendsten Autor. Der Abdruck der einschlägigen Briefe, Telegramme und retrospektive Charakterisierungen, vornehmlich von Grass, Johnson und Karl Markus Michel, lesen sich selbst wie der Stoff zu einer politisch ernsten Komödie, die allerdings nicht von Grass, sondern eher von Tom Stoppard hätte geschrieben werden müssen. Der Vorabdruck blieb aus, und Unseld hat, wie Enzensberger selbst huldvoll berichtete, ihm abgerungen, dass in Zukunft alle Texte, die sich mit Brecht, Hermann Hesse und Frisch beschäftigten, ihm vorzulegen seien. "Peanuts" dachte Enzensberger, denn diese Autoren würden absehbar nicht mehr im "Kursbuch" vorkommen müssen.
Ein beträchtlicher Störfaktor zwischen Verleger und Herausgeber wurde ihr Gespräch über den Begriff der "Revolution", nachdem Enzensberger von einem internationalen Kongress in Havanna zurückgekehrt war. Zur "Bildung eines revolutionären Bewusstseins beizutragen und revolutionäre Aktionen zu unterstützen" ist die Pointe eines Briefes Enzensbergers vom 24. Januar 1968. Auf Unselds flüchtenden Einwand, es gebe hierzulande keine revolutionäre Situation, antwortete Enzensberger, dann müsse man die Voraussetzungen dazu eben schaffen! Auch mittels des "Kursbuchs", so war die Botschaft. Das war schon die Vorwegnahme der dann berühmt werdenden Sentenz aus einer Rede Enzensbergers auf dem Höhepunkt der Pariser Aufstände im Juli 1968, nämlich der Ruf: "Schafft französische Zustände!", in dem nicht nur die Pariser Aktualität gemeint war, sondern Heinrich Heines gleichnamige Artikelfolge von 1831, den Beginn der Epoche einer zweiten großen Französischen Revolution beschreibend.
Der berühmte Lektorenaufstand betraf nicht unmittelbar das "Kursbuch", aber sehr wohl Karl Markus Michel, oblag doch dem Suhrkamp-Lektor die ganze tägliche Verantwortung der Zeitschrift. Seine brillante Serie "Die sprachlose Intelligenz", veröffentlicht in "Kursbuch" 1, 4 und 9 während der Jahre 1965 bis 1967, haben die Politik der Zeitschrift nachdrücklich mitgeprägt. Was sich heute für manche im Kulturbetrieb Arbeitende als unterhaltsames Schauspiel ausmacht, war das Dokument einer beeindruckenden geistigen Auseinandersetzung dort, wo die Musik von damals wirklich spielte. Enzensbergers Briefwechsel mit Unseld und seinem Kollegen Michel sind zeithistorisch umso vieles interessanter als die Reaktion der dabeistehenden, meist etwas geschwätzigen liberalen oder etwas bornierten konservativen Reaktion. Die letzten Briefe Enzensbergers aus Kuba belegen, was dieser seinem Verleger nicht bloß zumutete, sondern auch zutraute. Wie hart dann auch die Spannung schließlich wurde - Enzensberger ist bis zum heutigen Tag eine symbolische Figur des Suhrkamp Verlags geblieben, vermutlich deshalb, weil er selbst noch auf dem Höhepunkt der Krise zwischen "Kursbuch" und Verlag eine Bindung erkannte, deren Auflösung er als eine symbolische gescheut hat.
Marmullas Fähigkeit zur hermeneutischen Entzifferung findet ihr herausforderndes Thema, wenn es zum eigentlichen Gehalt der "Kursbücher" und Enzensbergers spezifischem Beitrag kommt. Das sind vor allem die Theorie vom Manipuliertwerden durch die "Bewusstseinsinstitute", die sich daraus ableitende Idee von einer notwendig neuen Sprache der Literatur sowie die utopische Radikalisierung, die daraus folgte, und schließlich die Distanzierung, ja Verabschiedung des revolutionären Projekts: Der Begriff der Bewusstseinsindustrie war natürlich Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" entliehen. Der Autor zeigt den springenden Punkt an Enzensbergers optimistisch-politischer Volte gegenüber seinem theoretischen Lehrer: Wo dieser pessimistisch eine endgültige Zerstörung am Werke sieht, erkennt Enzensberger die Möglichkeit einer positiven Utopie. Wie überzeugend diese dialektisch operierende Antwort ist, darüber sagt der Autor allerdings nichts. Es ist einleuchtend, dass die Kritik an der Manipulation - im Jargon ausgedrückt: an der "Verdinglichung", denn der Einzelne verliere seine subjektive Identität - und deren Überwindung unmittelbare Konsequenzen auf Enzensbergers Idee von der Zukunft der Literatur hatte.
Während Adorno gerade um der sogenannten Widerständigkeit der Kunst auf die politische Stellungnahme des Kunstwerks verzichtete, begründete Enzensberger, ursprünglich ebenso die Autonomie betonend ("Poetik und Politik", 1965), seine Verwerfung der Poesie mit der Einsicht, dass sie zur gesellschaftlichen Veränderung nichts beitrage. Das ist die Quintessenz von "Kursbuch" 15, in dem Enzensbergers Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend, Karl Markus Michels "Ein Kreuz für die Literatur - Fünf Variationen über eine Theorie und Walter Boehlichs Autodafé" der traditionellen Literatur unmissverständlich den Abschied gaben. Der Autor spricht hingegen von einer "poetologischen Neudefinition" und kritisiert die hier formulierte Charakteristik von einer Toterklärung.
Ohne alte Kontroversen aufzuwärmen, muss um der Klarheit willen Folgendes festgehalten werden: Indem überhaupt eine gesellschaftliche "Funktion" der Literatur - und hier ist es eine gesellschaftsverändernde - zum Kriterium erhoben wurde, war nicht bloß der bürgerlich-traditionellen Poesie, sondern jeder Form von Kunst, wie innovatorisch sie sein mochte, eine Absage erteilt. Denn wenn es der Literatur obliegt, eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft herbeizuschreiben, was ist das anderes als die Nichtigkeitserklärung der literarischen Phantasie gerade in ihren imaginativen Formen?
Deshalb kann die Rede von einer "Neuen Sprache" nicht missverstanden werden als das neue Objektbewusstsein einer neuen Avantgarde nach Duchamps und Neuer Sachlichkeit. Das wird ohnehin ganz deutlich, wo Enzensberger in seinem Text sich den Surrealismus André Bretons pars pro toto vornimmt und den Widerspruch zwischen emphatischem Bestehen auf ästhetischer Autonomie einerseits und revolutionärer Geste andererseits aufdeckt, darüber hinaus aber spezifische Metaphern der modernden Kunst, nämlich ihre Vorliebe für das Ungenaue, das Verschwommene, das Undefinierbare, als ein Symptom festnagelt. Es fragt sich allerdings, ob seine eigene Revolution nicht immer auch schon eine Metapher war, obwohl er es zweifellos ernster meinte als die Surrealisten. Auf einen Satz gebracht: Enzensbergers Literaturkonzept von 1968 war keine Neudefinition, wie es immer wieder welche gegeben hat - zum Beispiel die surrealistische. Es war eine Erledigung, mehr noch, eine prinzipielle Erklärung zum historischen Überholtwordensein literarischer Phantasie überhaupt.
Das hinderte Enzensberger nicht, im Heft 15 ausgerechnet zwei ihrer interessantesten modernen Vertreter, nämlich den Schweden Lars Gustafsson und den Argentinier Julio Cortázar, zu drucken, deren Texte ("Über das Phantastische der Literatur" und "Verdächtige Verwandtschaften") indirekt mit dem Surrealismus zusammenhingen, zumal Cortázar mit den 1962 übersetzten Erzählungen "Das besetzte Haus" sich als ein an die surrealistische Tradition Anknüpfender gezeigt hatte. Das ganze Heft 15 war ursprünglich - so werden wir erinnert - für das Thema "Phantastische Literatur - politische Literatur" vorgesehen, so dass man auch sagen könnte, es wurde nicht so heiß gegessen, wie Enzensberger, Michel und Boehlich, jedenfalls hier, kochten. Es folgte ohnehin eine Debatte über die Rolle der Phantasie zwischen einschlägigen jungen "Kursbuch"-Autoren, namentlich dem affirmativen Peter Schneider und dem kritischen Hans Christoph Buch, in "Kursbuch" 16 und 20.
Zu den erhellendsten Teilen der Studie von Henning Marmulla gehören seine Ausführungen zur schon erwähnten politischen Radikalisierung Enzensbergers während seines Amerika-Aufenthalts und der Kuba-Reise 1968 sowie zum inneren Prozess seiner Selbstaufklärung, die mit der Niederschrift von "Der Untergang der Titanic" 1978 zum Abschluss kam. In einem von Marmulla zitierten Brief Marl Markus Michels an den Philosophen Ulrich Sonnemann vom Februar 1968 steht der Satz: ". . . dass Herr Enzensberger mit vielen SDS-Leuten der Meinung ist, die Zeit der Diskussionen sei vorüber".
Das konnte nur heißen, dass nicht nur die Revolution in der Dritten Welt zu unterstützen sei, wie Enzensberger an den besorgten Unseld geschrieben hatte. Nein, auch hierzulande habe eine Revolution stattzufinden, so verstand der immer skeptischere Michel offenbar seinen von Worten hingerissenen Freund und Herausgeber. Dieser hatte in einem Brief vom 31. Januar 1968 an den Präsidenten der Wesleyan University geschrieben, er hielte die Klasse, die in den USA das Sagen habe, für "gemeingefährlich", denn sie sei auf die "politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft" aus, ihre demokratische Toleranz sei eine repressive, denn sie integriere Systemkritik ins System. Die "New York Review of Books" und die "Zeit" druckten später diesen Brief ab.
Er klingt gerade heute sehr vertraut, jedenfalls in Deutschland. Nichtsdestotrotz klang er damals gefährlicher als heute. Daraus erklärt sich vielleicht der seltsame Umstand, dass in Marmullas Studie der Name Jürgen Habermas keine Rolle spielt. Warum nicht? Immerhin haben dessen frühe Schriften - vor allem der "Strukturwandel der Öffentlichkeit" - eine gewichtige Rolle bei der Herausbildung der Achtundsechziger-Revolte in Berlin und Frankfurt gespielt. Fehlt sein Name, weil Habermas schon 1967 nicht für eine revolutionäre Konsequenz zu haben war, wie er es an die Adresse Rudi Dutschkes in einer öffentlichen, berühmt gewordenen Kontroverse ausdrückte? Habermas hat die benutzte Formel vom "Linksfaschismus", der gierig von konservativer und liberaler Seite aufgegriffen wurde, später korrigiert. Nie korrigiert hat er hingegen seine Charakterisierung Enzensbergers als "zugereistem Harlekin am Hofe der Scheinrevolutionäre".
Die Gegenüberstellung von Enzensberger und Habermas, die zum wahrscheinlichen Leidwesen des Letzteren in der allgemeinen Wahrnehmung noch immer - trotz Sloterdijks funkelnder Präsenz - als die beiden wichtigsten öffentlichen Intellektuellen gelten, hätte dem Erkenntniswert des Buches eine weitere starke Farbe geliefert. Umso mehr, als Enzensbergers Selbstkritik zu den am souveränsten ausgeführten Themen von Marmullas Buch gehört. Was er über Enzensbergers Absage an eine teleologisch strukturierte Geschichtsphilosophie sagt - das Wort "Untergang der Titanic" war die metaphorische Umschreibung davon -, ist begrifflich nuanciert und scharfsinnig formuliert. Marmulla macht dabei auch deutlich, inwiefern es sich nicht um postmoderne Resignation handelte, sondern um eine Ermutigung, ohne "Weltgeist" und "Linearität" leben zu wollen. Das ist allerdings entgegen Marmullas Behauptung sehr wohl ein Bruch in Enzensbergers Denken gewesen. Es war aber ein Bruch, der seinem ironischen Bewusstsein entsprach, dem Bewusstsein seiner romantischen Vorfahren.
Insofern bleibt Verwunderung, wieso der junge Enzensberger, wie revolutionär auch immer, das Hegelsche Muster nicht viel früher ausgemustert hat und stattdessen Friedrich Schlegels Einsicht in den Geschichtsprozess adoptierte. Denn dieser hatte, freilich ungehört von der biederen Mehrheit, der herrschenden teleologischen Idee von Geschichte schon 1797 abgesagt und stattdessen von unvoraussehbaren, plötzlichen Umbrüchen gesprochen. Aber vielleicht ist das zu leicht gesagt. Der Zeitgeist von 1968 war hegelianisch. Er sollte nicht wieder Mode werden. Und Enzensbergers Ironie kann dabei noch immer nützlich sein.
Henning Marmulla: "Enzensbergers Kursbuch". Eine Zeitschrift um 68.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 384 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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