Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Dass einem Amerika bisweilen wie verhext vorkommt, wird hier literarisch berechtigt: Zaia Alexanders magischer Roman "Erdbebenwetter".
Von Melanie Mühl
Wer hätte gedacht, dass einem Neuling der Zutritt zur magischen Welt der Hexer während eines Abendessens in einem Lokal in Los Angeles angeboten werden könnte. Ganz nebenbei, ohne Theatralik, als Vorspeise gewissermaßen. "Hast du Lust, ein paar Hexer kennenzulernen?", fragt der erfolgreiche Josh die junge Lou, die im ersten Augenblick natürlich an einen Scherz glaubt. Josh aber meint sein Angebot ernst, und Lou, deren Leben in einer Schleife aus Langeweile und Misserfolgen als Filmproduzentin festhängt, spürt, dass in dieser flirrenden Traumstadt alles möglich ist - auch Hexerei.
"Erdbebenwetter" ist Zaia Alexanders Debütroman, und er erzählt davon, dass an jeder Ecke ein neues Leben warten kann, sofern man nur wachsam ist und mutig genug, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Dass alles immer auch ganz anders sein kann, mag nach einer in populären Ratgebern wieder und wieder formulierten Binsenweisheit klingen, aber es stimmt ja: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Je weniger man zu verlieren hat, desto besser. Und Lou hat außer einlullender Monotonie nichts zu verlieren.
Zaia Alexander, die inzwischen in Potsdam lebt, stammt aus Los Angeles, hat an der dortigen University of California promoviert und war Programmdirektorin der Villa Aurora in Pacific Palisades. Sie kennt also die Stadt. Wer je in Los Angeles gewesen und nicht vom ständigen Verkehrschaos nachhaltig frustriert worden ist, weiß um die Magie dieses Ortes. Der spürt, wenn er die Augen schließt, vielleicht noch den warmen Wüstenwind, sieht dieses elektrisierende Licht und wie sich der Nebel über die Stadt legt. Dass Zaia Alexander ihre Geschichte zwar in Los Angeles, aber fern vom Glanz Hollywoods angesiedelt hat, war eine gute Entscheidung. Die Stadt mit ihren Straßennamen und Stadtteilen ist einerseits ganz nah, bleibt aber den Roman über stets geheimnisvoll schemenhaft.
Da "Erdbebenwetter" kein Fantasy-Roman ist, schweben bei Lous erster Begegnung mit den Hexern weder Wesen auf Besen durch die Lüfte, noch rühren rothaarige Frauen merkwürdig riechende Tinkturen an oder sagen Zaubersprüche auf. Vielmehr hat man den Eindruck, dass in dem unauffällig gelegenen Tanzstudio in Santa Monica, wo Lou den "Mentor" kennenlernt, ein Tai-Chi-Kurs oder Ähnliches stattfindet, wäre da nicht eben jener Mentor: Der kleine dunkelhäutige Mann mit grauem, schimmernden Haar "sah wie ein Azteke aus, sehr altes Gesicht, gedrungener Körper. Dennoch wirkte er außergewöhnlich lebendig. Sein Gang war jugendlich. Rechts und links flankierten ihn zwei Frauen. Es war, als hätte ein elektrischer Schlag den Saal unter Strom gesetzt."
Lou, die nicht nur vom Charisma des Mentors, sondern auch von der Anziehungskraft der ihn umgebenden Frauen in den Bann gezogen wird, ergibt sich bereitwillig dem Sog. Ändert ihr Leben. Zieht aus ihrer Wohngemeinschaft aus. Beginnt zu studieren. Wird die Mutter eines zehn Jahre alten Kindes, das die Hexergemeinschaft in ihre Obhut gibt. Über den Hexenzirkel und die spirituellen Erlebnisse mit anderen zu sprechen ist indes tabu. Überhaupt muss Lou einige strenge Regeln befolgen, zu denen gehört, ihre Verbindungen in die Vergangenheit zu kappen. Lou sei eine Kämpferin, sagt der Mentor einmal, aber sie sei verrostet, schlammverkrustet, verbeult nach jahrelangen Kämpfen. In sich selbst gefangen, brauche Lou jemanden, der die Türe für sie öffnet. Hinaustreten aber müsse die junge Frau selbst. "Bestenfalls haben wir sieben Jahre, das muss reichen", sagt der Mentor.
Dass es ausgerechnet sieben Jahre sind, ist freilich kein Zufall. Die Sieben spielt in der Zahlenmystik eine herausragende Rolle und taucht in zahlreichen Kulturen in einem engen religiösen Zusammenhang auf. Gott schuf die Welt in sieben Tagen, bei der wundersamen Brotvermehrung sind es fünf Brote und zwei Fische, die den Hunger Tausender Menschen stillten. Sieben Jahre brauchte König Salomo, um den ersten Tempel in Jerusalem zu bauen. Sieben Sakramente kennt die katholische Kirche.
Als Lous Tochter Lola eine Katze zuläuft (Hexen gelten von jeher als tierund naturlieb, mit einer Vorliebe für schwarze Katzen), wäscht das Mädchen das Tier dreimal, bis es sauber und schön ist. "Die Tierärztin hat gesagt, ihr doppeltes Fell lässt sie manchmal blau aussehen. Sie ist eine ,Russisch Blau' und kann Sachen, die keine andere Katze kann, Türen öffnen zum Beispiel", sagt Lola einmal, die von sich behauptet, in Wahrheit ein vierundachtzigjähriger Chinese zu sein. Sophie nennen sie die Katze, die, obwohl sich hungrige Kojoten in der Stadt herumtreiben, nach Belieben das Revier erkunden kann. Nichts läge Lou und Lola ferner, als "Gefangene zu machen".
Gekonnt und subtil spielt Zaia Alexander mit Elementen des magischen Realismus, mit Traumsymbolik, Mystik und dem Übersinnlichen. Ebenso, wie sich Lou mehr und mehr auf eine fremde Welt einlässt, zieht es den Leser immer tiefer in diesen feingewobenen Roman hinein. Und der Titel? Von Erdbebenwetter spricht man, wenn in kühleren Monaten plötzlich eine ungewöhnliche, mit unheimlicher Stille einhergehende Hitze die Stadt erfasst. Man kann in diesen Tagen wie im Leben überhaupt seine Zeit routiniert vertändeln, To-do-Listen abarbeiten und den Blick verengen, als gäbe es nichts mehr zu entdecken auf dieser Welt. Oder man öffnet Augen und Herz und beginnt zu leben.
Zaia Alexander: "Erdbebenwetter".
Roman.
Tropen Verlag, Stuttgart 2020. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH